Land und Leute/Nr. 49. Der Hansjochenwinkel

Textdaten
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Autor: Wilhelm Meyer-Markau
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Titel: Der Hansjochenwinkel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 313–315
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Reisebericht aus der Artikelserie Land und Leute, Nr. 49
Siehe Bauernhochzeiten im Hansjochenwinkel, 1885, Heft 36
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Land und Leute.
Nr. 49.0 Der Hansjochenwinkel.

Als die Königin Luise mit ihrem Gemahl einst ein Potsdamer Garderegiment besichtigte, fielen ihr darin mehrere hohe breitschulterige Gestalten auf. Sie fragte den Flügelmann nach Namen und Heimath und erhielt die Antwort: „Hansjochen (Hans Joachim) Pollehn aus Bonese bei Salzwedel.“ Des Zweiten Antwort auf dieselbe Frage lautete: „Hansjochen Giffey aus Rustenbeck bei Salzwedel,“ des Dritten: „Hansjochen Meyer aus Schmölau bei Salzwedel,“ und so ging es fort. Wohl ein Dutzend dieser vierschrötigen „unflämschen Kerle“[1] hörten auf den Rufnamen „Hansjochen“. Da konnte die hohe Frau die scherzende Bemerkung nicht unterdrücken:

„Das muß dort um Salzwedel herum ja der wahre Hansjochenwinkel sein.“

Weil nun zufällig alle diese Garde-Hansjochen westlich von Salzwedel daheim waren, so weiß seit jenem Tage jeder Altmärker, wo er den Hansjochenwinkel zu suchen hat.

Frau auf dem Kirchgange.

Eine andere Lesart über den historischen Hintergrund der Bezeichnung „Hansjochenwinkel“ will allerdings von dieser „Faogel-Geschicht“ (Fabel, Sage) nichts wissen. Sie berichtet, in Salzwedel habe zu Ende des vorigen Jahrhunderts ein Zimmerpolier Namens Hans Joachim Winkelmann gelebt. Dieser nun habe auf den Dörfern bei Salzwedel damals die meisten Häuser gebaut und, der niedersächsischen Sitte gemäß, unter den in die Querbalken an der Front des Hauses eingeschnitzten Gesangbuchvers neben dem Namen des „Bauherrn“ und der „Baufrau“ auch seinen Namen verewigt. Weil aber für diesen immer nur wenig Platz blieb, so mußte er sich meistens die verstümmelte Abkürzung „Hans Jochen Winkel“ gefallen lassen und dieses „Hans Jochen Winkel“ habe der Gegend den Namen gegeben.

Der Lenekenstein bei Markau.

Mag das auch noch so einleuchtend klingen, ich für meinen Theil halte es schon aus purem Localpatriotismus mit der ersten Lesart, zumal mein glaubwürdiger Freund Wilhelm Quickenstedt in Bonese mir dieselbe aus seiner Familienchronik des öfteren als verbürgt bewiesen hat, während ich mit seinem trefflichen Lampe’schen Braunbier meine auf Fußtouren im altmärkischen Sande ausgedörrte Kehle anfeuchtete.

Hätte ich nicht Namen von Dörfern genannt, ich wäre gewiß, keiner der Leser würde den Hansjochenwinkel zu finden im Stande sein, und wenn er auch wie nach einer verlorenen Stecknadel westlich von Salzwedel darnach suchte. Atlanten und geographische Handbücher wissen nichts vom Hansjochenwinkel, und bei den Leuten in diesem selber würden Fragen nach ihm im günstigsten Falle gar keine, wenn nicht gar eine grobe Antwort zur Folge haben. So könnte es schon passiren, daß Einer mitten im Hansjochenwinkel nach dem Hansjochenwinkel suchte, ohne zu finden, was er sucht; da „Hansjochen“ in altmärkischem Volksmunde die Begriffe: Tolpatsch und Dummkopf zusammenfaßt, so ist’s erklärlich, daß Keiner schon durch seinen Geburtsort einen Antheilschein an landläufiger Dummheit auf die Welt gebracht haben mag. Als ich in scholarischem Uebermuthe einmal an meinen Vater, einen biedern Bauern, einen „Brandbrief“ um neue „Moneten“ mit dem Vermerke „Markau im Hansjochenwinkel“ adressirte, erhielt ich kurzer Hand die Antwort: „Hansjochen haben kein Geld für dumme Schülerjungen“ und mußte alten Pump mit neuem mehren, bis ein Brief nach „Markau bei Dähre in der Altmark“ eine rettende That erzeugte.

Die Gegend, welche der Volksmund weit und breit als Hansjochenwinkel benamst, ist etwa zwei bis drei Meilen lang und ein bis zwei Meilen breit. Zwei Dörfern drängt man in gutmüthigem Eifer abwechselnd die strittige Ehre auf, Hauptstadt desselben zu sein, Diesdorf und Beetzendorf. Bescheiden lehnt aber jeder Ort das ihm zugedachte Prädicat ab.

Die Bewohner des Hansjochenwinkels sind ein stämmiges, kräftiges Bauernvolk, jedenfalls wendischer Abstammung. Von der sogenannten Cultur noch wenig beleckt, führen sie ein höchst arbeitsames Leben. Der sandigen Scholle gewinnt ihre schwielige Hand nicht nur Roggen, Gerste, Hafer, Buchweizen, Kartoffeln, Rüben, Flachs, Lupinen und andere Futterkräuter ab, sondern selbst trefflichen Weizen wissen sie auf ihm zu erzeugen.

Die Winterabende sind den Spinnstuben gewidmet. Die Jugend des Dorfes sitzt da eingepfercht in eine niedrige, dumpfe Bauernstube und dreht um die schnurrende „Spudel“ Hede- und Flachsgarn. Alles spinnt, Magd und Knecht, Bäuerin und Bauer. Während das männliche Geschlecht das gröbere Gespinnst mit einer Hand erzeugt, schafft das weibliche das feinere mit beiden [314] Händen zu gleicher Zeit auf zwei verschiedene Spindeln. – Die Spinnstuben sind so recht die Heimstätten des gemüthlichen Stilllebens dieser harmlosen Dörfler. Gesang von Volksliedern, die in keinem Liederbuche stehen, Räthselfragen oft recht unzweideutiger Art, Erzählen von Märchen und Schauerhistorien wechseln mit einander in bunter Reihe ab. Wer’s Gruseln gründlich lernen will, muß namentlich letztere mit anhören. Mir läuft noch heute eine Gänsehaut über den Rücken, gedenke ich der Stunden, in denen ich als Knabe denselben athemlos lauschte. Wem sollt’s auch nicht gruselig werden, wenn er von einem, dessen Großvater es selbst erlebt hat, berichten hört über den Bauern, auf dessen Tenne jede Nacht sechs gräuliche Mannsbilder draschen, die jedesmal, wenn ein menschliches Wesen zuschauen wollte, gemüthlich ihren Kopf von der Schulter nahmen und ihn dem Neugierigen an den seinen warfen – oder vom Freimaurer M. in N., der in seiner Stube so plötzlich starb, weil sie drinnen in der Stadt in der Loge mit einer Stecknadel mitten in das Herz seines dort aufgehängten Bildes stachen, da er kein Geld mehr hatte, um einen Stellvertreter bei Freund Klapperbein stellen zu können – oder von Schön-Lenchen aus Bonese, das den reichen Markauer Schulzensohn durchaus nicht heirathen wollte, weil es sich heimlich mit Nachbars Knecht versprochen hatte, und nun auf der Hochzeitsfahrt an der Markauer Feldmarkgrenze auf die Frage, ob sie über diese wolle, mit dem Rufe: „Nein, nein und abermals nein, lieber will ich auf der Stelle zu einem Stein werden!“ vom Wagen sprang und zu einem mächtigen Stein wurde, der noch heute zwischen Markau und Rustenbeck auf einer von Fichtengestrüpp bewachsenen Ebene steht, und an dem man zwischen elf und zwölf Uhr in mondscheinhellen Nächten die Brautperlen am Halse glänzen sehen kann.

Wirklich verbürgt ist aber manches witzige Histörchen, das im Volke cursirt, so die Geschichte von den beiden Besenbindern in Wallstawe, die in Salzwedel ihre Besen, die sie auf Schiebekarren dahin gebracht, gut verkaufen, dann gut trinken und – in Extrapost nach Hause fahren, wofür sie anderen Tags circa zwei Meilen zu Fuß zurück müssen in die Stadt, um vor Tagesanbruch die Schiebekarren abzuholen.

Wie schlagend der Hansjochen sich auszudrücken vermag, mögen einige sprichwörtliche Redensarten illustriren.

„Tröste Gott, wer bei dem Winde im Freien ist, sagte der Fuchs, da duckte er sich hinter einen Grashalm.“ – „Sieh’ Dich vor! sagte der Hahn zum Pferde, sonst trete ich Dir auf den Fuß.“ – „Wer den Mund verborgt, muß durch die Rippen essen.“ – „Der Mann kann mit vier Pferden nicht soviel vorn auf den Hof fahren, als die Frau mit der Schürze hinten hinunter zu tragen vermag.“ – „Wenn's Abend ist, bekommt Schweinigel (das ist der Igel) Füße“ etc.

Das Familienleben ist im Hansjochenwinkel meistens ein musterhaftes. Das Gesinde nennt Hausherrn und Hausfrau Vater und Mutter, welcher Bezeichnung diese auch die möglichste Ehre machen. Bauer, Bäuerin, Sohn, Tochter, Knecht, Magd, Schäferjunge, kurz Alle, die zum Hausstande gehören, essen am gemeinsamen Tische. Die Mahlzeilen sind immer frugal, ausgenommen, wenn Predigt im Dorfe ist, oder wenn getanzt wird. Dann will der Tisch schier brechen unter der Last leckerer Gerichte, die ein verwöhnter Gaumen allerdings oftmals kaum als solche bezeichnen würde. An gewöhnlichen Tagen giebt’s meistens Kartoffelsuppe, dünne Milchsuppe oder vom Sonntag her aufgewärmtes Fleisch und Abends entweder eine für die ganze Woche im Voraus gekochte Kohl- oder Bratbirnen- (Backobst-) Suppe. Das Nationalgericht ist in einem Theile der Gegend dicke Buchweizengrütze oder saure Milch. Im Trinken ist man mäßig, ja einige Dörfer haben nicht einmal einen Krug (eine Schenkwirthschaft), was allerdings nicht allzu viel besagen will, da die Einwohnerzahl derselben oft hundert nicht voll macht und die Dörfer meistens nur in viertelstündiger Entfernung von einander liegen. Das Nationalgetränk ist Braunbier einer nur dort gebrauten Gattung, und für zehn Pfennig Bier, das in Steinkrügen verabreicht wird, und für drei Pfennig „Schluck“ (Branntwein) ist der gewöhnliche Trinksatz der Wirthshausbesucher.

Vom großen Weltverkehre ist der Hansjochenwinkel völlig abgeschnitten; denn die Eisenbahn geht erst neuerdings durch einen Zipfel desselben. Es klingt gar so unglaublich nicht, was alte Mütterlein erzählen: Bei einer Sonntagsnachmittags-Zusammenkunft verfiel man auf die Idee, einmal zu probiren, wie das Aufhängen denn eigentlich ginge. Ein Knecht läßt sich in der Stube aufknüpfen. In demselben Augenblicke kommt eine Kutsche am Fenster vorbeigefahren. Eine Kutsche? Wunderbar! Alles läuft, um das Gefährt zu sehen. Und als man nach dem Gehängten sich umschaut, ist er eine Leiche.

Gastfreundschaft übt der Hansjochenwinkler wie kaum ein anderer Volksstamm. Ob fahrender Scholar oder Handwerksbursche, ob besser situirter Reisender oder Bettler – Jeder findet beim dortigen Bauer ein unentgeltliches Nachtquartier nebst Speise und Trank, wenn er um solches irgendwo anspricht. Dafür aber muß sich auch Jeder mit „Du“ anreden lassen. Selbst Lorgnette und Ziegenhainer gewähren davor nicht Schutz. „Ji (Ihr)“ wird nur ganz alten Leuten als Anrede gegeben.

Die so viel gerühmte alte deutsche Sitte, den Fremden nicht nach Namen, Ziel und Zweck seiner Reise zu fragen, macht der Hansjochenwinkler allerdings zu Schanden. „Wo wut Diü henn? Wo kümmst Diü heä? Wat wut Diü dao?“ (Wohin willst Du? Woher kommst Du? Was willst Du dort?) sind seine ersten Fragen an jeden Fremden, welcher sich mit ihm in ein Gespräch einläßt.

Der Dialekt, den die Leute im Hansjochenwinkel sprechen, ist ein breit- und langgezogenes niedersächsisches Platt, das dem Mecklenburgischen ähnelt.

Ihre Tracht ist, wie auch unsere heutige Abbildung zeigt, der bekannten wendischen nicht unähnlich.

An landschaftlichem Reize bietet die Gegend herzlich wenig. Nur die ausgedehnten Nadel- und Laubwälder und die vielen vereinzelt im Felde stehenden Eichen verleihen ihr einigen Reiz, und die dicht an einander gedrängt, meistens in Hufeisenform nach wendischer Sitte erbauten Dörflein inmitten grünender Obstgärten schauen anheimelnd drein.

Wie in der ganzen Welt, so werden auch im Hansjochenwinkel Taufe, Hochzeit und Begräbniß in besonderer, eigenartiger Weise gefeiert. Stets aber spielt der Aberglaube dabei eine große Rolle. So darf der Küster das Taufwasser nach Gebrauch nicht auf von der Sonne beschienene Stellen schütten, damit der Täufling keine Sommersprossen bekommt; die Mutter muß während des Taufactes zu Hause emsig kehren und aufräumen, damit das Kind ordnungsliebend wird etc.

Die Bauernhochzeiten im Hansjochenwinkel bieten in jeder Hinsicht Interessantes. Obgleich der „Freiwerber“ meistens die Brautleute zusammenbringt und bei Heirathen zwischen den betheiligten Parteien um die Mitgift und Aussteuer förmlich gefeilscht wird, sind die Ehen doch fast immer glückliche.

Mit „großartigem Pomp“ wird die Hochzeit gefeiert. Am Sonntag wird die Braut auf dem Brautwagen zum Bräutigam gebracht; vor diesem reiten buntbebänderte Bauernburschen und Musiker; hinter ihm folgen die „Kistenwagen“ mit der Ausstattung vom Glasschrank bis zu Spinnrad und Besen herab. Auch die Wiege fehlt nicht. Ganz hinten auf dem Wagen sitzen zwei „Mutters“ und werfen gebackenes Obst und Weißbrodschnitte, mitunter auch Kupfermünze, nach allen Seiten hin aus, welch Alles von der nacheilenden Kinderschaar emsig aufgelesen wird. Selbst Kuh und Schwein bringt die Braut mit in das neue Heim.

Die Hochzeit beginnt bei erstmaligem Heirathen am Dienstag, bei zweitmaligem am Freitag und dauert für Gäste von außerhalb drei, für einheimische vier Tage. Musik und Tanz, namentlich aber der Hochzeitsschmaus erhöhen die Feier. Für jede der Mahlzeiten an den verschiedenen Hochzeitstagen sind bestimmte Gerichte festgesetzt. Am ersten Hochzeitstage muß auch die Mitgift in blanker Münze unter Beisein der näheren Anverwandten ausgezahlt werden. – Beim Abschiede drückt jeder Gast dem Bräutigam sein Hochzeitsgeschenk in Form von mehreren harten Thalern oder Markstücken in die Hand. – Der Bauernhof wird stets auf den ältesten Sohn vererbt. Die andern Geschwister werden mit geringerer Summe abgefunden und sind später dann oft Tagelöhner bei ihrem „Bruder Bauer“.

Zum Schluß ein Wort über den Leichenschmaus! Da sitzen die Gäste an den aus einfachen Brettern improvisirten Tischen und rauchen ihre „Piep Tauback“ (Pfeife Tabak), welch letzterer in irdenen Schüsseln vor ihnen steht. Des Verstorbenen Leben wird lang und breit in pietätvoller Weise besprochen; jedes Erlebniß, das einer der Anwesenden mit ihm gemeinsam hatte, erzählt und dann zum Schlusse dem Wunsche Ausdruck gegeben. „Wenn häi [315] nüi man nich teät!“ („wenn er nun [der Verstorbene] nur nicht zehrt!“), soll heißen: Mitglieder seiner Familie mit in’s Grab zieht, was sehr leicht geschehen kann, wenn man ihm kein Geldstück in den Mund gegeben oder die Tücher nicht weit genug von seinem Munde entfernt hat, sodaß er jetzt noch mit den Lippen an sie zu rühren vermag.

So lebt denn der Hansjochenwinkler in seiner Abgeschlossenheit ein Leben voller zum Theil eigenthümlicher Gebräuche. Ihn kümmert nicht der politische Parteihader, so sehr ihn auch der „Herr Paster“ für conservative Wahlen zu begeistern sucht; ihn interessiren nicht die großartigsten Erfindungen der Jetztzeit, bis diese so riesige Fortschritte gemacht haben werden, daß sie ihn über Nacht aus seinem idyllischen Dasein aufstören.
Wilhelm Meyer-Markau.

  1. „Unflämsche Kerle“: starke, kräftig gebaute Männer. „Unflämsch“ von Flamländer, die durch brandenburgische und preußische Fürsten nach Preußen gezogen wurden. Bei Nordhausen versteht man unter der richtigeren Ausdrucksweise „flämsch“ dasselbe.