Kleine Landwirthe
Wenn tägliche Beobachtung den Menschen im Ganzen die alte Ahnung bestätigen muß, daß es ihren thierischen Mitgeschöpfen nicht an der Leuchte geistigen Lebens fehlt, so bezieht sich das doch meistens nur auf diejenigen Thiergattungen, welche durch ihre körperliche Größe in die Augen fallen. Je kleiner dagegen ein thierisches Wesen ist, um so mehr pflegt man sich einzubilden, daß auch seine körperliche Organisation sehr einfach, seine Intelligenz sehr gering sein müsse. Der Einfluß dieses Vorurtheils ist bis heut noch ein sehr großer bei der Mehrzahl der Menschen. Der riesige Umfang eines Walfisches oder Reptils aus der geologischen Urzeit erregt die allgemeine Aufmerksamkeit, während eine solche Theilnahme viel schwerer zu erwecken ist, wenn es sich selbst um die wunderbarsten Erscheinungen im Leben einer Mücke oder Ameise handelt. In einem kleinen Artikel über die Sprache der Insecten haben wir kürzlich, angeregt durch Dr. Ludwig Büchner’s hochinteressantes Werk „Aus dem Geistesleben der Thiere“, zunächst einige Hinweisungen gegeben, welche die wunderbare Verstandesfähigkeit dieser winzigen Geschöpfchen nicht mehr bezweifeln lassen. Es ist schade, daß das Interesse für ein so wichtiges Feld der belehrendsten und erhebendsten Beobachtungen in den weitesten Kreisen des Publicums noch viel zu wenig geweckt wurde. Und doch hätte schon die unglaubliche Feinheit der Sinne jener Thierchen, hätten schon ihre ungewöhnlichen Muskel- und Körperkräfte längst zu der Erwägung führen müssen, daß solche besondere Kräfte nur einem Wesen gegeben sein können, das sie vermöge seiner geistigen Beschaffenheit auch zu gebrauchen weiß. Ist doch die Körperkraft mancher Insecten so groß, daß sie die des Menschen und der größeren Thiere verhältnißmäßig um das Zwanzig-, Dreißig-, ja selbst Hundertfache übertrifft.
Bleiben wir zunächst bei den Ameisen stehen, denen die neuere Forschung in Bezug auf die geistige Befähigung den höchsten Rang in der Classe der Insecten oder Kerbthiere einräumt, und die von Dr. August Forel in seinem berühmten Werke über die Ameisen in der Schweiz (1874) unter den übrigen Insecten als dasjenige bezeichnet werden, was der Mensch unter den übrigen Säugethieren sei. Daß große Befähigungen eines Thieres immer auch mit einer besonderen Entwicklung seines Nervensystems und namentlich seines Denkorgans oder Gehirns verbunden sind, versteht sich für den Kenner, d. h. den Anatomen und Physiologen, von selbst. Bei den Ameisen sind die Kopfganglien – welche bei den wirbellosen Thieren die Stelle des Gehirns der Wirbelthiere vertreten – nicht größer als vielleicht das Viertel eines Stecknadelkopfs. „Zieht man das in Betracht,“ sagt Darwin, „so ist das Gehirn einer Ameise das wunderbarste Substanzatom in der Welt und vielleicht noch wunderbarer als das Gehirn des Menschen. Zugleich zeigt uns aber auch diese Thatsache, daß eine außerordentliche Thätigkeit bei einer äußerst kleinen absoluten Masse von Nervensubstanz existiren kann.“
Aber nicht blos durch die Organisation ihres Gehirns und Nervensystems sind die Ameisen – deren es jedoch in Europa über dreißig Gattungen und hundert Arten, auf der ganzen Erde mehr als tausend Arten giebt – zu der wichtigen Rolle befähigt, die sie in der Natur spielen. Eine hervorragende Stellung inmitten der übrigen Thierwelt ist ihnen auch durch die ganze Beschaffenheit ihres ungemein kräftigen und dabei leicht beweglichen Körpers gegeben, namentlich durch den Besitz ausgezeichneter Sinnesorgane und mächtiger Schutz- und Angriffswaffen sowie der geeigneten Instrumente für Bauen, Graben und Reinigen, endlich durch ihren ungestümen und unerschrockenen, dabei aber vorsichtigen und ausdauernden Charakter. Diese Ausrüstungen und Eigenschaften benutzen die Ameisen zur Verfolgung bestimmter Zwecke, welche allerdings schon mannigfach wahrgenommen wurden, wenn auch die zuverlässigeren Beobachtungen heut Wunderbareres gefunden, als die Phantasie erdichten konnte.
So steht es jetzt fest, daß die Ameisen nicht blos ihre besondere Sprache haben, man weiß auch auf das Genaueste, daß sie in einem wohlorganisirten republikanischen Staatswesen leben und sich Wohnungen mit Zimmern, Sälen, Vorzimmern, Zwischenwänden, Säulen und Tragbalken erbauen. Sie haben ferner Soldaten, führen Kriege und liefern sich Schlachten, führen Belagerungen aus, machen Gefangene und Sclaven, treiben Landwirthschaft, halten sich Melkvieh und bewahren die größte Sorgfalt für ihre Nachkommenschaft und die Pflege und Erziehung derselben. Hört nun ein Uneingeweihter das zum ersten Male so obenhin behaupten, so muß es ihm freilich zunächst als durchaus märchenhaft und als eine Häufung von kühnen Deutungen erscheinen. Beruhigt er sich aber nicht bei diesem oberflächlichen Eindruck, fühlt er sich zu jener eingehenden und ruhigen Prüfung angeregt, welche dieser Gegenstand erfordert, so wird er bald überzeugt sein, daß ihm hier ein sicherer Einblick in großartige Thatsachen des Naturlebens [348] geworden, die freilich bisher ihre innersten Geheimnisse meistens nur der unermüdlichen Beobachtung hervorragender Forscher erschlossen haben. Die meisten und hauptsächlichsten dieser wunderbaren Thatsachen können als durchweg erwiesen gelten und nur wenigen fehlt zu ihrer gänzlichen Bestätigung noch der volle Beweis. Um jedoch daraus für die eigene Naturanschauung eine begründete Ueberzeugung zu gewinnen, bedarf es einer Kenntniß und eines Ueberblickes jener ganzen Zusammenhänge, wie sie Dr. Büchner in dem hier mehrfach genannten Werke dargelegt. Nur einige merkwürdige Punkte seien noch hervorgehoben!
Eines der erstaunenswürdigsten Beispiele von sichtlicher Verstandesentwickelung eines Thieres bietet eine große braune Ameise in Mexico, die nicht blos harte Körner einsammelt – was notorisch auch einige europäische Arten thun – sondern diese Körner auch verpflanzt und nach der Reife einerntet, also einen förmlichen und vollständigen Ackerbau betreibt und dabei passende und zeitgemäße Anordnungen für die verschiedenen Jahreszeiten trifft. Ein Doctor Lincecum in Texas und seine Tochter haben, außer anderen Beobachtern, dieses merkwürdige Thier länger als zehn Jahre lang in der Umgebung ihrer Wohnung fortwährend studirt, und kein Geringerer als der berühmte Darwin hat die betreffenden Mittheilungen des Mexicaners für so wichtig gehalten, daß er sie der Linne’schen Gesellschaft in London vorlegte. Dem Berichte zufolge, wohnt die bezeichnete Ameisenart in, wie man es nennen könnte, gepflasterten Städten, und trifft mit geduldigem Fleiße, mit Geschick und landwirthlichem Vorbedachte passende Anordnungen für die verschiedenen Jahreszeiten. Wenn sie für ihren Aufenthalt einen Platz mit gewöhnlichem trockenem Boden ausgewählt hat, so bohrt sie ein Loch, um welches sie den Boden drei bis sechs Zoll erhöht, indem sie einen niedrigen kreisförmigen Wall bildet, welcher vom Centrum sanft abwärts bis zu dem drei bis vier Fuß vom Eingange entfernten äußersten Rande steigt. Ist dagegen die Localität auf niedrigem, flachem und feuchtem Lande, welches überschwemmt werden kann, so erhöht die Ameise den Wall in Gestalt eines ziemlich spitzen Kegels auf fünfzehn bis zwanzig Zoll oder mehr und macht den Eingang an der Spitze. In beiden Fällen reinigt sie dem Grund um den Wall von allen Hindernissen und ebnet und glättet die Oberfläche um drei bis vier Fuß vor dem Thore der Stadt, indem sie dem Platze das Ansehen eines schönen Pflasters giebt, was es auch wirklich ist. Innerhalb dieses gepflasterten Hofes aber wird kein anderes grünes Blatt geduldet als eine einzige Art von korntragendem Grase. Nachdem das Insect dieses Korn ringsum in einem Kreise gepflanzt hat, zwei bis drei Fuß von der Mitte des Walls entfernt, pflegt und cultivirt es dasselbe mit steter Sorgfalt, indem es alle anderen Gräser und Kräuter abbeißt, welche außen um den Ackerkreis herum aufschießen mögen. Das so culivirte Gras wächst dann auch auf’s Ueppigste und producirt eine reiche Ernte kleiner, weißer, kieselharter Samenkörner, welche unter dem Mikroskope gewöhnlichem Reis sehr ähnlich sehen. Ist das Korn reif, so wird es sorgfältig eingeerntet, von den Arbeiterameisen in die Kornkammer geführt und hier von der Spreu befreit, die sodann herausgetragen und über die Grenzen des gepflasterten Hofes hinausgeworfen wird.
Buckley erzählt, daß die Tochter des genannten mexicanischen Doctors täglich in den Garten ging, um die Ameisen ihren Getreidevorrath einheimsen zu sehen, welcher oft mehr als einen halben Scheffel betrug. Der Doctor aber selber schreibt: „In einem Pfirsichgarten nicht weit von meinem Hause befindet sich eine beträchtliche Erhöhung, auf welcher ein ausgedehntes Felsenlager ist. In den Sandlagern, welche Theile dieses Felsens bedecken, befinden sich schöne Städte der ackerbautreibenden Ameisen von offenbar sehr hohem Alter. Meine Beobachtungen über ihre Sitten und Gewohnheiten beschränken sich auf die letzten zwölf Jahre. Immer gegen den ersten November jedes Jahres kann man die Aussaat der Ameisen aufschießen sehen, und es kann nicht bezweifelt werden, daß die eigenthümliche Art des erwähnten korntragenden Grases absichtlich gepflanzt wird. Während der Zeit seines Wachsthums wird durch die kleinen Ackerbauer der Boden, auf dem es steht, von allen andern Kräutern und Gräsern gesäubert. Wenn das Korn reif ist, wird sodann die trockene Stoppel abgerissen und weggetragen und der gepflasterte Hof unbehelligt gelassen bis zum folgenden Herbste, wo derselbe ‚Ameisen-Reis‘ in demselben Kreise wieder erscheint und dieselbe landwirthschaftliche Fürsorge erhält – und so fort, Jahr auf Jahr, wie ich weiß, daß es der Fall ist in allen Verhältnissen, unter denen die Ansiedelungen der Ameisen vor andern grasfressenden Thieren geschützt sind.“
Wenn man an die Umstände denkt, unter denen diese Beobachtung Jahre hindurch gemacht, sowie an den Charakter und die Bedeutung des großen englischen Forschers, der sie dem Urtheile des wissenschaftlichen Publicums unterbreitet hat, so wird im Hinblicke auf andere bereits feststehende Ermittelungen nicht minder wunderbarer Art zu einem Zweifel an der Glaubwürdigkeit des angeführten Berichts ein irgend stichhaltiger Grund nicht zu finden sein. Die landwirthschaftliche Thätigkeit der Ameisen ist aber hiermit noch nicht erschöpft.
Wissen wir auch bis jetzt nur von jener besondern Art derselben, die zu wirklichem Feldbau fortgeschritten ist, so ist es doch gewiß, daß die meisten Arten einen andern wichtigen Zweig der Landwirthschaft, die Viehzucht und Milcherei, in einer Weise betreiben, die wiederum ihrem Scharfsinne ein ehrenvolles Zeugniß giebt. Ihr Melkvieh steht natürlich nur im Verhältnisse zu ihrer eigenen Größe und trägt einen Namen, der für unsern menschlichen Geschmack nicht besonders anmuthig und appetitlich klingt. Wer hat nicht schon mit Gefühlen des Widerwillens die sogenannten Blattläuse oder Aphiden haufenweise auf den Blättern der von ihnen heimgesuchten Pflanzen sitzen sehen. Muß es uns nicht possirlich erscheinen und unsern Humor erwecken, wenn wir hören, daß es Geschöpfe giebt, welche nach dieser uns ärgerlichen und widerwärtigen Thiergattung das brennendste und zärtlichste Verlangen tragen? Das Reizende an der Blattlaus aber ist für ihre Verehrer nicht ihre Person selber, sondern ein Schatz, den sie in ihrem Innern birgt, ein süßer Saft, den sie aus ihrem dicken Hinterleibe ausschwitzt und der für die Ameise ein Gegenstand leidenschaftlicher Begierde ist.
Zwar huldigen nicht blos die Ameisen dieser Feinschmeckerei und Liebhaberei, auch Fliegen, Wespen, Bienen schwärmen für jenen süßen Saft, und namentlich hat man im Herbste Gelegenheit, Weidenbäume ganz bedeckt mit Blattläusen und mit den von ihnen angezogenen Ameisen und sonstigen Insecten zu sehen. Keines dieser Thiere indeß versteht die Besitzerin des begehrten Kleinods besser zu behandeln, als die Ameise, welche mit ihren feinen Fühlern den Hinterleib der Blattlaus so lange zu bestreichen weiß, bis sie einen Tropfen ihres Saftes von sich giebt. Es muß dies jedenfalls auf eine besonders zarte und schmeichlerische, jenem Thierchen angenehme Weise geschehen, denn Darwin bemühte sich vergebens, es den Ameisen hierin gleich zu thun und den Blattläusen durch Bestreichen mit feinen Haaren ihren Saft zu entlocken.
„Auf einer Ampfer-Pflanze,“ so erzählt er, „hinderte ich einige Stunden lang die Annäherung der Ameisen an eine Gruppe von etwa zwölf Aphiden. Nach dieser Zeit nahm ich wahr, daß die Blattläuse das Bedürfniß der Entfernung des Saftes hatten; ich beobachtete sie mit einer Loupe, aber es erfolgte nichts. Darauf streichelte und kitzelte ich sie mit einem Haare auf dieselbe Weise, wie es die Ameisen mit ihren Fühlern machen, aber ohne Erfolg. Nun erst ließ ich eine Ameise zu, und aus ihrem Widerstreben, sich von den Blattläusen wieder hinwegtreiben zu lassen, schien hervorzugehen, daß sie augenblicklich erkannt hatte, welch ein reicher Genuß ihrer harrte. Mit ihren Fühlern begann sie darauf, den Hinterleib erst einer und dann einer anderen Blattlaus zu betasten, von denen jede, sowie sie die Berührung des Fühlers empfand, sofort den Hinterleib in die Höhe richtete und einen klaren Tropfen süßer Flüssigkeit ausschied, der alsbald von der Ameise eingesogen wurde.“
Die Beziehungen der Ameisen zu den genannten Thierchen sind nun freilich schon seit ziemlich langer Zeit bekannt und schon Linné bezeichnete die Blattlaus als „die Kuh der Ameise“. Aber erst durch die neueren Untersuchungen ist die merkwürdige Thatsache festgestellt worden, daß die Ameisen jene Pflanzenläuse sogar mit in das Innere ihrer Wohnung nehmen und dort als förmliches Melkvieh unterhalten. Unter den Kennern besteht kein Zweifel mehr, daß eine Ameisencolonie um so reicher ist, je mehr Blattläuse sie hält. So lebt nach Dr. Forel die sogenannte „braune Ameise“, welche ihr Nest selten verläßt, fast ausschließlich von sehr großen Rindenläusen, welche sie in ihren meist in Baumrinde ausgehöhlten Kammern und Gängen unterhält und erzieht. Sie zeigt die [349] größte Sorge für diese Thiere, trägt sie davon, wenn das Nest aufgedeckt wird, oder führt sie, wenn sie zu groß sind, um getragen zu werden, in die noch unverletzten Galerien. Auch die „gelbe Ameise“ lebt ausschließlich vom Safte der Blatt- oder vielmehr Wurzelläufe, welche sie in ihren in der Umgebung von Baumwurzeln angelegten Nestern unterhält. Deckt man ihr Nest auf, so tragen sie ihre geliebten Milchkühe mit derselben Sorgfalt davon, wie ihre eigenen Larven. Dr. Forel hat oft in der Schweiz Gelegenheit gehabt, das zu sehen. Manche Arten bauen ihnen sogar auf Bäumen und Pflanzen besondere Ställe, das heißt Dächer und Galerien aus Erde, um sie möglichst gegen äußere Unbilden zu schützen. Andere wieder verstehen es sogar, im Inneren ihrer Wohnung aus den im Herbste gesammelten Eiern die Pflanzenläuse selber zu erziehen und zu erhalten. „Sie sorgen,“ sagt Schmarda in seinem 1846 erschienenen „Seelenleben der Thiere“, „für diese Eier so sorgsam wie für die eigenen.“
Auch die auf Pflanzen und Bäumen lebenden sogenannten Gall-Insecten können bei den Ameisen ganz dieselben Dienste verrichten und im Verein mit den Pflanzenläusen liefern sie in unseren Gegenden der Ameise den größten Theil ihrer Nahrung, obgleich hierin und im Einzelnen, in Bezug auf die Arten, große Verschiedenheiten herrschen und die körnersammelnden Ameisen die Pflanzenläufe gänzlich verschmähen. Sieht man aber Ameisen in großer Menge an Baumstämmen auf- und absteigen, so geschieht das fast immer nur wegen der aus dem Baume befindlichen Blattläuse. Namentlich gehen sie deswegen auf Obstbäume, rühren aber die unverletzten Früchte selber niemals an. Leiden Bäume und Pflanzen, welche viel von Ameisen besucht werden, dennoch Noth, so sind diese nur die indirecte Ursache des Schadens, da die der Pflanze schädlichen Blattläuse sich unter ihrer Zucht und Pflege stärker als ohne dieselbe vermehren und außerdem noch der Pflanze desto mehr Stoff entziehen müssen, je mehr sie den Ameisen in Folge ihrer Liebkosungen und Reizungen abgeben. Wo übrigens die Natur nicht freiwillig für das Vorhandensein ihres geliebten Melkviehs gesorgt hat, da haben sorgfältige Beobachter die Ameisen sogar neue Blattlaus-Colonien eigens gründen sehen, zu denen sie die Colonisten von entfernten Sträuchern her trugen und damit das Laub in der Nähe ihres Aufenthalts besetzten.
Für den weiten Kreis der vollständigen Laien muß es immer von Neuem betont werden, daß wir es in allen diesen Mittheilungen nicht mit Erfindungen von Fabeldichtern oder Spaßvögeln zu thun haben, sondern mit Dingen, die von dem nüchternen Scharfblicke ernster Männer gesehen, und die meistens nicht eher veröffentlicht wurden, als bis sie nach jahrelanger unablässiger Beobachtung und Vergleichung als erkannte Wahrheiten sich herauswagen durften. Muß aber Alles uns eigenthümlich berühren, was bisher in einer ganzen Reihe glaubwürdiger und durchaus wissenschaftlicher Darlegungen von dem Benehmen und den Charaktereigenthümlichkeiten, den kriegerischen und friedlichen Thätigkeiten der Ameisenwelt erzählt worden ist, so wird dies Alles doch von einer anderen Einrichtung in den Schatten gestellt, welche die Forschung in dem bewundernswürdigen Gemeinwesen dieser kleinen Geschöpfe entdeckt hat. Es ist nämlich erwiesen – und Darwin hat in seiner „Entstehung der Arten“ eine mächtige Ausführung über diesen Punkt – daß die Ameisen sich Sclaven halten.
Möge man aber deshalb den Ameisen nicht einen zu niedrigen Grad sittlicher Cultur beimessen, ihre Sclaverei ist ohnehin eine sehr milde. Denn die Ameisenräuber stehlen keine Erwachsenen, sondern meistens nur Larven und Puppen anderer Arten, aus denen sie dann im Innern ihrer eigenen Wohnung wirkliche Sclaven erst erziehen, sodaß diese niemals die Süßigkeit der Freiheit gekannt haben. Daher denn auch alle diese Sclaven – so weit es die in der Schweiz beobachteten Arten betrifft – in der Regel mit ihren Herren alle für Erhaltung der Colonie nöthigen Arbeiten gern und ungezwungen verrichten, ja sogar mit denselben gegen ihre eigenen Stammesangehörigen kämpfen. Sie werden mehr als Freunde, denn als Sclaven betrachtet, wie sie auch nicht daran denken, sich ihrer Lage durch die Flucht zu entziehen.
Was die Sclavenhalter unter den Ameisen betrifft, so hat man deren in Europa bis jetzt drei Arten kennen gelernt. Die interessanteste unter ihnen ist die berühmte oder berüchtigte Amazone, deren merkwürdiges Thun und Treiben zuerst von dem Genfer Huber genauer beobachtet und beschrieben worden ist. Es ist eine große, starke, sehr lebendige, glänzendröthliche Ameise, die aber, wie auch manche menschliche Herrscher, gar nicht arbeitet, sondern sich Alles von ihren Dienern, Sclaven und Arbeitern besorgen läßt. Ja, sie frißt nicht einmal allein, sondern läßt sich von ihren Sclaven füttern wie der Dalai-Lhama in Tibet. Freilich hat sie dafür eine sehr triftige Entschuldigung in ihren langen, schmalen und starken Kiefern, die nicht, wie bei den anderen Arten, in einen gezähnten Rand, sondern in eine scharfe Spitze auslaufen, sodaß sie als wahre Zangen zu betrachten sind. Diese Zangen sind ganz ausgezeichnet als fürchterliche Waffen oder Bekämpfungsmittel zu gebrauchen, machen aber dem Thiere das Arbeiten und Alleinfressen ganz unmöglich. Die Amazone ist also eigentlich die Sclavin ihrer Sclaven, ohne deren Hülfe sie verhungern und die ganze Amazonencolonie zu Grunde gehen müßte. Huber brachte etwa dreißig Amazonen mit ihren Larven und Puppen und etwas Erde in eine Schachtel und versah sie mit hinlänglicher Nahrung. Nach Verlauf von nur zwei Tagen war ein Theil der Amazonen verhungert oder vielmehr verdurstet, während man nach Dr. Forel’s Erfahrung Ameisen vier Wochen lang ohne Nahrung erhalten kann, wenn Luft oder Erde hinlänglich feucht sind. Die Amazonen waren weder im Stande, zu fressen, noch ihre Brut zu besorgen, noch die Erde zu bearbeiten. Nun brachte Huber eine einzige Ameise von der Sclavenart hinzu, und diese stellte in kurzer Zeit die Ordnung wieder her. Sie fütterte Jung und Alt mit dem vorgelegten Honig, fing an Zellen für die Puppen und Larven zu bauen, reinigte dieselben etc. Um nun diese von Huber zuerst gemachte Beobachtung zu controliren, legte Lespès eines Tages ein Stück angefeuchteten Zuckers vor ein Nest der Amazonen, und bald darauf wurde der Zucker von einer Ameise der Sclavenart entdeckt. Sie nahm so viel zu sich wie möglich und kehrte in die Wohnung zurück. Bald erschienen weitere Liebhaber, und es wurde dem leckeren Mahle fleißig zugesprochen. Endlich sah Lespès auch die Amazonen herbeikommen. Sie liefen anfangs in verwirrter Weise umher, ohne den Zucker anzurühren, bis sie schließlich anfingen, ihre pflichtvergessenen Sclaven an der Beinen zu ziehen und sie aufmerksam zu machen, daß sie auch bedient sein wollten. Dies geschah, und alle Theile schienen nunmehr befriedigt.
Auch Dr. Forel hat niemals eine Amazone allein fressen sehen. Hat sie Hunger, so bearbeitet sie mit ihren Fühlern den Kopfschild eines Sclaven, bis dieser einen Tropfen Nahrung aus seinem Vor-Magen hergiebt und seinem Herrn von Mund zu Mund darreicht. Die Amazone läßt eben alle Nothwendigkeiten ihres Lebens und Haushaltes durch die Sclaven besorgen; ihr einziges Geschäft ist der Krieg. Ueber das Soldatenwesen, die Schlachten, Feld- und Raubzüge der Ameisen überhaupt ist in den Darstellungen Büchner’s Ausführliches zu finden. Was uns betrifft, so haben wir hier aus dem Leben dieses Thieres nur einzelne Züge mitgetheilt, um auf die Freuden hinzuweisen, welche jedem denkenden Menschen aus der genaueren Beschäftigung mit den unerschöpflichen Wundern der Insectenwelt sich ergeben müssen.