Textdaten
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Autor: Georg Horn
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Titel: Laurence
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 776–782
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[776]
Laurence.
Episode aus der Belagerung von Metz. Von unserem Berichterstatter Georg Horn.

„Eine Dame ist eben angekommen,“ raunte mir im Vorübergehen ein Bekannter zu und zeigte nach dem kleinen Entrée im Schlosse von Corny, von dem ich meinen lieben Lesern im letzten Artikel ein Bild zu geben versuchte. Eine Dame im Hauptquartier! Das ist ein seltener und jedenfalls ein interessanter Fall. Eine Dame, die sich in den Mittelpunkt des Krieges wagt, besitzt Muth und Entschlossenheit, und eine Frau mit diesen Eigenschaften kann nicht zu den gewöhnlichen ihres Geschlechts gehören. [778] Was mag sie hierher führen – was mag sie wollen? Sollte sie Anschläge auf die Herzen unserer jungen, eleganten und lebensfrischen Officierswelt haben, sollten hinter diesen Absichten andere verborgen sein, sollte sie vielleicht etwas auszukundschaften suchen, und wäre sie von drüben als Sirene und Emissärin geschickt? Emissärin? Ach, das wäre vortrefflich! Eine Emissärin kann nur jung, schön, nur bezaubernd sein – eine Hospitalpfründnerin werden sie uns nicht schicken. Da ist sie. Jung? Ja, vielleicht sechsundzwanzig Jahre, wenn unsere verwöhnte Männerwelt dieses Alter noch für jung gelten lassen will. Schön? Das gerade nicht; eine kleine, wenn auch sehr graziös gebaute Gestalt, das Gesicht rund, wohlgebildet, aber bleich und abgehärmt, die Augen grau, groß und mit vielem Weiß, lebhaft blinkend, wenn auch wahrscheinlich vom Weinen etwas geröthet; der Mund anmuthig, die Lippen frisch und über der Oberlippe ein Merkmal, charakteristisch und allerdings auf Entschlossenheit deutend – ein leiser dunkler Flaum. Die Kleidung war einfach, aber von gutem Geschmack; der Anzug bestand aus einem dunkelbraunen Wollenstoffe, ohne die tausend Schnurrpfeifereien, mit denen die bonapartistische Ueppigkeit die herrliche Schöpfung des weiblichen Körpers zu verunstalten gesucht hat, auch der kleine Hut von braunem Stroh saß nicht so kühn und herausfordernd, wie es die geschmacklose Mode der letzten Saisons forderte, auf dem Kopfe; unter diesem Hute waren aber weder Flechten noch Locken noch sonst etwas zu erspähen – merkwürdigerweise – das Haar war gänzlich abgeschnitten.

Der Eindruck, den die ganze Erscheinung machte, war ein vertrauenerweckender; von dem Abenteuerlichen, das man sich versprochen, war nichts herauszufinden. Es that Einem innerlich wohl, wieder einmal eine anständige, wohlgekleidete Frauenerscheinung zu sehen; das Geschlecht war zwar in den Dörfern, in denen wir bisher rangirt hatten, nicht ausgestorben, aber mehr als das, es bestand fast nur in alten Weibern und die jungen, die man von der großen Mädchenflucht zurückgelassen hatte, waren des Ansehens nicht werth, trugen zerlumpte Kleider und Lederschuhe, die sich schon jahrelang nach etwas Wichse zu sehnen schienen. Die junge Dame, die hier saß, hatte ganz allerliebste Stiefeletten an, die einen kleinen, gewölbten Fuß umhüllten, und diesem Fuße entsprach die kleine, prachtvoll geformte weiße Hand, in die sie traurig ihren kleinen Kopf legte.

Ihr Erscheinen an diesem für eine Dame etwas ungewöhnlichen Orte, das Interesse und der Antheil, welchen sie vielleicht aus den sie umstehenden Officieren herausfühlen mochte, erleichterte die Anknüpfung einer Unterhaltung um ein Wesentliches. Lassen wir diese von dem Officier führen, in dessen Ressort die Fremde gehört.

„Wie die Meldung der Sie begleitenden Ordonnanz aussagt, kommen Sie, Madame, aus dem Hauptquartier des commandirenden Generals von ***.“

„So ist es, mein Herr. Ein Verwandter der Gemahlin des Generals hat mich an ihn empfohlen, in der Hoffnung, daß ich vielleicht durch die Fürsprache seiner Excellenz bei dem Prinzen Friedrich Karl meinen Zweck erreichen könnte.“

„Und welcher wäre dieser, wenn Sie mir die Frage erlauben?“

„Ich will nach Metz zu meinem Manne.“

„Sie verlangen gleich eine Unmöglichkeit, Madame.“

„Dasselbe sagte mir zwar auch der General von ***, aber ich bat ihn so lange, mir eine Empfehlung an den Obercommandirenden mitzugeben, daß er schließlich mir diesen Brief übergab. Hier ist der Brief – melden Sie mich Monseigneur, ich will einen Fußfall vor ihm thun. Wie man mir sagte, ist Monseigneur ein Mann von Herz und Edelmuth, auch er hat Frau und Kinder, und ich will ja nichts weiter, als zu meinem Manne, zu meinem armen, verlassenen Manne, der vielleicht in diesem Augenblicke verzweifelnd die Arme nach seiner Laurence ausstreckt, der vielleicht stirbt, ohne daß meine Arme ihn noch einmal umfangen, meine Lippen ihm zugeflüstert haben: Ich bin’s, mein geliebter Gaston, ich, Deine Laurence – aber ich bin nur allein, Lilli, unser Kind, ist nicht mitgekommen – ich konnte es nicht wagen, das Kind mit mir zu nehmen. O mein Herr, melden Sie mich Monseigneur.“

„Nach alledem, Madame, ist Ihr Herr Gemahl in Metz?“

„Ja. Verzeihen Sie, mein Herr, daß ich in der Verwirrung meiner Verzweiflung, die noch durch Ihr Schweigen erhöht wird, ein Schweigen, das wie ein Nein klingt – o sagen Sie es nur – es ist ein Nein – sagen Sie es, ich kann Alles hören, ich habe seit Wochen so unsäglich viel gelitten. O mein Mann, mein angebeteter Mann! Drei Jahre erst sind wir verheirathet, und wie lieben wir uns! – Aber ich vergesse, was ich Ihnen erzählen wollte. Mein Mann heißt T. F. und ist Capitain im Generalstab, wir wohnen in Paris. Bei Ausbruch des Krieges wurde er Adjutant des Generals B., der eine Gardedivision commandirt, und wurde bei St. Privat am 18. August verwundet. Wer von der französischen Garde wäre an diesem Tage überhaupt nicht verwundet worden! Ich erfuhr es einige Tage später – ich war mit unserem Kinde in Paris zurückgeblieben. O, wenn Sie Gaston und Lilli sehen könnten! Beide ein Gesicht – ein Herz! – Auf diese unglückselige Nachricht hin begab ich mich zum Kriegsminister General Trochu; er kennt meinen Mann, er achtet ihn sehr. Vielleicht, daß es durch seine Vermittelung mir gelang, nach Metz zu kommen, das die Preußen bereits cernirt hatten. Seine Antwort war ein ‚Unmöglich!‘ Seine Macht über Metz war durch die Preußen genommen. Mein Jammer, meine Verzweiflung gingen ihm zu Herzen. ‚Vielleicht können Sie Ihren Zweck auf einem Umwege erreichen,‘ sagte er nach einigem Nachdenken. ‚Ich habe Nachrichten von Marschall Mac Mahon, daß er von dem Lager von Chalons aufgebrochen ist und sich nach dem Norden gewendet hat, um an der belgischen und luxemburgischen Grenze entlang Thionville zu erreichen und von da zum Entsatze von Metz den Preußen in den Rücken zu fallen. Ich werde Ihnen eine Empfehlung an den Marschall geben.‘ Mit dieser Empfehlung reiste ich in den letzten Augusttagen von Paris ab. Ich hatte Sachen für meinen Mann mitgenommen, ich hatte Wäsche und einige Toilette für mich und dazu zweitauseud Franken, die ich in einem kleinen Koffer bei mir trug. In Beaumont traf ich den Marschall, der mich auf das Schreiben des Generals Trochu hin sehr liebenswürdig aufnahm, meinen Absichten förderlich sein zu wollen mir versprach, und mich einer Ambulance zutheilte. In einen der Wagen wurden meine Sachen gebracht, die Wagen fuhren auf dem Markte auf, und in einem dabeiliegenden Hôtel ließ ich mir ein Zimmer geben. Das Herz wurde mir nach langer Zeit wieder einmal leicht; ich wagte wieder einen Gedanken der Hoffnung zu fassen. Alle Welt versprach sich von dem Unternehmen des Marschalls Erfolg, und ich selbst am meisten, mein Herz wünschte ihn doch; denn nur so konnte ich meinen geliebten Gatten wiedersehen. Aber ach – alle diese süßen Hoffnungen wurden durch die Niederlage meines Beschützers, des Marschalls, mit einem Male vernichtet. Der Angriff durch die Preußen und Sachsen, Baiern und Schlesier –“

„Bitte, Madame, Schlesien gehört zu Preußen.“

„Ah – Pardon! Ich dachte, Schlesien wäre eines von den unzähligen Fürstenthümern Deutschlands. Wir Frauen in Frankreich treiben Geographie nur mit unseren Herzen. – Ich weiß nicht, welche von den Deutschen bei der Schlacht von Beaumont waren, man muß so viele Namen merken, wenn man darüber orientirt sein will; aber Mac Mahon wurde geschlagen. Der Angriff war so heftig, der Kampf so blutig! O, wenn ich an diese Stunden der Entscheidung denke, die auch die Entscheidung über mein Schicksal in sich bergen! Von meinem Fenster aus konnte ich einen Theil der Schlacht mit ansehen – bald war ich an diesem Fenster, bald lag ich auf den Knieen betend, schluchzend, jammernd! Plötzlich hieß es: ‚Die Franzosen sind geschlagen. Die Preußen kommen!‘ Die Panique war entsetzlich. Ich stürzte hinab. Ich wußte nicht, was ich wollte, ich hatte keinen klaren Gedanken mehr, ich war sinnlos vor Schmerz, daß auch hier wieder das Schicksal meinen Weg hemmte, der mich an das ersehnte Ziel führen sollte; nur noch eine dunkle Idee hatte ich, mich meines Eigenthums, das auf einem der Ambulance-Wagen untergebracht war, zu versichern. Als ich unten im Flur des Hôtels angekommen war, verbarrikadirte ein dichter Menschenknäuel den Ausgang, Alles schrie, jammerte, tobte: ‚die Preußen, die Preußen!‘ Der einzige Ausgang, der noch blieb, war rückwärts nach dem Garten, von dort konnte man ins Freie gelangen. Ich hatte keinen Gedanken, keinen Willen, nur ein dumpfes instinctives Gefühl ließ mich an meine Selbsterhaltung denken, und so wurde ich mit fortgeschoben. In der Ambulance, der mich der Marschall zugewiesen hatte, hatte ich einen Arzt kennen gelernt, den ich jetzt plötzlich wieder an meiner Seite sah. ‚Wo ist unser Wagen, wo ist mein [779] Eigentum?‘ rief ich ihm zu. ‚Ich weiß nicht,‘ war seine Antwort. Die feindliche Cavallerie kam auf den Markt gesprengt – ‚retten wir uns, vielleicht giebt es noch einen Ausweg‘ – ‚aber mein Gepäck und meine einzige Baarschaft, die ich besitze?‘ – ‚Lassen Sie das, vertrauen Sie sich mir an, dort sehe ich einen Ambulance- Wagen, vielleicht daß der uns aufnehmen kann, vielleicht ist es der unsrige.‘ – Abermalige Täuschung, es war der unsrige nicht, aber er nahm uns auf.

Sie werden, meine Herren, gehört haben, daß bei Beaumont sich eine französische Colonne von fünftausend Mann durchgeschlagen und die luxemburgische Grenze erreicht hatte. Zu dieser Colonne hat uns ein glücklicher Zufall gelangen lassen. Sie kam bis Arlon, ich in dem Ambulance-Wagen mit; dort wurde sie entwaffnet, ich war es bereits. Ich war noch in demselben Zustande, in welchem ich das Zimmer verlassen hatte, ich besaß nichts, als das, was ich auf dem Leibe trug, kein Stück Wäsche, selbst meine Börse hatte ich auf dem Zimmer liegen lassen. Ich war hülfloser als ein Kind, denn mit einem solchen hätte man Mitleid. Auf eine Frau aber, die in diesem Zustande in einer militärischen Truppe erscheint, auf diese wälzt man den finstern Verdacht, den Gedanken der Schuld, den Vorwurf der Schande. Ich habe die Blicke, die mir hierher begegneten, gesehen, ich habe sie verstanden, ich habe sie getragen. Was auch die Welt, was Sie, meine Herren, von mir halten werden, mag es Tugend oder Laster, mag es der Glaube an die Wahrhaftigkeit meiner Worte sein, oder mögen Sie mich innerlich der Lüge bezichtigen, ich habe so entsetzlich gelitten, daß ich auch noch dieses Leiden auf mich nehmen kann. Wenn ich nur wieder bei meinem Manne bin, dann ist Alles gut, dann ist Alles vergessen und verziehen, Gott ist mein Zeuge, daß mein Herz und mein Wille rein ist, und habe ich Gott und meinen Mann zum Zeugen, was brauche ich dann mehr auf der Welt!“

Eine Pause trat ein, die Sprecherin hatte sich schluchzend auf einen der kleinen Fauteuils geworfen.

Der Ton ist es, der die Musik macht, und aus jedem ihrer Worte sprach eine überzeugende Wahrheit, daß wir alle, die um sie her standen, das tiefste Mitgefühl ihr nicht versagen konnten.

„Und wie sind Sie, wenn ich weiter fragen darf, über die französische Grenze gekommen?“ frug der Officier.

„Trotz aller Hemmnisse und Unglücksfälle habe ich meinen Plan doch nicht aufgegeben,“ war die Antwort der Dame. „Vielleicht fand sich doch ein Mittel, ein Ausweg, eine Person, die mir zu meinem Ziele verhalf, wer weiß? Aber ich war von allen Mitteln entblößt; ich war noch dazu in einem Orte, in dem ich Niemand kannte. Bei meiner Abreise von Paris hatte ich allen Schmuck abgelegt, ich trug nur noch eine kleine goldene Uhr und meinen Trauring. Die Uhr hatte ich in Beaumont auf meinem Zimmer liegen lassen, den Trauring besitze ich noch und nur der Tod wird mich von diesem Kleinod trennen. Ich war für meinen Gatten doch nicht so ganz arm, ich besaß noch etwas, wofür ich mir noch einige Baarschaft zur Fortsetzung meines Weges verschaffen konnte, da ich zu stolz war, Jemand um eine Gabe anzusprechen. Ich hätte für Gaston meinen letzten Blutstropfen, mein Leben gegeben, warum sollte ich nicht mein Haar ihm opfern, mein reiches Haar, auf das er stolzer war als ich selber?! Ein Coiffeur schnitt es mir ab und bezahlte mir dafür zweiundzwanzig Francs. Davon bezahlte ich meine Gasthofsrechnung und aß mich nach zwei Tagen zum ersten Male wieder satt. Während ich im Speisesaale mein bescheidenes Mahl einnahm, machte ich die Bekanntschaft eines Herrn, der mir gegenüber saß. Es war ein Deutscher, ein Johanniter, ein Mann voll feiner Rücksicht, voll zarter Zurückhaltung, der mir großes Vertrauen einflößte. Ihm erzählte ich im Laufe des Gesprächs meine Schicksale, ihm vertraute ich auch Zweck und Ziel meiner bisherigen Opfer; wie eine Stimme der Sphären klang es aus seinem Munde, als er mir sagte: ‚Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Mein Schwager ist der commandirende General v. ***, an ihn will ich Ihnen einen Empfehlungsbrief mitgeben, vielleicht kann er Ihnen zu Ihrem Ziele verhelfen. Ich sehe, daß Sie von Allem entblößt sind, gebieten Sie über meine Börse ohne jede Scheu, es werden sich wohl später Mittel und Wege finden, das auszugleichen. Sie brauchen keinen Anstand zu nehmen, von meinem Anerbieten Gebrauch zu machen, jedenfalls werden Sie mir gestatten, Ihnen einen Wagen zu besorgen.‘ Mit dem Empfehlungsbriefe dieses edeln Mannes versehen, kam ich nach dem Hauptquartier des Generals. Ich fand bei ihm die menschenfreundlichste, ritterlichste Aufnahme, aber leider meinte er zur Förderung meiner Zwecke wenig beitragen zu können. Den Eingang nach Metz könnten mir nur zwei Menschen verschaffen, der Prinz Friedrich Karl oder der König; ersterer sei näher, darum möge ich in dessen Hauptquartier nach Corny gehen, er wollte mir als Schutz und Begleitung einen Dragoner mitgeben. Vor einer halben Stunde kam ich hier an. Ihr Blick, meine Herren, sagt mir, daß meine Aussichten in dieser Beziehung hoffnungslos sind; nach Metz darf ich nicht hinein, nach Paris kann ich nicht zurück, da dasselbe bereits cernirt ist; ich bin heimathlos, ich bin getrennt von Mann und Kind, ich armes, armes Weib, das nicht Thränen genug hat, um sein Unglück zu beweinen. Wer wird sich meiner erbarmen!“

Zwei Stunden darauf nahm eine Kutsche den Weg nach Nancy; auf dem Bocke saß ein Soldat, im Fond die Gattin des französischen Capitains; ersteren hatte man ihr zum Schutz und zu ihrer Sicherheit mitgegeben. Man hatte von Seite des Hauptquartiers als Ausdruck des tiefen Mitleids, welches die Schicksale der unglücklichen Frau einflößten, alle möglichen Rücksichten für dieselbe: man ließ ihr ein Diner serviren, man bot ihr bei der Frau des Maire ein Nachtquartier an, man stellte eine Summe zu ihrer Verfügung – aber sie durch die Vorposten hindurchlassen, das konnte unter keiner Bedingung geschehen, hier handelte es sich um ein Princip, das selbst dieser Armen gegenüber nicht aufgegeben werden konnte, wenn auch der Anblick so vielen Herzensjammers seine Aufrechthaltung erschweren mochte. Metz war ihr verschlossen, die Wege nach Paris, nach ihrer Heimath zurück, waren ihr durch die Märsche unserer Truppen abgeschnitten. Was sollte sie beginnen? Nancy lag in der Nähe, eine größere Stadt, dort fand sie jedenfalls französische Freundinnen, mit denen sich Anknüpfungspunkte darboten, bei denen sie Aufnahme wenigstens für die nächste Zeit finden konnte. Man bot ihr einen Wagen dorthin an, den sie mit Dank annahm, wenn auch unter Thränen des Schmerzes, daß der Wagen sie in entgegengesetzter Richtung führen sollte, nicht nach Metz hinein zu ihrem Manne, dem sie schon so nahe war; nur eilf Kilometer – das hatte ihr beim Hierherfahren der Meilenstein gezeigt – trennten sie Beide noch, und diese Entfernung war von ihrer Hoffnung ausgefüllt. Schon hatte sie ganz nahe das Fort St. Quentin sehen können, und nun wurde sie durch ein grausames Gebot militärischer Pflicht dem Ziele, dem einzigen Willen und Gedanken, dem Herz ihres Herzens, dem Leben ihres Lebens entrückt! –

Es war etwa zehn Tage darauf, als ich gegen Abend einen Spaziergang über Jouy hinaus nach der Brücke machte, die über die Mosel nach Ars sur Moselle, also auf das linke Moselufer führt. Ueber die Brücke kam ein Wagen, von einem Gensd’armen escortirt; in dem Wagen saß eine anständig gekleidete weibliche Erscheinung, die in dieser Begleitung jedenfalls die Aufmerksamkeit erregen mußte. Wen erkannte ich zu meinem höchsten Erstaunen? Madame Laurence T. F. de C.

„Woher kommen Sie mit dieser Dame?“ frug ich – ich verhehle es nicht – in höchster Neugierde.

„Von Vaux, einem Dorfe zwischen Ars sur Moselle und Gravelotte!“ war die kurze Antwort des Feldgensdarmen.

„Was hat sie denn verbrochen?“ war meine weitere Frage, wobei ich absichtlich verschwieg, daß mir die fragliche Person bekannt war. Auch die Insassin des Wagens machte keine Miene, als ob sie mich scho irgendwo gesehen hätte, vielleicht hatte sie mich auch nicht wieder erkannt.

„Eine Spionin,“ raunte mir der Gensd’arm im Weiterreiten zu. „Wir fahnden schon lange auf sie, unterschiedliche weibliche Personen sind anstatt ihrer schon arretirt worden, die anständigsten Frauenzimmer, wie sich nachher herausgestellt hat. Das kann man aber doch nicht vorher wissen. Sehen Sie sich einmal die an. Sieht die aus, als wenn sie ein Wasser trüben könnte? Und doch ist sie eine gefährliche Spionin, für deren Ergreifung wir die strengsten Befehle haben.“

Sollte dies wirklich der Fall sein? Sollten ihre Erzählungen von damals nur erfunden, Fabeln sein, um allen Verdacht von ihr abzulenken, sollte ihr Jammer, ihre Verzweiflung nur erheuchelt gewesen sein? Unmöglich! dann muß die Wahrheit selbst eine Lüge sein, wenn die Lüge so sehr den überzeugenden Eindruck jener in ihrer Gewalt hat. Und doch [780] – das Dorf Vaux liegt in unmittelbarer Nähe unserer Vorposten. Der Aufenthalt war allerdings verdächtig. Wie kam sie von Nancy zurück nach Vaux, was hatte sie hier zu thun, wenn sie nicht den Zweck verfolgte, Nachrichten über die Stellung unserer Truppen zu sammeln? Hätten wir es hier wirklich mit einer raffinirten Gaunerin zu thun? Es wäre entsetzlich. Dann ist in Zukunft jedes Mitleid mit fremdem Elende eine Schwäche, ein Wagniß, ein Unrecht.

„Wohin wird die Dame gebracht?“ frug ich den Gensd’arm weiter.

„Nach Corny, zum Chef der Feld-Gensd’armerie, zum Oberst Kurt.“

Ich habe die Ehre, den genannten Officier zu kennen; wenn ein Gensd’armerie-Oberst liebenswürdig sein kann, so ist er es, dabei rechtwollend und verständig.

Ich ging nach Corny zurück und nahm meinen Weg nach der Wohnung des genannten Stabsofficiers. Der Bursche sagte mir beim Eintreten in die Wohnung, daß eine Dame zu dem Herrn Obersten gebracht worden sei. Ich konnte aus dem Nebenzimmer die Stimme des letzteren ganz deutlich vernehmen; die Thür stand etwas offen.

„Sie sind in Vaux im Garten des Herrn Curé von einem meiner Leute arretirt worden?“

„Ja! Warum, mein Herr? Was habe ich verbrochen? Der Herr Gensd’arm kam plötzlich auf mich zu, als ich mit dem Herrn Curé im Garten auf und nieder ging. Ist es ein Verbrechen mit einem so würdigen Manne spazieren zu gehen?“

„O bitte, gewiß nicht, Madame! Gehen Sie mit dem Herrn so viel als Sie wollen, wir treten Privatvergnügungen niemals hindernd in den Weg. – Aber sagen Sie mir, sind Sie nicht – bitte um Vergebung – ich muß nur eine Depesche einsehen, die mir zugegangen ist – richtig – hier ist das Datum – sind Sie nicht an diesem Tage, der hier verzeichnet steht, mit einem jungen Manne auf der Straße von Novéant nach Ars sur Moselle gegangen?“

„Gewiß, mein Herr. Ich ging mit dem jungen Manne zu Fuß nach Vaux, weil in Novéant der Zug einige Stunden sich aufhielt wegen einiger Granaten, die in den Bahnhof von Ars sur Moselle von St. Quentin eingeschlagen hatten, so sagte man wenigstens in Novéant. Ich wäre durch diesen Aufenthalt in die Nacht gekommen, und zu dieser Zeit in einem mir ganz fremden Hause einzutreffen, das ist für beide Theile nicht angenehm; also zog ich es vor, mit meinem Begleiter den Weg nach Vaux zu Fuß zu machen.“

„War Ihnen auf diesem Wege kein Officier zu Pferde begegnet?“

„Ich glaube, ja, mehrere sogar.“

„Haben Sie einen nicht besonders erkannt?“

„Ich sehe nicht nach den Officiren, mein Herr, am wenigsten nach den Feinden meines Vaterlandes.“

„Wenn man aber den Feinden seines Vaterlandes Dank schuldig ist -“

„Was meinen Sie damit, mein Herr?“

„Ein Herr, der Ihnen begegnete, hatte Sie bereits früher im Hauptquartier des Generals von *** gesehen, Sie auf der Landstraße wieder erkannt, und es gemeldet. Mit Recht, denn unter diesen Umständen mußte, da Sie nach Nanzig dirigirt worden waren, Ihr Wiedererscheinen in dieser Gegend, in dieser Begleitung doch sehr verdächtig vorkommen –“

„Mein Herr, kein Wort weiter – das ist eine Beleidigung.“

Es war ein zorniger, jäher Ausruf der Dame; dann war sie plötzlich still und fuhr nach einigen Secunden mit gedämpfter, schmerzbewegter Stimme fort:

„Verzeihen Sie meine augenblickliche Aufwallung. Ich habe einen Augenblick vergessen, daß Sie nur Ihre Pflicht erfüllen und als Frau eines Officiers weiß ich, was das heißen will. Ich kann mich immer noch nicht genug in mein Elend finden, das mich dulden und leiden heißt. Es kommt immer noch ein Ton herüber aus den Zeiten des Glückes und des Glanzes. Verzeihen Sie mir darum! Allerdings, jetzt sehe ich ein, die Verwickelungen, in die mich mein Schicksal bringt, sind solcher Art, daß sie jedem Andern unmöglich, zum wenigsten zweifelhaft erscheinen müssen; mir selbst kommt das Schwerste und das Wunderbarste als etwas Alltägliches vor, und ich bin sicher und gewärtig, daß es mich nicht verschonen wird. Aber ich wollte Ihnen doch erzählen, wie ich nach Vaux kam. Vom Hauptquartier war ich nach Nancy dirigirt worden, dort jedoch konnte ich keine Unterkunft finden, weder in einem Hôtel noch in einem Privathause; alle disponibeln Räume waren mit Einquartierung belegt. In meiner Rathlosigkeit wandte ich mich an den deutschen Präfecten, Herrn von B., ihm schilderte ich meine Noth, meine Verlegenheit; er rieth mir in einem Kloster bei den Nonnen von Sacré Coeur eine Zuflucht zu suchen. Das that ich auch; die Nonnen gaben mir Nachtquartier und am andern Morgen rieth mir die Oberin, der ich mich anvertraut hatte, nach Vaux zu ihrem Bruder zu gehen, der sei dort Geistlicher, habe eine Mutter und eine Schwester bei sich; der würde mich gern aufnehmen; dort sei ich auch in der Nähe der Vorposten und dort würden sich sicher auch Mittel und Wege finden, mich durch die preußischen Vorposten hindurchzubringen. O mein Herr, was brauchte ich mehr, als diesen Fingerzeig, diesen schwachen Hoffnungsschimmer, um mich sogleich auf den Weg zu machen! Als Begleiter gab man mir einen sechszehnjährigen Schüler aus einem Seminar in Nancy mit, der begleitete mich nach dem Dorfe. Die Schwester von Sacré Coeur hatte nicht unrichtig vorausgesagt; in dem Pfarrhause von Vaux fand ich die liebreichste Aufnahme, in dem Priester einen geistlichen Tröster, einen väterlichen Freund, in seiner Familie Hülfe, Antheil und Freundschaft. – Ich hätte dort so glücklich sein können, wenn nicht der eine Gedanke mich bewegte, nicht Tag und Nacht mich beschäftigt hätte, wie ich die Wachsamkeit der Preußen täuschen könne, um hindurch – hinüber zu meinem Volke, zu meinem Gatten zu gelangen. – Anstatt näher der Erfüllung meiner sehnsüchtigsten Hoffnung, bin ich Ihnen gegenüber jetzt derselben ferner als jemals. Die Kraft meiner Seele ist jetzt gebrochen – ich will nun nichts mehr versuchen, nur noch einen Wunsch, ein Sehnen, ein Gebet erfüllt mein Herz – für mein Kind, für meinen Gatten. Aber ich will Alles in die Hände Gottes legen, der wird wohl Erbarmen mit mir haben.“

Man war einigermaßen in Verlegenheit, was man mit der armen Frau anfangen sollte. So auffallend ihre Wanderung nach Vaux erschien, so einfach war sie durch ihre Angaben motivirt. Im Uebrigen hatte sie so gar nichts Abenteuerliches an sich; trugen ihr Ton, ihre Geberden so ganz das Gepräge einer anständigen Frau, daß das Auffallende, Verdachterregende nur der verzweifelten Situation zuzuschreiben war, in der sich die Unglückliche befand. Das war auch das Urtheil Derjenigen, die nach ihrer Stellung mit ihr zu verkehren hatten, und dieses Urtheil wurde bestätigt durch die Antwort auf die Erkundigungen, welche man in Nancy und in Vaux über sie eingezogen hatte und die von ihren Aussagen in Nichts abwichen. Was aber sollte mit der Stättelosen geschehen? Sie nach Vaux zurückzuschicken war nicht rathsam; denn über kurz oder lang würde sie doch einen Versuch gemacht haben, durch die Vorposten zu dringen, und dann hätte sich dieselbe Geschichte wiederholt.

Madame T. F. de C. hatte keine Eltern mehr, auch keine Blutsverwandten, nur in Lille lebte ein Onkel ihres Namens, und auf den Rath und die Vorstellungen der militärischen Behörde willigte sie ein, sich zu diesem zu begeben. Vorläufig hatte man sie bei der Frau eines der angesehensten Männer in Corny untergebracht. Oberst Kurt erhielt den Auftrag, sie nach Courcelles zu bringen, von da sollte sie nach Saarbrücken dirigirt werden und von dort durch Belgien Lille, das Ziel ihrer Reise, zu erreichen suchen. Als der Wagen auf der Höhe von Corny anlangte, von wo man einen Ueberblick über die Stadt und Festung Metz hat, brach sie in ein fast krampfhaftes Schluchzen aus. Da drüben in einer der Straßen der stattlichen Stadt lag ein Haus, in einem Zimmer desselben ihr Gatte mit brennenden Wunden, hülflos vielleicht und allein dem Tode entgegengehend, und sie muß hier Abschied nehmen von ihm, vielleicht auf ewig. Da nahte sich eine preußische Patrouille, die einen französischen Soldaten brachte. Oberst Kurt ließ halten und erkundigte sich bei derselben wo und auf welche Weise derselbe zum Gefangenen gemacht worden war; dann wandte er sich mit Fragen an den französischen Soldaten selbst.

„Sie sind Artillerist?“

„Ja, mein Colonel.“

„Von welchem Corps?“

„Von dem Gardecorps.“

„Kennen Sie Officiere von demselben?“

[781] „O gewiß, sehr viele!“

„Nennen Sie mir welche!“

„Ich kenne den General Bourbaki, den Commandeur des Gardecorps, den Divistonsgeneral B.“

„B., gut. Kennen Sie auch den Adjutanten des Generals, den Capitain T. F.?“

„O gewiß, mein Colonel! Ich habe ihn erst vor wenigen Tagen gesehen.

„Sie haben ihn gesehen?“ rief Madame T. F., die bisher athemlos dem Gespräche gelauscht hatte, in größter Erregung. „Er lebt! er lebt! O mein Gott! Sprechen Sie; wo haben Sie ihn gesehen? Sprechen Sie; Sie wissen nicht, welchen Trost, welches Glück Sie mir bringen. Möge Gott es Ihnen lohnen; ich bin seine Frau. Was wissen Sie von meinem Manne?“

„Ich sah ihn am Fenster des Lazareths mit einem Verband am rechten Arme.“

„Ganz recht,“ versetzte Madame T F. fast athemlos; „er hatte einen Schuß in die rechte Schulter, einen Streifschuß in die Hüfte, und ein Pferd wurde unter ihm erschossen. Aber er saß am Fenster, sagen Sie?“

„Und rauchte eine Cigarre, Madame!“

„Er rauchte eine Cigarre, haben Sie gehört, Colonel? und dachte vielleicht dabei an mich und Lilli. Ach, dann kann es ja nicht so schlimm sein; meinen Sie nicht, Colonel?“

„Das ist auch melne Ueberzeugung, Madame,“ entgegnete Oberst Kurt, „und es war mir eine große Freude, daß ich auf Ihre Reise Ihnen noch diesen Trost mitgeben konnte. Jetzt aber müssen wir eilen, um den Anschluß in Courcelles zu erreichen.“

„Nein, nein! Lassen Sie mich hier; ich werde mir einen Pfad suchen, ich werde eine Stelle finden, wo ich unbemerkt unsere Linien erreichen kann, und Gott wird den Kugeln der Ihrigen gebieten, daß sie mein Herz nicht treffen. Ueberlassen Sie mich [782] hier meinem Schicksale; ich beschwöre Sie im Namen alles Dessen, was Ihnen heilig und theuer ist im Himmel und auf der Erde!“

„Sie erschweren mir meine Pflicht furchtbar, Madame; ich bitte Sie, thun Sie das nicht länger; ich werde meine Ordre erfüllen, Sie nach Courcelles bringen und dem dortigen Etappencommandanten zur weiteren Beförderung übergeben. Kutscher, fahren Sie weiter!“

So geschah es auch.

In Courcelles fanden sich für die arme Frau als Reisebegleiterinnen zwei Nonnen aus dem abgebrannten Kloster von Peltre, die ebenfalls nach Belgien gingen. Ihnen empfahl Oberst Kurt seine Schutzbefohlene, und unter heißen Dankesausbrüchen schied sie von ihm.

In dem Augenblicke, wo diese Zeilen ihren Abschluß erhalten, wird in dem Schlosse Frescaty vor Metz die Capitulation der Armee und der Festung unterzeichnet. Dieselbe öffnet auch dem Capitain T. F. die Thore der Festung, und hoffentlich wird es ihm gelingen, sich mit seiner Gattin zu vereinigen und in dem Glück der Liebe ihr den Lohn zu bieten für ein so erhebendes Beispiel der Treue und Aufopferung inmitten der Zersetzung und Zerrüttung ehelicher Verhältnisse, an denen Frankreich zu Grunde gegangen ist.