Kreuzeswissenschaft/Die Botschaft des Kreuzes

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§ 5. DIE BOTSCHAFT DES KREUZES

Es ist noch ein drittes Zeugnis dafür vorhanden, daß Johannes von Kreuzbildern ungewöhnliche Einwirkungen empfing[1]. Und wahrscheinlich ist es noch viel öfter geschehen, als es uns bezeugt ist. Wir fassen alle diese Einwirkungen als Botschaften auf, die zum Tragen des Kreuzes ermunterten und darauf vorbereiteten. Doch auch [21] alles das, was wir sinnbildlich unter dem Namen Kreuz zusammenfassen, alle Lasten und Leiden des Lebens, müssen mit zur Kreuzesbotschaft gerechnet werden, weil daraus die tiefste Kreuzeswissenschaft zu gewinnen ist. Der Heilige hat Leid und Neid schon von den ersten Kinderjahren an kennen gelernt. Der frühe Tod des Vaters, der Kampf der Mutter um das tägliche Brot für ihre Kinder, seine eigenen immer wieder scheiternden Bemühungen, etwas zum Unterhalt der Familie beizutragen – all das muß in dem zarten Kinderherzen tiefen Eindruck gemacht haben, aber es ist uns nichts darüber aufgezeichnet. Ebenso wenig wissen wir über die seelische Auswirkung der Krisen in den ersten Ordensjahren.

Über die spätere Zeit liegen Berichte vor, die etwas mehr Einblick in das innere Leben gewähren. Eines Abends kam Johannes in Avila zur Zeit des Angelusläutens nach dem Beichthören aus der Klosterkirche und betrat den kleinen Pfad nach dem Häuschen, das er mit seinem Gefährten P. Germanus bewohnte. Da stürzte sich plötzlich ein Mann auf ihn und bearbeitete ihn so mit Stockschlägen, daß er zu Boden stürzte. (Das war die Rache eines Liebhabers, dem er seine Beute entrissen hatte.)

Als Johannes dieses Abenteuer erzählte, fügte er hinzu, er habe in seinem ganzen Leben noch nicht so süßen Trost empfangen: er war behandelt worden wie der Heiland selbst und hatte die Süßigkeit des Kreuzes erfahren.

Überreiche Gelegenheit dazu bot die Zeit der Gefangenschaft in Toledo. Der Heilige hatte die Reform in Durvelo begonnen, war mit der heranwachsenden klösterlichen Gemeinde nach Mancera übergesiedelt, hatte dann im Noviziat zu Pastrana gewirkt und schießlich das erste Ordenskolleg zu Alcala geleitet. 1572 berief ihn die hl. Mutter nach Avila, um ihr bei einer schweren Aufgabe beizustehen. Sie hatte den Auftrag erhalten, als Priorin ins Kloster der Menschwerdung zurückzukehren, aus dem sie hervorgegangen war; sie sollte unter Beibehaltung der gemilderten Regel die Mißstände, die dort eingerissen waren, beseitigen und die große Kommunität zu einem wahrhaft geistlichen Leben führen. Dazu schien es ihr unerläßlich, für gute Beichtväter zu sorgen. Sie konnte keinen geeigneteren finden als Johannes, dessen große Erfahrung im inneren Leben sie kannte. Von 1572-1577 wirkte er hier mit reichstem Ertrag für die Seelen. Während er so in aller Stille tätig war, hatte das Reformwerk draußen große Fortschritte gemacht. Die hl. Mutter reiste von einer Klosterstiftung zur anderen. Auch neue Männerklöster der Reform waren entstanden. Glänzende Persönlichkeiten waren in den Orden eingetreten und hatten die äußere Leitung [22] übernommen, vor allem P. Hieronymus Gratian und P. Ambrosius Marianus. Nicht ohne ihre Schuld fühlten sich die Beschuhten, die Väter der gemilderten Regel, beeinträchtigt und organisierten einen heftigen Abwehrkampf. Warum die Verfolgung sich auch gegen Johannes richtete, dessen Wirksamkeit eine rein geistliche war, ja gegen ihn mit besonderer Heftigkeit, das ist hier nicht zu untersuchen. In der Nacht von 3./4. Dezember 1577 drangen einige Beschuhte mit ihren Helfershelfern in die Wohnung der beiden Klosterbeichtväter ein und führten sie gefangen fort. Seitdem war Johannes verschollen. Die hl. Mutter erfuhr wohl, daß der Prior Maldonado ihn fortgeführt hatte. Aber wohin er gekommen war, das wurde erst 9 Monate später, nach seiner Befreiung bekannt. Mit verbundenen Augen hatte man ihn durch eine einsame Vorstadt in das Kloster U. L. Frau zu Toledo gebracht, das bedeutendste Karmelitenkloster der gemilderten Regel in Kastilien. Er wurde verhört, und da er sich weigerte, die Reform preiszugeben, als Rebell behandelt. Sein Gefängnis war ein enger Raum, etwa 10 Fuß lang und 6 Fuß breit; „in dem er, so klein er auch an Gestalt ist, kaum aufrecht stehen konnte“, schrieb Teresia später[2]. Diese Zelle hatte weder Fenster noch Luftöffnung außer eine Spalte hoch oben an der Wand. Der Gefangene mußte, „um das Brevier beten zu können, auf das Armen-Sünder-Stühlchen steigen und warten, bis der Sonnenstrahl auf die Wand zurückfiel“[3]. Die Tür war mit einem Vorlegeschloß gesichert. Als im März 1578 die Nachricht kam, daß P. Germanus entflohen sei, wurde auch noch der Saal vor der Gefangenenzelle abgeschlossen. Anfangs jeden Abend, später dreimal in der Woche, schließlich nur noch manchmal am Freitag wurde der Gefangene ins Refektorium geführt, um am Boden sitzend seine Mahlzeit – Brot und Wasser – zu nehmen. Im Refektorium erhielt er auch die Disziplin. Er kniete, bis zum Gürtel entblößt, mit geneigtem Haupt; alle zogen an ihm vorbei und schlugen ihn mit der Rute. Und da er alles „mit Geduld und Liebe“ ertrug, nannte man ihn „Duckmäuser“. Dabei erwies er sich „unbeweglich wie ein Stein“, wenn man ihn zum Abfall von der Reform aufforderte, ihm als Lockspeise ein Priorat anbot. Dann öffnete er die schweigsamen Lippen und versicherte, daß er nicht zurückkehren werde, „koste es ihn auch das Leben“. Die junge Novizen, die Zeugen der Schmähungen und Mißhandlungen waren, weinten vor Mitleid und sagten [23] angesichts seiner schweigenden Geduld: „Das ist ein Heiliger“[4]. Seine Tunik wurde bei den Geißelungen mit Blut getränkt – er mußte sie so wieder anziehen und sie während der 9 Monate seiner Haft behalten. Man kann sich denken, was er in den glühend heißen Sommermonaten davon zu leiden hatte. Das Essen, das man ihm brachte, verursachte ihm solche Beschwerden, daß er meinte, man wolle ihn dadurch töten. Er machte bei jedem Bissen einen Liebesakt, um der Versuchung zur Verleumdung zu entgehen.

Wir wissen, wie eng er mit den nächsten Angehörigen verbunden war. Mit ganzem Herzen war er auch dem Reformwerk ergeben, der hl. Mutter und den andern, die in dieser großen Aufgabe mit ihm eins waren, die ihr Leben gleich ihm – zum größten Teil unter seiner persönlichen Leitung – dem Ideal des ursprünglichen Karmels geweiht hatten. Er hat später, als die Pflicht ihn jahrelang in Andalusien festhielt, seinem Heimweh nach Kastilien und dem vertrauten Kreis offenen Ausdruck gegeben: „Seitdem mich jener Walfisch verschlungen und an diesen fernen Hafen ausgespieen hat, wurde mir nie mehr die Freude zuteil, Sie zu sehen, noch auch die Heiligen, die dort leben“[5]. Nun war er so von ihnen allen getrennt, daß er keine Nachricht geben konnte all die Monate lang. „Bisweilen betrübte ich mich bei dem Gedanken, man würde von mir sagen, ich hätte dem Begonnenen den Rücken gekehrt, und ich empfand den Schmerz der hl. Mutter“[6].

Doch es gab noch viel schmerzlichere Entbehrungen. Am 14. August 1578 kam der Prior Maldonado mit zwei Ordensleuten in seinen Kerker. Der Gefangene war so schwach, daß er sich kaum rühren konnte. Er sah nicht auf, in der Meinung, sein Kerkermeister sei eingetreten. Der Prior stieß ihn mit dem Fuß an und fragte ihn, warum er in seiner Gegenwart nicht aufstehe. Als er um Verzeihung bat und versicherte, er habe nicht gewußt, wer da war, fragte P. Maldonado: „Woran dachten Sie, daß Sie so versunken waren?“ „Ich dachte, daß morgen das Fest U. L. Frau ist und daß es mir ein großer Trost wäre, wenn ich die hl. Messe lesen könnte“[7]. Wie [24] muß er es in den neun langen Monaten entbehrt haben, daß er niemals das hl. Opfer feiern durfte! Das Fronleichnamsfest, an dem er sonst stundenlang in Anbetung vor dem Allerheiligsten kniete, mußte er ohne hl. Messe und Kommunion verbringen.

Wehrlos ausgeliefert sein an die Bosheit erbitterter Feinde, gepeinigt an Leib und Seele, abgeschnitten von allem menschlichen Trost und auch von den Kraftquellen des kirchlich-sakramentalen Lebens – konnte es noch eine härtere Kreuzesschule geben? Und doch war das noch nicht das tiefste Leiden. All das konnte ihn ja nicht von dem dreifaltigen Urquell trennen, dessen er im Glauben gewiß war[8]. Sein Geist war nicht in den Kerker eingeschlossen, er konnte sich zu jenem ewig-fließenden Quell erheben, sich in seine unergründliche Tiefe versenken, in die Flut, die alles Geschaffene erfüllt, auch das eigene Herz. Keine menschliche Macht konnte ihn von seinem Gott trennen – aber Gott selbst konnte sich ihm entziehen. Und diese dunkelste Nacht hat der Gefangene hier im Kerker erfahren.

A donde te escondiste, Wo hast Du Dich verborgen,
Amado, y me de jaste con gemido? Geliebter, der zurückließ mich in Tränen?

Dieser Schmerzensruf der Seele ist im Kerker zu Toledo erklungen[9].

Wir haben kein Zeugnis darüber, wann Johannes zuerst die Süßigkeit der Gottesnähe kennen gelernt hat. Aber alles weist darauf hin, daß das mystische Gebetleben bei ihm sehr früh begonnen haben muß. Um frei zu sein für Gott, hatte er sich von seinen Lieben getrennt, dann die Studienlaufbahn aufgegeben und sein Heimatkloster verlassen. Andere Seelen freizumachen für Gott und auf den Weg der Vereinigung zu führen, das war sein Amt in Avila, dem galt seine ganze Wirksamkeit im Orden. Für dieses Ideal der Reform ertrug er die Leiden der Kerkerhaft. Freudig nahm er alle Kränkungen und Mißhandlungen hin um seines geliebten Herrn willen. Und nun schien das süße Licht im Herzen zu erlöschen – Gott ließ ihn allein. Das war das tiefste Leiden, dem kein irdisches Leid sich vergleichen konnte. Und doch war es Sein Beweis der auserwählenden Liebe. Es schien zum Tode zu führen und war doch der Weg zum Leben.

[25] Kein Menschenherz ist je in eine so dunkle Nacht eingegangen wie der Gottmensch in Gethsemani und auf Golgotha. In das unergründliche Geheimnis der Gottverlassenheit des sterbenden Gottmenschen vermag kein forschender Menschengeist einzudringen. Aber Jesus kann auserwählten Seelen etwas von dieser äußersten Bitterkeit zu kosten geben. Es sind seine treuesten Freunde, denen er es als letzte Probe ihrer Liebe zumutet. Wenn sie nicht davor zurückschrecken, sondern sich willig hineinziehen lassen in die Dunkle Nacht, dann wird sie ihnen zum Führer:

O Nacht, die Führer war?
O Nacht, viel liebenswerter als die Morgenröte!
O Nacht, die du verbunden
Die Liebste dem Geliebten,
In den Geliebten die Geliebte umgewandelt![10]

Das ist die große Kreuzeserfahrung von Toledo: äußerste Verlassenheit und eben in dieser Verlassenheit die Vereinigung mit dem Gekreuzigten. So ist es vielleicht zu verstehen, daß die Aussagen über die Zeit seiner Gefangenschaft widersprechend klingen[11]: wenn berichtet wird, er habe selten oder nie Tröstungen empfunden, Leib und Seele hätten gelitten; und auf der andern Seite: eine einzige der Gnaden, die ihm Gott dort erwies, sei durch viele Kerkerjahre nicht zu bezahlen. Es wird später ausführlich darzustellen sein, wie die Seele gerade durch die Erfahrung der eigenen Nichtigkeit und Ohnmacht in der Dunklen Nacht zu wahrer Selbsterkenntnis und zur Erleuchtung über Gottes unermeßliche Größe und Heiligkeit kommt, wie sie dadurch geläutert, mit Tugenden geschmückt und für die Vereinigung zubereitet wird. Das sind gewiß kostbare Gnaden, die durch nichts zu teuer erkauft werden können, und wir würden es schon um ihretwillen verstehen, daß Johannes nach seiner Flucht aus dem Kerker bei den Karmelitinnen von Toledo von seinen Peinigern wie von großen Wohltätern sprach. Wenn er aber bei dieser Gelegenheit versicherte, er habe nie eine solche Fülle von übernatürlichem Licht und Trost genossen wie in der Gefangenschaft, so müssen wir doch annehmen, daß er hier über die Leidensgnaden hinausgelangt ist. Auch die Strophen der Dunklen Nacht und des Geistlichen Gesanges, die im Kerker entstanden sind, legen Zeugnis ab von beseligender Vereinigung. Kreuz und Nacht sind der Weg zum himmlischen Licht: das ist die frohe Botschaft vom Kreuz.



  1. Vgl. P. Bruno, St Jean, S. 329.
  2. 230. Brief vom August 1578 an P. Hieronymus Gratian, Ausgabe d. Schriften, Bd. V², Regensburg 1914, S. 294.
  3. Hieronymus vom hl. Joseph, Historia del V. P. Juan de la Cruz, Madrid 1641, lib.III cap.VII.
  4. Vgl. die Quellenangaben bei P. Bruno, St Jean, S. 407 ff.
  5. Brief an Katharina von Jesus aus Baëza, vom 6. VII. 1581, E. Cr. III 79. Die hl. Mutter verwandte sich auch für ihn bei P. Gratian um seine Rückberufung nach Kastilien zu bewirken (362. Brief aus Palencia, vom 23. oder 24. März 1581 an P. Hieronymus Gracian. In der neuen deutschen Ausgabe der Schriften, Bd. IV, München 1939, S. 374).
  6. So vertraute er später der ehrw. Anna vom hl. Albertus an. (P. Bruno, St Jean, S. 174)
  7. Es wurde ihm schroff abgeschlagen, aber U. L. Frau kam ihm unmittelbar danach persönlich zu Hilfe. (Vgl. a. a. O. S. 183 ff.)
  8. Vgl. das Gedicht Wohl kenn’ den Urquell ich .... (Que bien se yo la fonte ....), E. Cr. III 172 f. P. Gerardo (a. a. O. S. 142) nimmt an, daß dieses Gedicht – mit Ausnahme einiger Strophen, die später hinzugefügt wurden – im Kerker entstanden ist.
  9. Vgl. die Einleitung zum Geistlichen Gesang (Cantico Espiritual) in E. Cr. II 137 ff., die Strophen des Gesanges ib. S. 161 ff. u. III 158 ff.; in diesem Buch Teil II, §3, 2a.
  10. Gesang von der Dunklen Nacht (E. Cr. III 157 f.), Str. 5.
  11. Vgl. P. Bruno, St Jean, S. 179.
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