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Kreuzesbotschaft

muß er es in den neun langen Monaten entbehrt haben, daß er niemals das hl. Opfer feiern durfte! Das Fronleichnamsfest, an dem er sonst stundenlang in Anbetung vor dem Allerheiligsten kniete, mußte er ohne hl. Messe und Kommunion verbringen.

Wehrlos ausgeliefert sein an die Bosheit erbitterter Feinde, gepeinigt an Leib und Seele, abgeschnitten von allem menschlichen Trost und auch von den Kraftquellen des kirchlich-sakramentalen Lebens – konnte es noch eine härtere Kreuzesschule geben? Und doch war das noch nicht das tiefste Leiden. All das konnte ihn ja nicht von dem dreifaltigen Urquell trennen, dessen er im Glauben gewiß war[1]. Sein Geist war nicht in den Kerker eingeschlossen, er konnte sich zu jenem ewig-fließenden Quell erheben, sich in seine unergründliche Tiefe versenken, in die Flut, die alles Geschaffene erfüllt, auch das eigene Herz. Keine menschliche Macht konnte ihn von seinem Gott trennen – aber Gott selbst konnte sich ihm entziehen. Und diese dunkelste Nacht hat der Gefangene hier im Kerker erfahren.

A donde te escondiste, Wo hast Du Dich verborgen,
Amado, y me de jaste con gemido? Geliebter, der zurückließ mich in Tränen?

Dieser Schmerzensruf der Seele ist im Kerker zu Toledo erklungen[2].

Wir haben kein Zeugnis darüber, wann Johannes zuerst die Süßigkeit der Gottesnähe kennen gelernt hat. Aber alles weist darauf hin, daß das mystische Gebetleben bei ihm sehr früh begonnen haben muß. Um frei zu sein für Gott, hatte er sich von seinen Lieben getrennt, dann die Studienlaufbahn aufgegeben und sein Heimatkloster verlassen. Andere Seelen freizumachen für Gott und auf den Weg der Vereinigung zu führen, das war sein Amt in Avila, dem galt seine ganze Wirksamkeit im Orden. Für dieses Ideal der Reform ertrug er die Leiden der Kerkerhaft. Freudig nahm er alle Kränkungen und Mißhandlungen hin um seines geliebten Herrn willen. Und nun schien das süße Licht im Herzen zu erlöschen – Gott ließ ihn allein. Das war das tiefste Leiden, dem kein irdisches Leid sich vergleichen konnte. Und doch war es Sein Beweis der auserwählenden Liebe. Es schien zum Tode zu führen und war doch der Weg zum Leben.


  1. Vgl. das Gedicht Wohl kenn’ den Urquell ich .... (Que bien se yo la fonte ....), E. Cr. III 172 f. P. Gerardo (a. a. O. S. 142) nimmt an, daß dieses Gedicht – mit Ausnahme einiger Strophen, die später hinzugefügt wurden – im Kerker entstanden ist.
  2. Vgl. die Einleitung zum Geistlichen Gesang (Cantico Espiritual) in E. Cr. II 137 ff., die Strophen des Gesanges ib. S. 161 ff. u. III 158 ff.; in diesem Buch Teil II, §3, 2a.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/024&oldid=- (Version vom 3.8.2020)