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Die Botschaft des Kreuzes

Kein Menschenherz ist je in eine so dunkle Nacht eingegangen wie der Gottmensch in Gethsemani und auf Golgotha. In das unergründliche Geheimnis der Gottverlassenheit des sterbenden Gottmenschen vermag kein forschender Menschengeist einzudringen. Aber Jesus kann auserwählten Seelen etwas von dieser äußersten Bitterkeit zu kosten geben. Es sind seine treuesten Freunde, denen er es als letzte Probe ihrer Liebe zumutet. Wenn sie nicht davor zurückschrecken, sondern sich willig hineinziehen lassen in die Dunkle Nacht, dann wird sie ihnen zum Führer:

O Nacht, die Führer war?
O Nacht, viel liebenswerter als die Morgenröte!
O Nacht, die du verbunden
Die Liebste dem Geliebten,
In den Geliebten die Geliebte umgewandelt![1]

Das ist die große Kreuzeserfahrung von Toledo: äußerste Verlassenheit und eben in dieser Verlassenheit die Vereinigung mit dem Gekreuzigten. So ist es vielleicht zu verstehen, daß die Aussagen über die Zeit seiner Gefangenschaft widersprechend klingen[2]: wenn berichtet wird, er habe selten oder nie Tröstungen empfunden, Leib und Seele hätten gelitten; und auf der andern Seite: eine einzige der Gnaden, die ihm Gott dort erwies, sei durch viele Kerkerjahre nicht zu bezahlen. Es wird später ausführlich darzustellen sein, wie die Seele gerade durch die Erfahrung der eigenen Nichtigkeit und Ohnmacht in der Dunklen Nacht zu wahrer Selbsterkenntnis und zur Erleuchtung über Gottes unermeßliche Größe und Heiligkeit kommt, wie sie dadurch geläutert, mit Tugenden geschmückt und für die Vereinigung zubereitet wird. Das sind gewiß kostbare Gnaden, die durch nichts zu teuer erkauft werden können, und wir würden es schon um ihretwillen verstehen, daß Johannes nach seiner Flucht aus dem Kerker bei den Karmelitinnen von Toledo von seinen Peinigern wie von großen Wohltätern sprach. Wenn er aber bei dieser Gelegenheit versicherte, er habe nie eine solche Fülle von übernatürlichem Licht und Trost genossen wie in der Gefangenschaft, so müssen wir doch annehmen, daß er hier über die Leidensgnaden hinausgelangt ist. Auch die Strophen der Dunklen Nacht und des Geistlichen Gesanges, die im Kerker entstanden sind, legen Zeugnis ab von beseligender Vereinigung. Kreuz und Nacht sind der Weg zum himmlischen Licht: das ist die frohe Botschaft vom Kreuz.



  1. Gesang von der Dunklen Nacht (E. Cr. III 157 f.), Str. 5.
  2. Vgl. P. Bruno, St Jean, S. 179.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/025&oldid=- (Version vom 3.8.2020)