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Bis zur Zerstörung der Sachsenreiche und der Eroberung Englands durch den Normannenfürsten Wilhelm erlag London mehrmals der Landesgeisel damaliger Zeit, – den Dänen, welche durch jährlich erneuerte Raubzüge die Küste Englands verheerten und entvölkerten. London, das durch seinen Handel immer schnell wieder aufblühende, war stets eine Lockung für jene habsüchtigen Horden, und die kleinen Sachsenfürsten gemeiniglich zu schwach, ihre Hauptstadt zu schützen. London wurde in dieser Periode mehrmals eingenommen und geplündert. Nur die Regierung Alfreds, der auch die Gemeindeverfassung London’s organisirte, war eine Zeit der Ruhe. –

Wilhelm, der Eroberer, machte sich 1066 zum König von ganz England. Er ließ sich in der Westminsterabtei krönen, und erhob London zur Hauptstadt des neuen Reichs. Dadurch ist er der Gründer seiner jetzigen Größe geworden. Durch die nun von einer Hand gezügelte Kraft des ganzen Reichs vor dem Einfallen räuberischer Nachbarn geschützt und gesichert, zogen der Hof, der Handel, die Bedrückungen endlich, welchen die Bewohner anderer Landestheile durch habsüchtige Barone unterworfen waren, jährlich eine Menge Einwanderer herbei, und Ausdehnung und Volksmenge der Hauptstadt wuchsen von Jahr zu Jahr. Die Lücken, die Hunger und Pest verursachten, (1258 verhungerten 20,000 Menschen; 1348 raffte über 30,000 die Pest hin!) füllten sich bald wieder aus. Als die Königin Elisabeth, von Philipp II. bedroht, zur allgemeinen Bewaffnung rief, stellte London ein Heer von 20,000 Mann und eine vollständig gerüstete Flotte von 38 Kriegsschiffen zu ihrer Verfügung. 1666 verheerte der große Brand binnen 4 Tagen ⅓ der Stadt. Ueber 13,000 Häuser lagen in Schutt und 140,000 Einwohner waren ohne Obdach. Kaum ein Jahr zuvor hatte die Pest 68,000 Menschen (nach den Sterbelisten; nach andern Angaben aber 130,000) hinweggerafft! Diese Zahlen sind genug um einen Begriff von der schon damaligen Größe der Hauptstadt zu geben.

Mit diesen beiden furchtbaren Unglücksfällen war der Cyklus derselben geschlossen. – London erstieg aus der Asche prächtiger wieder als es vorher gewesen, und schon nach 10 Jahren war keine Spur des Brandes mehr übrig. – Wie seitdem die Macht Englands und die Prosperität der Nation mit verhältnißmäßig unbedeutenden Störungen immer gewachsen ist, so hat auch London seit anderthalb Jahrhunderten an Einwohnerzahl, Umfang, Handel, Gewerbe und Reichthum fort und fort zugenommen bis auf den heutigen Tag.[1]


  1. Am auffallendsten äußert sich dieß Gedeihen in der Verschönerung der Weltstadt seit 20 Jahren. Man machte früher London den Vorwurf, es baue Baraken, aber keine Paläste; und es ist allerdings eine richtige Bemerkung, daß die Neubauten, die vor jener Zeit aufgeführt wurden, meistens aus einförmigen Reihen schlechter Backsteinhäuser, oft tausend und mehre nach einem und denselben Muster, bestanden. Seitdem aber führten Prachtliebe und Luxus zum Gegentheil. Man baut in London fast blos noch im Styl der Paläste. In einem Jahre werden jetzt mehr Häuser dort aufgeführt, die Königswohnungen ähnlicher sehen, als denen von Bürgern, als es zur Zeit der Elisabeth Prachtgebäude überhaupt gab. Jährlich verschwinden ganze Viertel aus dem Innern der alten Stadt, um einer einzigen neuen Straße von Häusercolossen Raum zu machen, von denen jeder für sich, stände er in Berlin oder Wien, als Außerordentliches bewundert werden würde, und die neuesten Stadttheile, zusammen so groß als Berlin, so wie auch die TERRACES bei’m Hydepark und in der Nähe von Regentspark bestehen ganz aus Palästen. Mehr aber noch nehmen die dem öffentlichen Nutzen errichteten Werke dieser Periode unser Erstaunen und unsere Bewunderung in Anspruch. – Da der 2 Stunden lange, natürliche Hafen auf der Themse, obschon er 1100 Seeschiffe faßt, zu klein wurde, so hat man fünf künstliche Häfen (Docks) – den Ostindischen, Westindischen, Londoner, Catharinen und Commercial – gegraben, welche, zusammen 160 Millionen Gulden kostend und von Gesellschaften Londoner Bürger ausgeführt, die größten Werke der Art sind, die zu irgend einer Zeit und von irgend einem Volke unternommen wurden. In ihnen können über 1600 Seeschiffe bequem ein- und ausladen, und der Raum, den sie und ihre ungeheuern Magazine bedecken, beträgt mehr als 11 englische Geviertmeilen! Um den Bauplatz für den erst vor 3 Jahren vollendeten Catharinendock zu gewinnen mußte ein Stadtviertel, halb so groß als Leipzig (mit 1200 Häusern, mehren Kirchen und von 13,000 Einwohnern) durch die Unternehmer angekauft und niedergerissen werden! – Die Wasserleitungen, welche während dieser Zeit gebaut wurden, um statt des trüben Themsewassers das reine entfernter Quellen, Waldbäche und kleinerer Flüsse in jedes Haus London’s und jedes Stockwerk desselben zu führen, sind nicht weniger bewundernswürdig; und so lassen auch die in nämlicher Zeit auf Aktien gebauten Brücken über die Themse: die Waterloobrücke, die große eiserne Southwarkbrücke (mit den größten Bögen in der Welt) und die neue London, so wie der in diesem Augenblick zur Vollendung kommende Weg unter der Themse (TUNNEL) alles hinter sich, was man in andern Ländern Aehnliches begonnen hat, oder projektirte. Der 5 englische Meilen weit aus der Mitte der Weltstadt nach Greenwich auf hoch über London’s Häusermasse gesprengten Bögen hin führende Viaduct, mit Eisenbahn, Dampfwägen, Spaziergängen und Kaffehäusern, überfliegt endlich selbst das, was man sich im Traume als möglich dachte, und der von Londoner Spekulanten beschlossene Plan, zur Seite dieser Bahn, in ihrer ganzen Länge, eine Straße von Palästen, Wohnhäusern und Magazinen anzulegen, muß nothwendig den Glauben hervorrufen, ein Volk, wo Gedanke, Kraft und Wille so Unerhörtes ersinnen, beginnen und ausführen können, müsse von dem Gipfel der Größe noch weit entfernt seyn, den zu erreichen ihm die ewige Weisheit beschieden hat.