London (Lavant)
Im Osten Londons herrscht’s, des Winters Weh:
Mit starrem Frost, mit Eis und Sturm und Schnee
Ist lebenmordend es hereingebrochen,
Und gelber Nebel, zäh und greifbar dicht,
Für die Verkümmernden seit vielen Wochen.
Es fehlt an Arbeit, Kohle, Kleidung, Brot.
Elfhunderttausend Menschen saugt die Noth
Den letzten Tropfen Blut, das Mark der Knochen.
So leiden sie, Verzweiflung-übermannt,
Doch ohne Klagelaut – seit vielen Wochen.
Sie würden schaffen mit der letzten Macht,
Sie würden schaffen, rastlos, Tag und Nacht,
Doch alle Stätten liegen stumm und leer:
Für all’ die Arme keine Arbeit mehr
In dieser Riesenstadt, der arbeitvollen!
Und Frost und Hunger führen wie im Spiel
In Noth und Kummer Zoll um Zoll verderben.
Von Haus zu Haus die fahle Seuche schleicht,
Bis Londons Osten einem Friedhof gleicht
Und wie die Fliegen die Entnervten sterben.
Und baß geschlemmt – nun macht er still gefaßt
Und respektabel mit dem Himmel Frieden,
Und sucht und findet jene Heiterkeit
Und innre Ruhe, die da allezeit
Vom Osten weiß er nichts, und wenig frommt
Zu wissen auch, wie dorten man verkommt –
Es wird die Weihe seiner Stimmung stören.
Um ihn und in ihm ist es sonntagsstill –
Am heil’gen Sabbath nichts der Westen hören.
Und in der Woche hat er keine Zeit.
Da will verdient sein und die Welt ist weit
Und über Meere spann er seine Fäden.
Nimmt in der Heimath resignirt er hin
Die „unvermeidlichen, fatalen Schäden!“
Der Westen rechnet sicher und erwirbt –
Entblößt von Arbeit, hungert, friert und stirbt
Ein dumpfer Nothschrei zittert durch das Land,
Das Maß des Elends füllt sich bis zum Rand,
Wann, stolzes, frommes England, fließt es über?
Anmerkungen (Wikisource)
Ebenfalls abgedruckt in:
- "Der Wahre Jacob" Nr.118 S.945 (Titelseite , 1891)