LXXII. Brügge in Flandern Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band (1835) von Joseph Meyer
LXXIII. London
LXXIV. Honfleur und die Seinemündung
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LONDON
von der Waterloo-Brücke aus

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LXXIII. London.




Im schönen Britannien ist ein Landstrich 95 englische Geviertmeiten groß, von einem großen Strome in zwei ungleiche Hälften zerschnitten. Die kleinere, südliche ist eine sumpfige Niederung; die größere, nördliche durchziehen sanftansteigende Höhen mit weiten Thälern, von Flüssen reich bewässert. Sie war einst berühmt wegen ihrer Fruchtbarkeit, und hundert Dörfer und Flecken prangten inmitten goldener Fluren. Jetzt grünt kein Saatfeld mehr in dieser Gegend; die Haine von ihren Höhen sind verschwunden, und das Geläute der weidenden Heerden sind unbekannte Töne. Verwandelt ist das Land in ein ungeheures Labyrinth von Gebäuden, durch welches Gassen und Straßen ohne Zahl sich winden, und welches ein Durcheinander von Thürmen, Kuppeln und Denksäulen, das Auge verwirrend, überragt. Selbst der majestätische Strom scheint in einen schmalen Canal umgeändert, der unter dem Schatten von 10,000 Masten, die seinen Borden wie ein dichter Wald entwachsen, fast verschwindet. – Denke sich der Leser inmitten dieser Metamorphose, die ewige Nebel- und Rauchwolken magisch verschleiern, so steht er da, wohin das nebige Bild ihn zu versetzen strebt. Er steht in der Mitte London’s, der Hauptstadt der Welt, der größten aller Zeiten und aller Länder! denn des Alterthums gepriesene Prachtsitze der Menschen, – Rom, Babylon und Tyrus, Carthago und die Pharaonenstadt der Hundert Thore sind klein gegen sie, und nicht eine unter den übrigen Hauptstädten der Jetztwelt kann sich ihr vergleichen[1], ihr, die mehr Einwohner zählt, als manches Königreich, mehr Pracht, mehr [67] Ueppigkeit und mehr Tugend; aber auch mehr Elend, mehr Armuth, mehr Laster und Verbrechen in sich schließt, als mancher mächtige Staat. Selbst Paris – obschon an Größe und Einwohnerzahl ihr am nächsten kommend, – erscheint zu diesem Coloß in jeder andern Beziehung so unbedeutend, daß ein Nebeneinanderstellen fast lächerlich seyn möchte.

Wohl verdiente London, diese Welt für sich, eine umfassende und ausführliche Darstellung; doch der Raum unsers Werks verbietet, sie zu versuchen. Er beschränkt uns auf den bloßen Umriß; aber wir behalten uns vor, einzelne Parthien des Bildes in reichern und genauern Darstellungen dem Leser später noch vorzuführen. –

London’s Ursprung hüllt sich in das Dunkel der grauesten Vorzeit. Schon vor Cäsar war es eine Veste der alten Britten. Sie ward zerstört im Kriege mit den Römern, welche auf der Stelle des uralten Towers ein Castrum erbauten und Londinium es nannten.

Die zum Verkehr vortreffliche Lage des Orts erhob ihn während der Römerherrschaft zur Bedeutung einer Handelsstadt. Unter Constantin wurde er befestigt. Die damals erbauten, noch in Spuren vorhandenen Mauern umschlossen eine Aera größer als die Hälfte der City. – Aldgate, Bishopsgate, Cripplegate, Aldersgate, Newgate, Ludgate, noch jetzt erhaltene Namen, waren die Thore. Ueber die Themse führte eine hölzerne Brücke. – Ein Bollwerk schützte sie: – Southwark, oder die Burg, die Borro.

Das Reich der Römer verfiel; bedrängt von den einfallenden Barbaren in ihrem eigenen Lande gaben sie die entlegnern Provinzen freiwillig auf. Dieß traf auch Britannien. Ihnen auf dem Fuße folgten, rache- und raubdurstig, die freigebliebenen Stämme des Nordens, Pikten und Scotten. London wurde erst von diesen, darauf von den zu Hülfe gerufenen Angelsachsen eingenommen und verheert. Letztere machten’s zur Hauptstadt ihres kleinen Königreichs Essex; aber Handel, Künste und Wissenschaften waren geflohen unter diesen Stürmen und wilden Eroberern. Seine christlichen Einwohner waren umgekommen, oder sie wanderten aus; ein großer Theil der Stadt lag in Schutt.

Erst als das Christenthum die Keime der Civilisation unter den herrschenden Sachsen ausstreute, zu Ende des 7ten Jahrhunderts, schien auch für London eine bessere Zukunft zu keimen. Es wurde der Sitz eines Bischofs. Der erste stiftete die Cathedrale von St. Paul, und erbaute, 1 Stunde westlich von der alten Stadt, ein Kloster, die Westminsterabtei. Das Asylrecht, welches König Sebert dem Abte für einen bedeutenden Umkreis verlieh, wurde in diesen unsichern Zeiten zum Anlaß für Viele, sich innerhalb desselben, unter dem unmittelbaren Schutze der Kirche, anzubauen. So entstand der zweite Haupttheil Londons, Westminster.

[68] Bis zur Zerstörung der Sachsenreiche und der Eroberung Englands durch den Normannenfürsten Wilhelm erlag London mehrmals der Landesgeisel damaliger Zeit, – den Dänen, welche durch jährlich erneuerte Raubzüge die Küste Englands verheerten und entvölkerten. London, das durch seinen Handel immer schnell wieder aufblühende, war stets eine Lockung für jene habsüchtigen Horden, und die kleinen Sachsenfürsten gemeiniglich zu schwach, ihre Hauptstadt zu schützen. London wurde in dieser Periode mehrmals eingenommen und geplündert. Nur die Regierung Alfreds, der auch die Gemeindeverfassung London’s organisirte, war eine Zeit der Ruhe. –

Wilhelm, der Eroberer, machte sich 1066 zum König von ganz England. Er ließ sich in der Westminsterabtei krönen, und erhob London zur Hauptstadt des neuen Reichs. Dadurch ist er der Gründer seiner jetzigen Größe geworden. Durch die nun von einer Hand gezügelte Kraft des ganzen Reichs vor dem Einfallen räuberischer Nachbarn geschützt und gesichert, zogen der Hof, der Handel, die Bedrückungen endlich, welchen die Bewohner anderer Landestheile durch habsüchtige Barone unterworfen waren, jährlich eine Menge Einwanderer herbei, und Ausdehnung und Volksmenge der Hauptstadt wuchsen von Jahr zu Jahr. Die Lücken, die Hunger und Pest verursachten, (1258 verhungerten 20,000 Menschen; 1348 raffte über 30,000 die Pest hin!) füllten sich bald wieder aus. Als die Königin Elisabeth, von Philipp II. bedroht, zur allgemeinen Bewaffnung rief, stellte London ein Heer von 20,000 Mann und eine vollständig gerüstete Flotte von 38 Kriegsschiffen zu ihrer Verfügung. 1666 verheerte der große Brand binnen 4 Tagen ⅓ der Stadt. Ueber 13,000 Häuser lagen in Schutt und 140,000 Einwohner waren ohne Obdach. Kaum ein Jahr zuvor hatte die Pest 68,000 Menschen (nach den Sterbelisten; nach andern Angaben aber 130,000) hinweggerafft! Diese Zahlen sind genug um einen Begriff von der schon damaligen Größe der Hauptstadt zu geben.

Mit diesen beiden furchtbaren Unglücksfällen war der Cyklus derselben geschlossen. – London erstieg aus der Asche prächtiger wieder als es vorher gewesen, und schon nach 10 Jahren war keine Spur des Brandes mehr übrig. – Wie seitdem die Macht Englands und die Prosperität der Nation mit verhältnißmäßig unbedeutenden Störungen immer gewachsen ist, so hat auch London seit anderthalb Jahrhunderten an Einwohnerzahl, Umfang, Handel, Gewerbe und Reichthum fort und fort zugenommen bis auf den heutigen Tag.[2] [69] „Die ganze civilisirte Erde außerhalb England, sagt Brougham, besitzt kaum die Summe an Kraft, durch Geld, Intelligenz und Unternehmungsgeist, über welche diese einzige Stadt gebietet und wodurch sie, theils unmittelbar, theils durch ihr zur Nacheiferung erweckendes Beispiel und Voranschreiten in allem Großen und Nützlichen einen leitenden Einfluß auf den Gang der Weltgeschichte und auf Menschenbildung und Civilisation überhaupt ausübt. Durch diesen Einfluß macht sie sich nicht blos zum Herzen Englands, sondern zum Herzen der ganzen Welt.“ –

London liegt von der Seeküste etwa 14 deutsche Meilen entfernt, an beiden Seiten der bis in den Hafen für die größten Kriegsschiffe fahrbaren Themse. Im engern, durch die politische Eintheilung bestimmten Sinne besteht London aus der Altstadt (CITY OF LONDON), Westminster und, auf der andern Flußseite, aus Southwark. Jeder dieser Stadttheile hat seinen eignen Magistrat. Sie allein – mit Ausschluß aller übrigen – besitzen das Recht, Abgeordnete zum Parlamente zu wählen. Die eigentlichen Vorstädte sind aus dem Zusammenbau von 45 zunächst gelegenen Dörfern entstanden, die ungefähr halb so viel abgesonderte Kirchspiele ausmachen. Auf die City kommen etwa 400,000 Einwohner; nicht ganz so viel auf Westminster, 150,000 auf Southwark. Die Vorstädte fassen zusammen etwa 700,000. Aber wenn man die politische Eintheilung nicht weiter berücksichtigt und alle Orte zu London rechnet, welche gegenwärtig mit ihm ein zusammenhängendes Ganze ausmachen, dann beläuft sich die Gesammtzahl der darin aufgehenden Orte über hundert und sie stellen eine Masse von etwa 320,000 Häusern dar, die [70] von Woolwich bis Chelsea, in der Richtung von Ost nach West, eine Durchschnittslinie von 11½ englische Meilen, in der von Nord nach Süd, von Highgate bis Brixton, aber eine von 9 Meilen Länge gibt. Der Umfang der Metropole ist dann 34 engl. Meilen oder 16 Stunden. Es leuchtet ein, daß jede Bestimmung von ihrer Größe bei dem steten Anwachsen derselben – (jährlich baut man durchschnittlich 5000 neue Häuser hinzu, folglich eine größere Anzahl, als ganz Frankfurt besitzt) immer nur für den Augenblick gelten kann. Kein Jahr vergeht, ohne daß nicht mehr benachbarte Orte dem großen Ganzen angeknüpft werden. –

Unabhängig von seiner politischen Eintheilung zerfällt London in sittlicher und gesellschaftlicher Beziehung gleichsam in 5 verschiedene Städte. Das Westende der Stadt, aus den schönsten Plätzen und Straßen bestehend, ist die Residenz des Hofes, des Adels, der Sitz der gesellschaftlichen Verfeinerung, der Pracht, des Reichthums, der elegantesten Läden, kurz der Mode und des Glanzes. – Die City (Altstadt), ist das Herz des Riesenkörpers. Hier ist der Mittelpunkt der Handelswelt, der großen Geschäfte aller Art, der Haupt-Wechsel- und Geldmarkt für ganz England und für die Welt. Hier sind die großartigsten Anstalten zur Förderung und zur Erleichterung der Geschäfte, die Börse, die Bank von England, Lloyds Caffeehaus mit den Bureaus aller Assekuradeure, die Contors unzähliger Lebens- und Feuerversicherungsbanken, die Getreide- und Stocksbörsen, das Generalpostamt, die Haupt-Zoll- und Accise-Aemter; die Paläste und Bureaus der Ostindischen-, der Südsee-, der Hudson-Bay-Compagnie; die Auktionssäle für die Waarenverkäufe im Großen, für die Versteigerungen von Plantagen und Gütern in den brittischen Colonieen; hier haben die großen Kaufherren, die Geld-Könige, die Rothschild’s und Baring’s, welche ihre Geschäfte und Vermögen nach Millionen zählen, ihre städtischen Wohnungen und bis zum Mäkler herab, der ihre Geschäfte vermittelt, ihre dunkeln Contore. Hier ist auch der Sitz des Lord-Majors und aller städtischen Behörden. – Die Hunderttausende, welche von den Hülfsleistungen leben, welche die unermeßlichen City-Geschäfte bedürfen, bewohnen das Ostende (EASTEND) der Stadt. Hier trifft man, der Themse entlang bis hinunter nach Woolwich, die Schiffswerfte an, die städtegroßen Magazine, die Docks und ihre Wunder; da sind auch die langen, engen und schmutzigen Gassen, wo jedes Haus einen Schild hat und hinter jedem die Unzucht und die Völlerei einen Tempel. Hier ist die Residenz der Matrosen, der Schmuggler, der Trödler, der Diebshehler, der Juden, der Gaunerei in allen Gestalten. – Im Aeußern dem östlichen Stadttheil ähnlich (doch nicht ohne einige recht schöne Hauptstraßen) ist die Borro (Borough, Southwark). So heißt die auf der andern Seite der Themse gelegene kleinere Stadthälfte. Dort ist der Sitz der großen Manufakturen, der Brenn- und Brauereien; dort wohnen die Großhändler in Hopfen, Saaten und Getreide; dort sind die Metall-Fabriken, welche aus den thurmhohen Schlöten schwarze Säulen giftigen Rauchs in die Höhe senden, aus denen eine Wolke entsteht, welche Jahr aus Jahr ein über diesen Stadttheil am Himmel schwebt. Hier hört man der Dampfmaschine, des Herzens des englischen Fabriklebens, unheimliche Pulsschläge bei jedem Tritte; hier ist endlich die weltberühmte „Republik der zahlunfähigen Schuldner“ mit ihrer Kingsbench und deren eine Menge Straßen einschließenden „Freiheit.“ – Wir wenden uns von da in das eigentliche Westminster, in den zwischen der City und Charingcroß (dem Westende), liegenden Theil London’s. Es ist die Stadt der Gerichtshöfe, der Advokaten, der juristischen Seminaarien, der niedern Beamten. Hier sind die großen Theater und in deren Nähe jene berüchtigten Häuser der Gelegenheit für die gröbste Unsittlichkeit, für Verführung und schaudervolle Verbrechen. – Da und im nordwestlichen Ende der City gibt es auch jene langen, engen, dunkeln Gäßchen mit den hohen Häuserchen und zerbrochenen [71] Fenstern, in die nie ein Sonnenstrahl dringt und wo nie eine Straßen-Lampe leuchtet; jene Gäßchen, in welchen Dem, der Muth hat, sie zu betreten, der Hunger angrinzt, der Pesthauch des Elends anweht und der Schrei des hülflosen Jammers in die Seele fährt. – Da und in den Winkeln, Höfen und Durchgängen um Holborn und St. Giles hausen jene Verlassenen, welche die Sünde selbst nicht mehr ernähren mag, jene armen, ekelhaften Opfer der Lust, denen ein Misthaufe ihr Sterbebette ist. Da wohnen die Tausende auch, welche die Spitäler zum Anlernen junger Aerzte und Chirurgen mit Kranken versorgen und die Anatomen mit Cadavern; hier und so nur hier sieht man die Scenen der gräßlichsten und empörendsten Entblösung von Allem, was man dem Menschen als erste Lebensbedürfnisse zuerkennt; – Auftritte – und diese unverborgen, auf offener Straße, – die einem das Haar sträuben und das Herz zusammen schnüren. Diese Gäßchen sind’s, wo der Familienvater wohnt, der mit eisernem Fleiße am Webestuhl nicht so viel verdienen kann, um seine Kinder zu sättigen, geschweige, sie zu kleiden, sie zu erziehen – und zu ihm ist’s, daß, die Kinder ihm abzunehmen, die Mäkler kommen, jene Elenden im Solde der frechen, reichen Bösewichter, die täglich Blumen der Unschuld zu knicken sich zum Gesetz gemacht. Aus diesen Stadtvierteln kommen auch die zerlumpten Mütter geschlichen, welche am frühen Morgen schon, ehe die Menge durch die größern Straßen wogt, den Koth derselben durchwühlen, suchend nach den ekelhaftesten Resten menschlicher Nahrung; dort ist’s auch, wo dem Forscher jene schmuzigen, gekrümmten, hohläugigen, alten Weiber begegnen, welche „Hundefleisch“ (nicht von Hunden, sondern für diese von gefallenen Thieren) in zierlichen Streifen um weiße Stäbchen gewickelt: A PENNY A POUND, A POUND A PENNY! mit klagender Stimme ausrufen. Wohl vernimmt er in diesen Höhlen des Mangels nie das Bellen eines Hundes; wenn er aber hungerzernagte Menschen, 2 bis 3 zusammen, gierigen Blicks um ein solch Stäbchen handeln sieht, so ahnet er des Räthsels Lösung. – Dann eilt er schaudernd und beflügelten Schrittes hinaus in die helle breite Straße voll Paläste, sieht das Gewimmel wohlgekleideter, wohlgenährter Menschen, hört das Donnern glänzender Carossen, daß immerwährende, und das Gesehene dünkt ihm ein böser Traum! Und doch war’s Wirklichkeit und ein Tropfen erst aus dem Ozean des Menschenelends und der Verworfenheit, der in der unermeßlichen Weltstadt wogt![3]

London hat gegenwärtig etwa 320,000 Häuser in 13500 Straßen (Commercial-Road und Oxfordstreet die längsten; New-Bondstreet, im Westende, die der Mode und der vornehmsten Welt; Cheapside in der City und der Strand die lebhaftesten; Regentstreet die prachtvollste) und 110 Märkte und Squares. Der Kirchen und Bethäuser für alle Religionen und Glaubensverschiedenheiten sind über 500; (St. Paul’s, der Peterskirche ähnlich und nach ihr die größte in der Welt). Armenversorgungsanstalten und Hospitäler gibt es 120. Leptere sind meistens prachtvolle Paläste mit Gärten und Parks, manche mit mehr als 1000 Schlafstellen (Bethlehem, St. Lukas, das für Findlinge etc.); Invalidenhäuser sind Greenwich- und Chelsea-Hospital, letzteres für die [72] Armee, ersteres für die Marine: beide grandios in Bauart und Einrichtung, Britanniens würdig. Gegen diese und so manche Privatwohnungen erscheinen die Schlösser des Monarchen unbedeutend – selbst das neue in St. James Park – (1830 von Georg IV. erbaut) ist für seine Umgebungen von zu kleinlichen Verhältnissen. An der Spitze der öffentlichen Unterrichtsanstalten steht die Universität, in einem herrlichen Palaste, 1831 auf Lord Brougham’s Antrieb durch Subskription gegründet und jetzt von 3200 Studirenden besucht. – Außer 900 öffentlichen Schulen zählt man über 4600 Privatinstitute. Unzählige Vereine befördern die Verbreitung der Kenntnisse unter den niedrigen Klassen durch unentgeltliche Cirkulation von Büchern, Vorlesungen, Sonntags- und Freischulen. – Erleichterungsmittel für höhere Bildung in Kunst und Wissen gewähren 9 Museen, (voran das Brittische, mit den reichsten Bücher-, naturhistorischen und Kunstsammlungen der Welt) Gallerien für Gemälde und Alterthümer, (die National-Gallerie, deren neues Lokal das größte und imposanteste Gebäude Londons werden wird), endlich mehre Akademieen (voran die Royal im prachtvollen Sommersethouse), viele gelehrte Gesellschaften und Collegien. – Von der Größe des geistigen Verkehrs kann man sich einen Begriff machen, wenn man weiß, daß es hier über 1100 Buchhandlungen gibt (mehr wie in ganz Deutschland, Ungarn, Schweden, Rußland, Dänemark zusammengenommen), welche jährlich für 25 Millionen Gulden Bücher verkaufen. Der eigentliche Verlagshandel ruht in wenigen Händen; er beschäftigt über 200 Buchdruckereien, darunter eine mit 17 Druckmaschinen, welche allein mehr hervorbringt als die Leipziger mit einander. In 9000 Kaffee-, Gast- und Branntweinhäusern und 6000 Bierschenken treiben sich stets über 100,000 Menschen umher. Für Unterhaltung edlerer Art sorgen 16 Theater (Drury-Lane, Coventgarden, Haymarket etc. für das Drama; das Opernhaus für das Singspiel); ferner das Colosseum, die Gärten der zoologischen- und Gartenbau-Gesellschaft; die Säle der Musik- und Konzertvereine; Dioramen, Panoramen und unzählige Ausstellungen von Sehenswürdigkeiten aller Art. – Der Handel ist unermeßlich. Er beschäftigt ein Kapital von 26,000 Millionen Gulden, 12–15,000 Frachtwägen, 5000 eigene mit 60,000 Matrosen bemannte und an 3000 fremde Schiffe. Der Gesammtwerth der Ein- und Ausfuhr London’s übersteigt jährlich an 2000 Millionen Gulden; über 11,000 Schiffe kommen alljährlich in seinen Häfen an und segeln nach allen Küsten des Erdrunds; 11 bis 1300 Seeschiffe sind stets im Ein- und Ausladen begriffen, und 12,000 Bote und Leichter mit 20,000 Ruderern und 8000 Zollbeamten sind in den Häfen und auf dem Flusse in steter Bewegung. Täglich gehen 1100 Eilposten nach allen Richtungen des Reichs ab; und 140 Dampfschiffe fahren theils in die Häfen des Landes, theils nach denen des Continents. Das Zollhaus wird täglich von 12–15,000 Menschen besucht; die große Börse von 8 bis 10,000 Kaufleuten aus allen Völkern und Ländern. In der Bank, in welcher 1200 Commis arbeiten, machen alle Tage 20,000, in Lloyd’s[WS 1] Kaffeehaus 6000 Leute ihre Geschäfte ab. Die daselbst jährlich geschlossenen Versicherungen repräsentiren ein Kapital von 5000 Millionen Gulden. – Auch die Fabriken sind unermeßlich und die Londoner Fabrikate genießen in Betreff der Solidität und Güte allgemein den Vorzug vor allen andern. Besonders berühmt sind die in Seide, Stahl und Glas, die Wagner- und Sattlerarbeiten und alle Artikel des höhern Luxus. Die Seidenmanufaktur allein gibt über 60,000 Menschen unmittelbar Beschäftigung. – Aber wenn wir alles Bemerkenswerthe auch nur andeutungsweise anführen wollten, so würden wir den für diesen Artikel bestimmten Raum vervierfachen müssen. Sey es denn mit dieser Skizze genug!

Unsere Ansicht ist von der Waterloobrücke; es ist eine der schönsten, die das Innere der Weltstadt bietet.





  1. Unter London wollen wir nicht blos das eigentliche London, sondern die ganze zusammenhängende, durch Straßen verbundene Häuserwelt betrachtet wissen, wovon London im engern Sinne nur den Mittelpunkt bildet. – Nur seit den letzten 20 Jahren sind durch den Neubau von 30,000 Häusern und von zahllosen Verbindungsstraßen über 20 bedeutende, früher durch Felder und Weiden getrennte Orte der Weltstadt einverleibt worden. – In diesem weitern Verstande übertrifft London an Größe Berlin fast zehnmal, Dresden dreißigmal, Leipzig hundertmal. Die Zahl der Häuser ist nahe an 320,000, die der Einwohner ungefähr 2¼ Million. Die 100,000 Fremde, welche sich täglich in London aufhalten, sind darunter mit begriffen.
  2. Am auffallendsten äußert sich dieß Gedeihen in der Verschönerung der Weltstadt seit 20 Jahren. Man machte früher London den Vorwurf, es baue Baraken, aber keine Paläste; und es ist allerdings eine richtige Bemerkung, daß die Neubauten, die vor jener Zeit aufgeführt wurden, meistens aus einförmigen Reihen schlechter Backsteinhäuser, oft tausend und mehre nach einem und denselben Muster, bestanden. Seitdem aber führten Prachtliebe und Luxus zum Gegentheil. Man baut in London fast blos noch im Styl der Paläste. In einem Jahre werden jetzt mehr Häuser dort aufgeführt, die Königswohnungen ähnlicher sehen, als denen von Bürgern, als es zur Zeit der Elisabeth Prachtgebäude überhaupt gab. Jährlich verschwinden ganze Viertel aus dem Innern der alten Stadt, um einer einzigen neuen Straße von Häusercolossen Raum zu machen, von denen jeder für sich, stände er in Berlin oder Wien, als Außerordentliches bewundert werden würde, und die neuesten Stadttheile, zusammen so groß als Berlin, so wie auch die TERRACES bei’m Hydepark und in der Nähe von Regentspark bestehen ganz aus Palästen. Mehr aber noch nehmen die dem öffentlichen Nutzen errichteten Werke dieser Periode unser Erstaunen und unsere Bewunderung in Anspruch. – Da der 2 Stunden lange, natürliche Hafen auf der Themse, obschon er 1100 Seeschiffe faßt, zu klein wurde, so hat man fünf künstliche Häfen (Docks) – den Ostindischen, Westindischen, Londoner, Catharinen und Commercial – gegraben, welche, zusammen 160 Millionen Gulden kostend und von Gesellschaften Londoner Bürger ausgeführt, die größten Werke der Art sind, die zu irgend einer Zeit und von irgend einem Volke unternommen wurden. In ihnen können über 1600 Seeschiffe bequem ein- und ausladen, und der Raum, den sie und ihre ungeheuern Magazine bedecken, beträgt mehr als 11 englische Geviertmeilen! Um den Bauplatz für den erst vor 3 Jahren vollendeten Catharinendock zu gewinnen mußte ein Stadtviertel, halb so groß als Leipzig (mit 1200 Häusern, mehren Kirchen und von 13,000 Einwohnern) durch die Unternehmer angekauft und niedergerissen werden! – Die Wasserleitungen, welche während dieser Zeit gebaut wurden, um statt des trüben Themsewassers das reine entfernter Quellen, Waldbäche und kleinerer Flüsse in jedes Haus London’s und jedes Stockwerk desselben zu führen, sind nicht weniger bewundernswürdig; und so lassen auch die in nämlicher Zeit auf Aktien gebauten Brücken über die Themse: die Waterloobrücke, die große eiserne Southwarkbrücke (mit den größten Bögen in der Welt) und die neue London, so wie der in diesem Augenblick zur Vollendung kommende Weg unter der Themse (TUNNEL) alles hinter sich, was man in andern Ländern Aehnliches begonnen hat, oder projektirte. Der 5 englische Meilen weit aus der Mitte der Weltstadt nach Greenwich auf hoch über London’s Häusermasse gesprengten Bögen hin führende Viaduct, mit Eisenbahn, Dampfwägen, Spaziergängen und Kaffehäusern, überfliegt endlich selbst das, was man sich im Traume als möglich dachte, und der von Londoner Spekulanten beschlossene Plan, zur Seite dieser Bahn, in ihrer ganzen Länge, eine Straße von Palästen, Wohnhäusern und Magazinen anzulegen, muß nothwendig den Glauben hervorrufen, ein Volk, wo Gedanke, Kraft und Wille so Unerhörtes ersinnen, beginnen und ausführen können, müsse von dem Gipfel der Größe noch weit entfernt seyn, den zu erreichen ihm die ewige Weisheit beschieden hat.
  3. Die Zahl der Einwohner London’s, die von Almosen und von öffentlichen Unterstützungen zu Hause leben, ist 120,000 und außer diesen werden etwa 26,000 in den Spitälern und wohlthätigen Anstalten versorgt. Der täglichen Bettler sind 15–20,000; der Dirnen weit über 100,000 und Schreiber Dieses zählte an einem Abende auf einem halbstündigen Wege aus der City nach dem Theater über 1600, die ihm begegneten. Er hatte mit einem Fremden, dem es unglaublich schien, gewettet, daß ihnen mindestens 1000 dieser in London Jedem kenntlichen armen Geschöpfe begegnen würden. – Knaben, die sich von Taschendiebereien und Mausereien ernähren, gibt es 8000. Die Zahl der erwachsenen Gauner von Profession ist das Dreifache. Jährlich geschehen 120 bis 130 Mordthaten, die zur Kenntniß der Behörden kommen; aber die Zahl der Ermordungen, (namentlich an Fremden, in verrufenen Häusern, in denen die Unzucht die Kupplerin des Meuchelmords ist), von welchen man nie was hört, ist gewiß noch größer.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Lloy’s