Land und Leute/Nr. 1. Ein Besuch im Canton Zürich

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Titel: Ein Besuch im Canton Zürich
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aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 435–438
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Reisebericht aus der Artikelserie Land und Leute, Nr. 1
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Land und Leute.

Ein Besuch im Canton Zürich.
Der erste Anblick Zürichs. – Die alte und die neue Stadt. – Schweizer und Deutschthum. – Das schweizerische Athen. – Zwei große Gräber. – Ulrich von Hutten. – Die Umgebung Zürichs. – Rudolph von Habsburg und Agnes von Ungarn. – Ein treues Weib. – Wesen und Tracht der Züricher. – Bei Regensberg. – Hochzeitszug. – Alter züricher Brauch.

Wie man einen Menschen mehr als einmal sehen muß, um ihn zu kennen, wie man ihn in Freud’ und Leid, im Werkeltags- und im Sonntagskleide beobachten sollte, so eine Gegend, ein Land, einen Volksstamm. Man muß sie im Regen und bei Sonnenschein gesehen haben. Was ein scharfes Auge geliefert, ein prüfender philosophischer Geist gesichtet, mag dann einigermaßen der Wahrheit und Natur nahekommen. Bloße Reiselust reicht nicht aus; Reisen ohne zu untersuchen, ist noch weniger als nichts; und man könnte Dutzende jener blos oben abgeschöpften Werke, in denen das hundertmal Wiederholte allenfalls mit den Notizen unwissender Führer oder gleichgültiger Kellner verbrämt ist, in ein einziges extrahiren, ohne damit seinem Zwecke viel näher zu kommen. –

Ländlicher Hochzeitszug aus dem regensberger Bezirk in der Schweiz.

Zürich ist die Vorrede zu einem wundervollen Buche, die Vorhalle zu einem Tempel voll geheimnißvoller, erhabener Schönheiten. Man soll Vorreden nie ungelesen lassen; oft wiegen sie das Buch selbst auf. Dies ist zwar hier nicht der Fall; aber gereut hat es wohl noch Niemanden, der aufmerksamen Auges die reizend geschriebenen Blätter durchgegangen, welche eine freigebige Natur in ihrer besten Laune dem verständigen Freunde entgegenreicht. Man muß, ein Glückskind des Wetters, an einem schönen Morgen oder bei dem Abendglanze eines heitern Tages von dem freundlich zwischen grünen Forsten und Weinbergen gelegenen Winterthur her den letzten Hügel vor Zürich überwunden haben, um nun vor dem entzückten Blicke ein Gemälde entfaltet zu sehen, wie kaum der Weitestgewanderte ein zweites in gleicher Schönheit aus dem Schachte seiner reichen Erinnerung vergleichend hervorholen dürfte. Da hat uns die Stadt schon ihre neue lichtere Seite entgegengeschickt in den stattlichen Gebäuden des Cantonsspitals und der Cantonsschule und manch’ anderm geschmackvollen Hause in anmuthiger Umgebung; aber kaum reizt uns das Nächste, selbst nicht drunten im Thale ihr alter gedrängterer Kern mit den hohen und spitzen Thürmen; denn das Auge schweift vor Allem suchend nach dem schönen See, der durch die grüne Herrlichkeit üppiger Baumgruppen und Weinberge, zwischen den hellen Häuserstreifen blauend heraufschimmert und uns sofort mit dem ganzen magischen Zauber anzieht, den die spiegelnde Seele einer Landschaft, Fluß oder See, auf uns zu üben pflegt. Und welcher See! welch’ immer wechselnder Reiz auf diesen klaren, grünen Wogen, die uns in Zweifel lassen, ob sie sich sehnsüchtig zu den Stätten der Menschen gedrängt, oder ob diese nicht nahe und enge genug die Arme um das weiche flüssige Element haben schlingen können.

Die Hauptstadt des kultivirtesten und bevölkertsten Cantons der Eidgenossenschaft ist längst über ihre alten Mauern und Bollwerke hinausgewachsen, in deren engen Kreis sie einst ein Knäuel schmaler, dumpfer Gassen mit alten finstern Häusern eingezwängt hatte. Sie hat auch jene selbst entfernt, oder, wo dies nicht geschehen, sind sie zum grünen Grunde für geschmackvolle weitsichtige Gebäude geworden. Mit dem Zutritte von Luft und Licht gewinnt aber die innere alte Stadt selbst täglich; und wie der junge Aufwuchs draußen längs der blühenden Seeufer sich mehr und mehr [436] erweitert und weiter greift, so zwingt er wieder die an der alten Stätte Gebliebenen, die Contraste nicht zu grell werden zu lassen und dem rüstig Aufstrebenden möglichst nachzukommen. Bei diesem Wettstreite des alten und jungen Zürich haben Geschmack und Schönheit nur gewonnen; und man wird kaum in der Annahme irren, daß mit ihm auch der letzte Rest jenes Spießbürgerthums allmälig verschwinden dürfte, das seinen nicht immer gefälligen Anstrich in einer Zeit erhielt, wo die grauen stolzen Mauern zugleich das Symbol der Herrschaft und des Vorrechts über die Landschaft bildeten. Nirgends vielleicht auch ist der Geist der neuen Zeit so entschieden und doch so gemäßigt eingezogen als in Zürich; es hat sich schneller in ein gemeinsames Volksleben gefunden und rascher den Zopf unnatürlicher Absonderung mit kühner Hand abgeschnitten. Freilich ist dies nicht überall völlig gelungen und schaut er noch da und dort heraus; gestehen muß man aber doch, daß ein tüchtiger Schritt aus dem zweideutigen Mittelalter und aus vielfach kleinlicher Enge heraus gethan ist einer Entwickelung entgegen, in der wir monarchischen Deutschen mit unserer universellen Bildung längst schon stehen, ohne daß Viele es wissen oder anerkennen wollen. Niemand versteht es besser, sich selbst für recht gründlich schlecht zu halten als der Deutsche!

Eine oberflächliche Beobachtung redet sich gar leicht ein, der Züricher lasse die wesentlichsten Züge des specifischen Schweizerthums großentheils vermissen. Dies ist ein Irrthum, den ein etwas längerer Aufenthalt bald zerstört. Ein ungemein gesteigerter persönlicher Verkehr mit Fremden läßt ihn sein charakteristisches Gepräge gewissermaßen mehr nur verhüllen, als daß es verwischt wäre. Er theilt mit allen seinen Stammgenossen die nüchterne Verständigkeit, den praktischen arbeitsamen Sinn, die verschlossene mißtrauische Abneigung gegen Fremdes, das geringe Verständniß der ideellen Seiten des Lebens; anderntheils aber entdeckt man doch wieder unter den verschiedenen Farbentönen, welche die moralische Physiognomie der Bewohner der einzelnen Schweizercantone, so sehr diese im Grunde den Nationalcharakter zeigen, unterscheiden, den Züricher überall leicht. Mehr als irgendwo hat sich bei ihm von je ein entschiedener Geschmack für die Wissenschaften, wenn auch vorzugsweise nur für die realistischen, entwickelt; – er darf ohne Ueberhebung an eine lange Reihe trefflicher Namen erinnern, die ein verdienter Ruf in den Jahrbüchern des kleinen Staates ausgezeichnet hat, und noch heute ist es Zürich, dessen wissenschaftliches Streben, dessen Schulwesen, dessen Bildungstrieb unbedingt die erste Stelle einnimmt. Für die besondere Liebe zur Arbeit spricht der Fleiß, der einem nicht gerade überall fruchtbaren Boden die möglichsten Früchte abringt, und eine blühende Industrie; für die kluge Benutzung aller Vortheile ein bedeutender solider Handel. Man rühmt ferner dem Züricher eine große Schnelligkeit in den Entwürfen, verbunden mit der zähesten Ausdauer in der Ausführung nach, und sprüchwörtlich ist seine „Weisheit.“ Bedeutende Männer im Rathe und zur That haben ihm nie gefehlt. Dies sind gar achtbare Dinge, worüber man wohl auch vergessen kann, daß der allgemeine Nationalzug einer bedächtigen Sparsamkeit zuweilen ein wenig liebenswürdiges Gepräge zeigt und uns gemüthlicheren Deutschen die Traulichkeit vor der schweizerischen Ausschließlichkeit und Abgeschlossenheit fast verloren geht.

Eines nur haben wir Zürich und Allen, die über dasselbe schreiben (es sagt es Einer dem Andern nach), nie recht verzeihen können: die Koketterie mit der Bezeichnung als „schweizerisches Athen.“ Wozu sich mit fremden Federn schmücken wollen, wenn man eigene glänzende genug hat? Und fremde Federn sind wahrlich dieses „Athenenthum!“ Verstände man darunter noch einen gewissen republikanischen Geist, der sich auf verschiedenen Gebieten auch in kleinem Raume vielseitig und rühmlich entwickelt hat, und mit den Ueberlieferungen einer reichen, tüchtigen Vergangenheit einer nicht minder wackern Zukunft entgegenstrebt, so würden wir uns noch mit jenem vielmißbrauchten Beiworte versöhnen mögen; aber in dieser Bedeutung faßt man es ja nicht, und in der gewöhnlichen und am Ende allein gerechtfertigten paßt es nicht. Es fehlt der Vergleichspunkt. Jene duftiger Blüthe griechischen Geistes, griechischer Kunst und Poesie, wie sie vor Allem in Athen sich entfaltet, erlaubt uns nicht, hier ihr Spiegelbild zu erblicken; Kunst und Poesie haben (mit geringen Ausnahmen) in der Schweiz überhaupt nie einen rechten Boden gefunden, die Philosophie keine besondere Pflege; und die attische Urbanität, die Aesthetik des griechischen Lebensgenusses, von einem heitern wolkenlosen Himmel begünstigt, ist kein Charakterzug des Zürichers. Dies soll und kann kein Vorwurf sein; nicht Alle können und sind Alles; aber es soll einen Irrthum zerstören und eine immer wieder nachgeplauderte Phrase, in der wir nicht einmal eine Schmeichelei erblicken können, auf ihren rechten Werth zurückführen. Zürich hat des eigenen Ruhmes genug, und wäre es auch nur der Eine (wie er es doch nicht ist), die Wiege einer Reformation gewesen zu sein, die in Zwingli ein so ernstes, hochsinniges, praktisches, Staat und Kirche gleich umfassendes, und doch so ächt und mildchristliches Haupt gefunden, einen Mann, zu dessen ganzem Bilde in der gährenden Zeit der Wiedergeburt auch sein heldenmütiges Ende an dem Unglückstage von Cappel gehört.

Die Umgebung Zürichs trägt zwei große Gräber: das eine ein einfacher Stein an jener Stätte, wo Zwingli gefallen, das andere versunken, verschwunden, nicht mehr gekannt. Beide gehören mächtigen Zeugen des freien lebendigen Menschengeistes an, die im Leben, wenn auch auf verschiedener Bahn, gleichem Ziele nachgerungen, und die das Schicksal in räumlich geringer Entfernung in dieselbe freie Erde betten sollte. Auch darin möchten wir eine Aehnlichkeit finden, daß von dem irdischen Theile des großen Reformators gerade nur noch die Stelle seines Todes redet – die Leiche verbrannte die thörichte Rache der Feinde, die Asche ist in die Winde zerstreut – ein fruchtbarer Same! – von dem zweiten Ritter des gewaltigen Geisteskampfes kennt man selbst die Stätte der Asche nicht mehr. In friedlich anmuthiger, fruchtbarer Gegend, auf die des Rigi schöne Pyramide herüberschaut, in der Nähe von Cappel trägt zu Zwingli’s Gedächtniß ein rohgelassener Findlingsblock auf eiserner Tafel folgende Inschrift: „Den Leib können sie tödten, nicht aber die Seele. So sprach an dieser Stätte Ulrich Zwingli, für Wahrheit und der christlichen Kirche Freiheit den Heldentod sterbend, den 11. October 1531.“

Auf den klaren Wogen des Zürichsees, schon auf schwyzer Gebiet, im Angesicht der glarner und appenzeller Alpen, schwimmt ein kleines üppig grünendes Eiland, die Ufnau. Hier fand Hutten die letzte Ruhe. Vom Sturm des Lebens und der Leidenschaft, der edelsten für stolze volle Menschenfreiheit, matt gehetzt, müde der Welt und ihrer Dornen, hatte der merkwürdige Mann, der Ritter des Liedes und Schwertes, von dem ein lateinisches Pamphlet einen Fürsten von Land und Leuten getrieben; der rüstigste Waffenträger Luther’s und doch eigenen selbstständigsten Geistes voll, dessen: „Ich hab’s gewagt!“ der die Banden einer barbarischen Finsterniß sprengende Ruf nach der Morgenröthe eines helleren Tages gewesen – den irrenden Fuß auf die Insel gesetzt. Erasmus in Basel hatte nicht gewagt, den Verfolgten und Verbannten aufzunehmen. Zwingli schickte den zum Tode Erkrankten in die treue Pflege seines Freundes, des Pfarrers der Ufnau und Conventualen des Klosters Einsiedeln. Hier endete Hutten, wenigstens in den letzten Tagen in ungestörter Einsamkeit, sein unruhiges Leben. Ob der kleine jetzt verödete Friedhof oder eine nun verfallene Kapelle sein Grab enthalten? fast Jeder erzählt es anders. Der Grabstein, den Freunde ihm mit der Aufschrift: „Hic eques auratus jacet, oratorque disertus, Huttenus vates, carmine et ense potens,“ einst gesetzt, ist längst verschwunden – der fromme Eifer der Mönche von Einsiedeln mag die Spur von dem Denkmal eines Ketzers auf ihrem Grund und Boden nicht gewollt haben. Heute ist die ganze Insel mit ihren zerfallenden Menschenwerken, aber im immer wiederkehrenden Schmucke der Natur das Grab eines der größten und edelsten Geister.

Der Canton Zürich, in geistiger und ökonomischer Beziehung unbestritten die erste Stelle in der Eidgenossenschaft behauptend, gehört zur sogenannten ebenen Schweiz. Man hat dabei den mächtigeren Gegensatz der Alpenregion im Sinne, und nennt so seine immerhin stattlichen Höhen, die an einigen Punkten unsern Brocken überragen, nur Hügel. Entbehrt er der großartigen und romantischen Schönheiten des höheren Gebirges, so würde man doch irren, wollte man ihm einen ungemein reichen Wechsel landschaftlicher Reize absprechen. Nur ist ihr Charakter mehr die bescheidene Anmuth als die überwältigende Größe. Aber man versuche es nur: man verlasse die gerade Linie der Heerstraße, den plattgetretenen Weg der Touristik, dringe in so manches nebenliegende Thal – und das Auge wird sich an der bunten Fülle einer reizenden Natur und den überallhin dringenden Spuren emsiger Menschenhand erfreuen: Und dann – wo Ihr einen erhabenern Standpunkt ersteigt, als Hintergrund eines blühenden wohlbebauten Gartens, [437] welche Aussicht auf die herüberwinkende Welt des Hochgebirgs, auf seine beschneiten Riesenhäupter, die stolzen Wächter eines gegenwärtigen Genusses und einer geahnten, geheimnißvollen Herrlichkeit! Gerade dieses verleiht Zürich einen so eigenthümlichen Reiz; wir bewegen uns mitten in einer gefälligen Natur, in dem regsten Verkehre einer thätigen, dichtgedrängten Bevölkerung; wir erfreuen uns der zahlreichen freundlichen Ortschaften, die uns von den Ufern des Sees, von einem grünen Hügel, aus der Blätterpracht fruchtbarer Bäume entgegenschimmern; und wir wissen dabei doch immer, daß nur wenige Stunden hinreichen, die ganze Scenerie zu verändern und uns aus dem anmuthigen Hügellande in die wilde und erhabene Majestät himmelanstrebender gewaltiger Massen, an den Fuß mächtiger Gletscher oder vor das Rauschen schäumender Wasserfälle zu versetzen. Und doch sollte man es bei einiger Muße nie versäumen, auch bei der bescheideneren Schönheit dieser Gegenden zu verweilen. Auf diesem Boden begegnet uns manche Erinnerung, mancher historische Keim, den wir weit von da sich mächtig haben entfalten sehen. Kein geringes Stück deutscher Geschichte ward hier in scheinbar enger Schule eingeleitet.

Wandert hinaus, wo nicht weit von dem wohlgebauten, industriereichen Winterthur die wilde Töß rauschend im engen Thale hinbraust: aus dem Wälderdunkel auf steilem Felsen erhebt sich die Veste Kyburg, das älteste Grafenschloß Helvetiens. Vom Urahn der Welfen leitete sich sein Herrengeschlecht ab, und des letzten Kyburgers Erbe ging in eine kräftige Hand über, die sich einst das heillos zerrüttete kaiserlose Deutschland holte, um wieder Friede und Ordnung in’s Reich zu bringen. Was dieser Rudolph von Habsburg, als er zum Reiche gelangt, vom mächtigsten Throne der Welt aus geübt, hat er als Stadthauptmann der Zürcher im engen Kreise gleichsam vorbereitet. Wir treffen hier überall auf seine Spuren, wie er der aufstrebenden, wohlhabenden Handelsstadt mit starkem Arme ebenso wie mit nie verlegener Schlauheit die raub- und habsüchtigen Nachbarn vom Leibe zu halten wußte. Er demüthigte den stolzen Freiherrn von Regensberg und zerstörte dessen Schlösser, die wie Blutigel der Stadt im Nacken saßen zu immerwährendem Hohne und Schaden; und so gründlich war die Arbeit, daß von den meisten dieser Burgen kaum mehr ein spärlicher Mauerrest übrig geblieben ist. Die alten Chroniken wissen eben so viel von Rudolph’s Muth, wie von seiner Gewandtheit in Kriegslisten zu erzählen. So brach er des Regensberger’s Burg auf dem Uetli, wo heute ein im schweizerischen Holzstyl erbautes artiges Berghaus die Freunde einer entzückenden Aussicht in seine gastlichen Räume sammelt, daß er mit zwölf weißen Pferden, wie sie gleiche in der Veste hatten, den nichts ahnenden Thorwart täuschte und auf diese Weise in die Burg gelangte. Seltsam genug wiederholt sich die ähnliche List noch mehrmals in dem Kriegsleben des Grafen von Habsburg.

Ein dunkleres Blatt in der Geschichte ruft unweit von Kyburg Töß mit seinen bald verschwundenen Klosterresten in’s Gedächtnis. Hier weilte abwechselnd mit Königsfelden jene Agnes von Ungarn, die ihrem ermordeten Vater, Albert von Oesterreich, ein so furchtbar entsetzliches Grabmonument errichtet hat. Von der engen Klosterzelle in Töß aus setzte der rachgierige Schmerz zweier Fürstinnen, der Wittwe und der Tochter, ein Strafgericht in’s Werk, das in grausamer Verfolgung Unschuldige mit Strafbaren vermischte, ja sogar die wirklich Schuldigen persönlich gar nicht erreichte; hier starb auch Agnesens Stieftochter, Elisabeth von Ungarn, im Geruche der Heiligkeit.

Einer andern Heiligen in Liebe und Treue möge als mildernder Gegensatz bei diesem blutigen Blatte gedacht werden. Der Freiherr von Wart war ruhiger Zuschauer bei dem Morde des Kaisers gewesen. Von seinem Vetter Thibald, Grafen von Blamont, um Geld an seine Verfolger ausgeliefert, ward er verurtheilt, auf dem Rade zu sterben. Umsonst bittet seine junge Gemahlin, aus dem Hause Balm (alles Namen, die heute noch in der Gegend erhalten sind) um Gnade für ihn; Schönheit und Thränen rührten die Richter nicht. Auf das Rad geflochten, giebt er erst nach drei Tagen den Geist auf. Wenn die Nacht herabgesunken, kommt seine Gemahlin, steht ihm bei, betet mit ihm über der ungeheuren Marter. Des Gatten Beschwörungen können sie nicht entfernen, nur der Tod, zu dem sie ihm nach so langer schrecklicher Pein endlich die Augen schließen kann. Vom Fuß des Schaffots begiebt sie sich nach Basel, wo sie, „geliebt und bewundert von aller Ehrbarkeit,“ wie die alte Chronik Albert’s von Straßburg sagt, noch einige Jahre lebte und dann, von Gram und schrecklicher Erinnerung aufgezehrt, dahinstarb. Damals sanken Hunderte der helvetischen Geschlechter vor einer kaum zu sättigenden Rache. Ihre Güter gewährten zum Theil die Dotation des zur Sühne und Buße gestifteten Königsfelden und vermehrten die Klosterschätze in Töß. Man darf aber wohl behaupten, daß mit dieser Vernichtung des helvetischen Adels sich das Haus Oesterreich in der Schweiz einen mächtigern Schlag versetzt habe, als Morgarten und Sempach getan.

Doch zurück in die heitere Gegenwart!

Wer aus dem Aargau in den Kanton Zürich tritt, findet bald einen auffallenden Unterschied. Der Menschenschlag scheint ein ganz anderer zu sein. Dort begegnete uns wohl ein frohes Lied, ein lächelndes Gesicht der im Felde Arbeitenden; hier geschieht Alles stiller, in sich gekehrter; auch die dunkle Tracht der Bauernweiber und Mädchen macht einen fast traurigen Eindruck. Der Schlag ist nicht schön, nicht lebhaft, aber im Allgemeinen doch kräftig, gelenk, zähe, wo nicht der Einfluß des Fabriklebens, freilich hier unter verhältnißmäßig günstigeren Bedingungen, uns auch eine schlaffere, schmächtigere, kränkelndere Generation erblicken läßt. Was den schweizerischen Fabrikarbeiter überhaupt von dem Fabrikarbeiter anderer Länder wesentlich unterscheidet, ist die Erleichterung häuslicher Einrichtungen, ein mehr fester und bleibender Wohnsitz, was ein wanderndes Proletariat ausschließt. In der Regel sucht er sich die Anschaffung der nothwendigsten Lebensbedürfnisse noch durch eigenen Anbau zu erleichtern, indem er sich bemüht, ein kleineres oder größeres Stück Land entweder als Eigenthum zu erwerben oder als Lehen in Pacht zu nehmen. Anderntheils aber überliefert der Umstand größerer Seßhaftigkeit den armen mittellosen Arbeiter auch mehr der Willkür seines Arbeitsherrn; und hiergegen schützt das Gefühl bürgerlicher Gleichheit allerdings nur höchst selten. Der Eigennutz hat überall dieselben Symptome.

Wenden wir uns wieder zur ländlichen Hauptbevölkerung des Cantons, so finden wir, daß eine durchgehende Nationaltracht, namentlich bei den Männern, immer mehr verschwindet. Sie scheint schon früher in den verschiedenen Gegenden vielfach abweichend gewesen zu sein. Der Zwillichrock, bis an die Knie zugeknöpft, das scharlachne Bruststück mit langen Taschen, die weiten schlotterigen Beinkleider haben meist schon jener halben Annäherung an eine mehr städtische Tracht Platz gemacht, die unbeschreibbar ist. Nur bei älteren Männern sieht man zuweilen noch ein und das andere jener Stücke. Steter hat sich die weibliche Tracht erhalten, wenigstens in den untern Gegenden und im Bezirke Regensberg. Hier ist sie günstiger für das schöne Geschlecht, das uns sonst freilich selten den frischen Reiz der berner, freiburger und solothurner Bäuerinnen erkennen läßt. Die Tracht besteht in einem rothen, wollenen Leib- oder Unterrock, einem schwarzen Rocke (Jüppe), ohne Aermel, der untere Theil enge gefaltet, etwas kürzer als der Leibrock, von Wolle oder Zwillich; einem roth scharlachnen Mieder (Brustlatz), über das der obere Theil der Jüppe mit Bändern befestigt ist; einem Halskragen (Göller), weiß oder gefärbt, und blauen oder schwarzen Schürzen. Als Kopfbedeckung tragen die Weiber Hauben von halb- oder ganzseidenem brochirten Zeuge, mit breiten schwarzen Spitzen eingefaßt (Hütli). Die Mädchen tragen die Haare in zwei herabhängenden, geflochtenen Zöpfen, die Weiber wickeln die Zöpfe unter die Haube; doch winden auch die „Maitli“ sie häufig um den Kopf. Im alten Amte Knonau pflegten die jungen Mädchen sonst in die langen Haarzöpfe rothwollene Schnüre einzuflechten, was freundlich stehen mußte. Sie tragen daselbst ein ziemlich breites Sammetband mit Spitzen, eine kurze, dunkelblaue Jüppe mit engen Falten und einem hellblauen, seidenen Bande besetzt; ein die Gestalt ziemlich gut bezeichnendes Leibchen, worauf eine von farbigen Sammetbändern gebildete Fünf (V) sich befindet, ein rothes Brusttuch, ein hellfarbiges Göller, einen sammetenen Gürtel mit silberner Schnalle, gestreifte Schürze, eine Jacke von schwarzem Wollenzeuge, welche die V nicht ganz deckt, weiße baumwollene, früher rothwollene Strümpfe. Die Weiber tragen überdies eine leinene weiße Haube, die enge anschließt, auf beiden Seiten Glasperlen und glatte, knapp anliegende Spitzen hat.

Unsere Illustration giebt den Lesern einen ländlichen Hochzeitszug aus dem regensberger Bezirk: im Hintergrunde ist Regensberg selbst zu erblicken, das reizend auf einem Vorhügel des Jurazweigs der Lägern liegt. In den meisten übrigen Gegenden nähert sich der Schnitt der Kleidung wie bei den Männern der städtischen mehr oder weniger. Zürich hat manche seiner alten Gewohnheiten [438] und Gebräuche treuer beibehalten, als die Landschaft ihre nationale Tracht. Einer der freundlichsten Gebräuche ist ohne Zweifel der folgende: Wird ein Kind geboren, so geht eine der Mägde des Hauses im Sonntagsstaate mit einem mächtigen Blumenstrauße oder Kranze (sonst auch einen an die eigene Brust geheftet) zu den Verwandten der Familie, den jungen Ankömmling zu verkünden; Festschmuck und Blumen scheinen sagen zu sollen: „Eine neue Blüthe ist auf Eurem Stammbaum aufgesprossen; bittet Gott, daß sie zur guten Frucht werde!“

Auch der Brauch der Hochzeitsreisen scheint seit Langem in Zürich zu Hause zu sein. Statt die jungen Eheleute jene ersten Tage, die der Liebe so theuer sind und die in jene unrecht genug bei uns „Flitterwochen“ genannte Zeit fallen, bei geräuschvollen Mahlzeiten, langweiligen Besuchen, oder in Gesellschaft, während sie lieber allein wären, verlieren zu machen, läßt man sie eine mehrtägige Reise machen, und giebt ihnen so den ersten Beweis von Liebe und Achtung, daß man sie allein und sich selbst überläßt.

Eine sehr alte Sitte ist auch die Feier des Frühlingseintritts, bekannter als „Sechseläuten.“ Um die Zeit des Frühlingsäquinoctiums werden auf allen Zünften, die indeß jetzt ihre frühere politische Geltung verloren haben, Mahlzeiten gehalten. Sonst richtete man es wohl ein, daß man sich noch versammelt fand, wenn die Abendglocke das Ende des letzten Wintertages ankündigte; dann erhoben sich das Haupt der Zunft und alle Gäste von ihren Sitzen, und Jener hielt eine den Umständen angemessene Rede, eine Einladung an die Mitgesellschafter, die Rückkehr der schönen Jahreszeit zum Nutzen und Vergnügen wohl anzuwenden. Den Vormittag benutzen die Kinder zu allerlei Verkleidungen: es ist ein Kinderfasching; bei einbrechendem Abend aber zünden die Knaben in und vor der Stadt an unschädlichen Orten große Reiserbündel oder kleine Holzstöße an, und springen um diese Feuer her; so feiern auch sie ihrerseits unter freudigem Jubel die Ankunft des Frühlings. Am Auffahrtstage führt ein seit undenklichen Zeiten üblicher Gebrauch Knaben und Mädchen auf den Gipfel des Uetliberges, um sich da auf einem der schönsten Punkte in frohen Liedern einer unschuldigen und lebhaften Freude zu überlassen. Klopstock gedenkt in seiner Ode an den Zürchersee des Uetli, auf dem er im Kreise seiner Freunde einige heitere Stunden zugebracht hatte. – Doch nur einzelne flüchtige Züge aus einem reichen Gemälde können wir geben, ein paar Striche zu einem Bilde, das mit der gewissenhaften Sorgfalt des Künstlers auszuführen, uns weit über die Gränze unserer Absicht führen würde.