Lettische Volkslieder und Mythen/In freier Natur

Liebeslust und Leid Lettische Volkslieder und Mythen
von Victor von Andrejanoff
Götterlieder
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[29]

Warum haben heute abend
Sich die Waldspitzen gerötet?
Untergehend hat die Sonne
Ihren Seidenrock gelüftet.

[29]

Spricht die Sonne untergehend:
„Höret auf, o Arbeitsleute!
Sind die Händ’ euch noch nicht müde
Von des langen Tages Frondienst?

[29]

Hohe Dünen stehn am Meere,
Rote Beeren dort erwuchsen:
Viel geweint hat dort die Sonne,
Ihre Thränen sind die Beeren.

[29]

Mach ein Boot mir, lieber Vater,
Web ein Segel, liebe Mutter!
Will ins blaue Meer hinaus,
Kämpfen mit dem wilden Nordwind!
Ob er weiß auch schäumt die Wellen,
Weißer doch erglänzt mein Segel! …

[29]

Furcht den Acker, liebe Brüder,
Furchet nicht die falsche See!
Nicht im Boot klingt Silbermünze,
Aber wohl im Haus des Pflügers.

[29]

Ging vorbei an meinem Flachsfeld,
Nahm vom Kopfe ab die Mütze:
Meine weißen Hemden wachsen
Dort – und Kleingeld zum Vertrinken!

[29]

Gerne seh’ ich eine Kanne
Bier, mit weißem Schaum darauf,

[30]

Lieber noch die Gerstenpflüger
Mit den sandbestäubten Füßen.

[30]

Pflügerchen, Brüderchen,
Deine Füße stehn in Blüte;
Blütenstaub von ihnen rieselt,
Von den Händen – Silberstaub.

[30]

Wohin eilst du, liebes Hähnchen,
Durch den Tau so früh am Morgen?
„Eil’ ins Dorf, die Mädchen wecken,
Welche keine Mutter haben.“ –

[30]

Eichenbaum, Eichenbaum,
Wie so groß und füllig bist du;
Flog drei Tage lang ein Bienchen,
Kam doch nicht um dich herum.

[30]

Breite Linde auf dem Hügel,
Breite Eiche ihm zu Füßen, –
Gott, gieb einen guten Sommer!
Beide wollen ja gedeihen.

[30]

     Wuchs einst ein Faulbaum
     Am Bachesrande,
     Nicht allzu hoch
     Und nicht allzu niedrig.
     So viel ich konnte,
     Begoß ich’s Bäumchen.
     Je mehr ich’s pflegte,
     So üpp’ger wuchs es;
     Je mehr es aufwuchs,
     So grüner wurd’ es,
     So weißer blüht’ es,
     So schwärzre Beeren
     Trug’s liebe Bäumchen.

[31]

Sprach die Birke zu dem Mägdlein:
„Kannst von meinen Ästen schneiden,
Aber schneide nur, was schnittreif,
Schneide nicht frischgrüne Zweiglein!
Grüne Zweiglein müssen bleiben,
Daß sich die Zigeuner schmücken!“

[31]

Keine Nuß und keine Beere
Wächst am Wege, den ich wandre.
Was soll ich den kleinen Brüdern
Bringen, wenn ich sie besuche?

[31]

Hopfen, wohin reitest du
Auf dem großen, langen Baume?
„Will mal nachsehn, wie die Gerste
Draußen auf der Rödung wächst!"

[31]

Kühlein, Kühlein, buntgeflecktes,
Sag’, wonach du abends brülltest?
Wolltest einen goldnen Stall du
Oder eine Silberkrippe?
„Nicht nach goldnem Stalle brüllt’ ich,
Nicht nach einer Silberkrippe;
Faul ist meine junge Wirtin,
Wollte nicht mich melken kommen.“

[31]

Sing in meinem Rosengarten
Hellen Klangs, o Nachtigall!
Thust du nicht nach meinem Willen,
Geb’ ich dich dem Habicht preis.

[31]

Singt drauf los, ihr Drosselkinder,
Eh’ die Saatzeit noch gekommen!
Ist die Saatzeit erst gekommen,
Singt euch tot die Nachtigall.

[32]

Viel die Meise prophezeite,
Ahnte nicht die eigne Zukunft:
Jählings faßte sie der Habicht,
Daß die Federn nur so stäubten.

[32]

Balz’ nur, Birkhahn! Weggestorben
Ist dein Weibchen; nimmst ein neues
Du, so ist’s doch nicht dasselbe,
Nimmer folgen ihm die Kindlein.

[32]

Haselhuhnes Töchterchen
War beim Birkhahn in der Lehre,
Lernte dort, aus Birkenknospe
Fleißig Brot und Kuchen backen.

[32]

Sitzt das Haselhuhn im Heidkraut,
Mit dem schwärzlich bunten Zöpfchen;
Stehst du früh am Morgen auf,
Brüderchen, so kannst du’s fragen.

[32]

Morgens tönen ihre Stimmchen,
Tönen auch am späten Abend,
Nur um Mittagszeit sie schweigen,
Denn im Klee sind dann die Bienen.

[32]

Summend, brummend fliegt ein Bienchen
Immer um mein Jungfernkränzchen;
Kam gewiß, um mich zu werben
Für des Bienenvaters Sohn!

[32]

Munter, munter, liebes Rößlein!
Schleich nicht, zähl nicht deine Schritte!
Wenn ich dir den Hafer bringe,
Zähl’ ich vorher wohl die Körner?

[33]

Wolf und Ziege schwören heilig,
Immerdar sich zu vertragen;
Aber schon vor Sonnenaufgang
Hatte sie der Wolf gefressen.

[33]

Prahlten einst zwei reiche Leute,
Wie sie überwintern wollten: –
Untern Schnee kroch flugs der Roggen,
In den Bienenstock die Biene.

[33]

Bachstelz’ will durch jene Lache
Mit den kleinen goldnen Füßchen;
Hilf ihr, Bruder, flink herüber.
Denn dein Bräutchen will sie werden!

[33]

Sag mir. kieselreiches Bächlein,
Warum du so träge hinschleichst?
Wurden dir zu schwer die Kiesel,
Oder hemmt dich deine Tiefe?
     „Leicht könnt’ ich die Kiesel tragen,
     Doch die eigene Tiefe hemmt mich!“

[33]

Reich sei dieser, reich sei jener,
Ficht’ und Tanne sind die reichsten:
Tragen Sommers, tragen Winters
Ihre kostbar grünen Röcke.

[33]

Fand am Grabenrande liegen
Eine volle Gerstenähre.
Brachte sorglich sie nach Hause,
Trug sie auf den frischen Acker;
Von der einen Gerstenähre
Hatt’ ich später hundert Maß.

[33]

Kehr zu Gott heim, liebes Sonnchen,
Gönn uns endlich Feierabend!

[34]

Arbeit gaben strenge Herren,
Aber keinen Feierabend.
Mehl mahlt eine schwarze Schlange,
Auf dem Stein in Meeres Mitte;
Essen sollen’s jene Herren,
Die nicht Feierabend gönnen!

Anmerkungen