Kinderfüßchen
Kinderfüßchen.
Berlin hat sicherlich nicht viel Sackgassen mehr; aber in der Nähe der Gneisenaustraße giebt es eine solche, und in ihr wohnte der Doktor Hartmann.
Er ist jahrelang Schiffsarzt gewesen, hat dann quittiert und, unabhängig, wie er durch eigenes Vermögen ist, sich hier und da in den großen ostasiatischen Verkehrscentren aufgehalten, Land und Leute studiert, dagegen nur gelegentlich nach Laune praktiziert. Die bunte Fremde mit ihren freieren Lebensverhältnissen hatte es ihm angethan. Er war zwischendurch in Familienangelegenheiten einmal nach Deutschland gereist, aber da hatte er alles entsetzlich eng und kleinlich gefunden, hatte sich aufgeregt über die tausend Rücksichten, die man rechts und links, hinten und vorn zu beobachten habe, und war froh gewesen, als er wieder abdampfen durfte.
Mit der Zeit war er ein starker Vierziger geworden, bequemer und toleranter, und er hatte es an der Zeit gefunden, die Fülle von Eindrücken und Beobachtungsergebnissen, die er gesammelt, zu verwerten. Zunächst litterarisch. Die Genußfreude hatte sich abgeschwächt und etwas wie Ehrgeiz überkam ihn.
Er nahm also Abschied von Tokio, wo er zuletzt gewohnt, um sich in dem unruhigen Berlin ein möglichst ruhiges Wohn- und Arbeitsplätzchen zu suchen. Hier wußte er ein paar Freunde, die es gern übernahmen, ihn wieder mit der Gesellschaft in der alten Heimat zu verknüpfen, so weit er dies wünschen würde.
Die Wohnung wählte er sich selber; den Ausschlag dabei gab, daß der ihm angenehmste Freund, ein verheirateter Ingenieur, den er in Shanghai kennengelernt, in der Nähe wohnte. Er selbst war [784] Junggeselle. Im Auslande hatte ihn nichts gebunden – der Fremde entbehrt dort die Hausfrau wenig. Nun war er Junggesell aus Prinzip! Er fand es für sich sehr unnötig, noch zu heiraten, „sich mit einer Frau zu behängen“, wie er das ausdrückte, um gleich anzudeuten, daß er überzeugt war, den Besitz einer solchen würde er überwiegend als Belästigung empfinden.
Auch weitere Gründe gab es, weshalb er gerade diese Wohnung für passend erachtet: über ihm wohnte ein sehr ruhiges altes Ehepaar. Kaum daß er einmal einen Schritt droben vernahm. Und im ganzen Hause spielte niemand Klavier. Er arbeitete fleißig und fand soviel Geschmack an der litterarischen Thätigkeit, wie er gar nicht gedacht hätte. Nötig hatte er dies angestrengte Schreiben wahrhaftig nicht! Mit einer seltsamen Abneigung stand er dagegen seinem ehemaligen ärztlichen Berufe gegenüber. „Ich habe die Unzulänglichkeit unsres Wissens erkannt,“ sagte er, „und es widersteht mir, eine Miene aufzusetzen, als könnte ich Wunder thun. Aber das will das Publikum haben.“
Seine Wohnung war nicht groß, das Haus in halbe Etagen geteilt, von denen jede nicht mehr als drei Vorderzimmer bot. Ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer nach der Straße zu, ein sogenanntes „Berliner Zimmer“, von ihm als Eß- und Arbeitszimmer benutzt – das war sein Reich. An das letztere Zimmer schlossen sich Wirtschaftsräume – dort hauste die Mutter Fricke, eine schon alte, schrecklich magere Frau, die er halb aus Mitleid, halb wegen ihres rührend leisen, liebenswürdigen Wesens aus einer nicht geringen Zahl von Bewerberinnen ausgesucht. Er war nicht schlecht dabei gefahren: sie kochte vorzüglich, war tadellos sauber und beinahe wie ein Geist unsichtbar und unhörbar, aber immer zur Stelle, wann und wo er ihrer bedurfte.
Die Einrichtung hatte er in der Hauptstadt gekauft; vom Auslande hatte er nichts mitgebracht als ein paar Kisten „Kurios“, wie man die hunderterlei Kunstsachen und Merkwürdigkeiten nennt, die man auf Ueberseereisen allmählich einheimst.
Er stand nicht sehr früh auf, aß spät zu Mittag – zwischendurch traf man ihn immer zu Hause, am Schreibtisch, auf den das Fenster in der Ecke sein breites kaltes Licht warf. Ein gesunder, stattlicher Mann mit dichtem dunklen Haupthaar und Vollbart, die eben zu ergrauen begannen, einen Zug trotziger Energie im leicht gebräunten Antlitz, und in den dunklen beherrschenden Augen ein ungeduldiges Feuer, das genugsam bezeugte, wie wenig das ungebundene Leben in der Fremde von seinem Kraftvorrat aufgebraucht hatte.
Die Abendstunden brachte er gewöhnlich außerhalb zu, kostete nach Laune die Genüsse, welche die Hauptstadt bot, und behielt sich auch den paar Freunden gegenüber, die durchweg verheiratet waren, völlige Freiheit der Bewegung vor. Die Frauen schwärmten heimlich für ihn, fanden ihn sehr interessant, nur etwas rücksichtslos und wenig galant; „ein schöner Mann,“ meinten sie, „aber er ist im Ausland verdorben.“
Das war Doktor Hartmann.
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An einem Septembertage saß er am Frühstückstisch. Die Gasflamme brannte drüber, trotz der vorgerückten Stunde – eine Notwendigkeit für die dunkle Hälfte des „Berliner Zimmers“ auch bei Tage, wenn anders der Raum wohnlich anmuten sollte. Doktor Hartmann hatte sogar eine Vorliebe für das Speisen bei künstlicher Beleuchtung gewonnen.
Frau Fricke huschte herein, klinkte die Thür möglichst lautlos hinter sich zu und blieb im Vorbeigehen einen Augenblick stehen. „Wissen Sie schon, Herr Doktor, daß Rechnungsrats oben am Ersten ausziehen?“ fragte sie mit ihrer Aeolsharfenstimme.
„Was?“
„Ja; er hat sich pensionieren lassen und sie ziehen zu ihrer Tochter nach Brandenburg.“
„Das erfahren Sie jetzt erst?“
„Ja, und nur zufällig; der Packer hatte sich in der Etage versehen und klingelte gestern bei uns.“
„Ist denn schon wieder vermietet? Wahrscheinlich doch. Wissen Sie, wer einzieht?“
„Ja, ich habe das Mädchen unten gefragt: eine Frau Hauptmann von Einsiedel, eine Witwe.“
„Hat sie Kinder? Spielt sie Klavier?“ Er sprang auf. „Das kann eine schöne Geschichte werden! Das giebt womöglich eine Turnhalle und ein Konservatorium über meinem Kopfe!“ Er war ganz aufgeregt, ging ans Fenster vor, drehte sich plötzlich um und sagte: „Räumen Sie ab. Ich werde sehen, ob sich das nicht ändern läßt.“
Er warf einen Blick auf die Uhr, begab sich dann in den kleinen winkligen Vorraum beim Eingang zur Wohnung und zog sich einen andern Rock an. Gleich darauf klingelte er beim Wirt unten.
Der Wirt war ausgegangen, aber die Wirtin führte ihn in die „gute Stube“.
„Ich höre da etwas, was mir sehr fatal ist, Frau Homeyer: die Mieter über mir ziehen aus. Wenn ich das früher gewußt hätte, so hätte ich mir das Vorrecht auf die Wohnung vorbehalten.“
„Ja, wenn wir das nur hätten ahnen können, Herr Doktor!“
„Ich will keinen Lärm über mir haben. Ich höre, eine Witwe zieht ein, die einen Haufen Kinder hat und Klavier spielt – womöglich …“
„Drei Kinder nur, Herr Doktor …“
„Also richtig …“
„Aber noch klein, das kleinste ist erst ein Jahr alt, glaube ich, so lange ist ihr Mann tot. Er war Hauptmann – eine nette Frau, wirklich eine feine Frau, geht noch immer in ganzer Trauer …“
„Natürlich, eine feine Frau: die klimpern ja hier alle; und kleine Kinder: je kleiner, je mehr schreien sie! Ich will Ihnen etwas sagen, Frau Homeyer: ich werde versuchen, der Frau die Wohnung auszureden, und zahle die Miete so lange, bis sich wieder so ruhige Mieter finden wie die jetzigen.“
Die Wirtin wand sich ein bißchen geziert, dann sagte sie: „Uns kann’s ja recht sein, wenn der Herr Doktor das fertig bringen.“
„So? Dann halten Sie den Daumen dazu, denn wenn ich’s nicht fertig bringe, so kündige ich.“
„Ach Gott – Sie werden doch nicht?“ rief die Frau erschrocken. „So ein guter Mieter wie Sie sind!“
„Das werde ich doch – verlassen Sie sich drauf!“
„Die Frau Hauptmann wird ja wohl mit sich reden lassen, daß die Kinderchen nicht gerade über der Stube sind, wo der Herr Doktor arbeiten, und daß sie nur Klavier spielt, wenn der Herr Doktor gerade nicht zu Hause sind – aber ich weiß gar nicht, ob sie ein Klavier hat …“
„Das können Sie der Frau gar nicht zumuten. Und wenn sie’s auch verspricht, gehalten wird’s doch nicht auf die Dauer, das giebt nur Scherereien! Also bereiten Sie gefälligst Ihren Mann darauf vor…“
Er verabschiedete sich kurz, doch nicht unfreundlich; er hatte nur eine so knappe, bestimmte Art im Auftreten wie er rasch in Entschlüssen war.
Und er war fest entschlossen, sich, wenn möglich, diese „Dame in Trauer“ mit ihren drei lärmenden Schreihälsen vom Leibe zu halten. Er setzte sich oben an seinen Schreibtisch und verfaßte folgendes Billet:
„Sehr geehrte Dame!
In letzter Stunde erfahre ich, daß die Wohnnng über der meinigen demnächst den Inhaber wechseln wird, indem Sie an Stelle der bisherigen Mieter einziehen werden. Ich habe nicht den Vorzug, Sie zu kennen; es hat also nicht den mindesten persönlichen Beigeschmack, wenn ich sage, daß mir dieser Wechsel sehr unangenehm ist. Ich bin lediglich so sehr ruhebedürftig und an Geräuschlosigkeit über mir gewöhnt, daß ich zu jedem Opfer entschlossen bin, um nur die letztere zu erhalten. Das Treiben dreier noch so reizender Kinder über meinem Kopfe würde mir unerträglich sein.
Doktor Hartmann.“
[786] Er schloß den Brief, ohne ihn zu überlesen, in ein Couvert, versah ihn mit einer Marke, kleidete sich zum Ausgehen an – unten klingelte er noch einmal der Wirtin, um die Adresse vervollständigen zu können.
Eine Minute später warf er den Brief in einen Briefkasten.
Er lief eine Stunde ziellos spazieren, am Kanalufer, in der Sonne. Die Sache ging ihm im Kopfe herum; er mußte erst mit ihr fertig werden, diese Verstimmung ein wenig auskochen lassen. Hoffentlich nimmt die Dame Vernunft an! Denn wenn sie erst über ihm wohnt, regieren die Kinder oben – als Witwe hat sie natürlich eine Affenliebe für diesen Nachlaß des teuren Entschlafenen! In seiner Praxis hat er wenig mit solchen Knospen der Menschheit zu thun gehabt, höchstens früher in der Studienzeit in den Kliniken; er hat auch als Mensch nie viel für sie übrig gehabt. Sie sind ihm immer nur als die lebendigen Puppen der Weiber vorgekommen, welche sie putzen und herumschleppen und mit denen sie sich die Langeweile vertreiben – die Männer, die sich mit ihnen beschäftigen, waren ihm immer halbe Weiber gewesen.
Diese anspruchsvollen, weichlichen, launenhaften Nichtse, vordringlich und lärmend und unappetitlich! Mit einem festen Griff drückt man sie nieder, und dabei kommandieren sie große verständige Leute wie kleine Sklavenhalter. Solche unglückliche Eltern haben nur ein Auge, einen Arm, nur den halben Verstand für sich übrig …
Kurz, er dachte wie ein richtiger Junggesell.
Möglich, daß das Treiben über ihm nicht gar so lebhaft, so störend für ihn wurde, wie er das im Vorgefühl hatte. Aber es war ihm so eingefallen – es mußte so sein, und er war immer eigensinnig gewesen, wenn er einmal etwas gewollt hatte. Er wollte diese Witwe mit den drei Kindern nicht über sich haben!
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Er wartete ein – zwei – drei Tage auf Antwort und er bekam keine. Jetzt ärgerte er sich, daß er nicht lieber gleich persönlich die Dame aufgesucht hatte; noch mehr über die Rücksichtslosigkeit, die einen seiner Meinung nach ganz anständigen Brief einfach ignorierte.
Am vierten Tag lag auf seinem Frühstückstisch ein lichtgrünes Briefchen, lang und schmal und mit gepreßtem Silbermonogramm im Rücken.
„Geehrter Herr!
Helene von Einsiedel
geb. von Kunetzky.“
Doktor Hartmann bekam einen roten Kopf über dem Lesen und riß den Brief durch. „Was heißt das?“ sagte er für sich – „treppauf, treppab steigen …“ Aber er war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß er da einen recht feinen Nasenstüber bekommen. Sie hatte sich nach ihm erkundigt – bei wem? Vermutlich bei Homeyers. Die konnten natürlich nicht mit gutem Gewissen behaupten, daß er Nervenpatient oder in der Auflösung begriffen sei … wahrhaftig, seine Gesundheit war die beste von der Welt! Sie hatte damit alle Rücksicht geübt, die er billigerweise verlangen konnte.
„Nun dann nicht,“ sagte er laut. Und in Gedanken fuhr er fort, indem er sich Thee eingoß: „Sie mag auf ihre Art recht haben. Also werde ich für mich selber auf Wohnungssuche gehen.“
Das Verdrießlichste war ihm, daß ihm dieser ganze dumme Zwischenfall die Arbeitslust nahm. Seine Gedanken liefen ihm davon, als er sich nachher an den Schreibtisch setzte. Er sah immer wieder eine schwarze Dame mit feinspöttischem Lächeln, die ihm Sottisen sagte, und um sie krabbelten drei ungezogene schreiende Kinder; und dazwischen sah er bei sich die Wände ab-, die Stube ausräumen: er zog! Wohin? Dieser Winkel in Berlin war ihm so angenehm geworden.
Gleichviel, er zieht! Er geht zu Homeyers hinunter, erfährt, daß die „gnädige Frau“ durch das Mädchen hat fragen lassen, ob der Doktor Hartmann, der im Hause wohnt, etwa krank wäre … „Hätten Sie doch gesagt, ich wäre im letzten Stadium schwindsüchtig!“ … Kurzum: wenn sie wollen, daß er wohnen bleiben soll, so mögen jetzt sie es durchsetzen, den Kontrakt mit ihr rückgängig zu machen; andernfalls zieht er aus!
Er hat halbjährige Kündigung, aber es kommt ihm gar nicht darauf an, früher zu ziehen, sobald er eine passende Wohnung gefunden hat.
Damit nimmt er die Thürklinke und geht.
Und der Wirt, der ein kleiner Rentier ist, macht seufzend den Versuch, die Gnädige umzustimmen, aber er kehrt sehr rasch zurück und hat gar nichts ausgerichtet.
„Weun bloß der unglückliche Umzugstermin erst vorbei wäre,“ sagt Doktor Hartmann zu seinen Freunden, die heimlich über ihn den Kopf schütteln (denn zureden kann man ihm nicht); „dann habe ich wenigstens alle Tage meinen Normalärger, habe Thatsachen vor mir und meine Phantasie hat Ruhe. Jetzt macht mir die eine Menge Spuk zurecht, in angenehmer Abwechslung, zum Aussuchen – und ich kann nichts arbeiten …“
Am vorletzten Septembertage, als die Packer bei Rechnungsrats zu rumoren anfangen, muß ihm Frau Fricke das Notwendigste für einen Ausflug zusammenlegen – er fährt für einige Tage nach Potsdam.
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So, nun ist geschehen, was er nicht hat abwenden können.
An dem Abend, da er zurückkehrt, hat er ein Gefühl, als müßte man dem Hause ansehen, daß darin eine große Veränderung vor sich gegangen. Aber das Haus macht sein altes Gesicht – nicht einmal den Gardinen da oben kann er abmerken, daß sie nicht die alten sind, denn die Wahrheit zu sagen: er weiß gar nicht, wie die früheren ausgesehen haben. Er läßt sich von Frau Fricke noch Thee und etwas zu essen geben.
„Das wahr wohl eine schöne Wirtschaft oben die Tage?“
„Ach ja, gepoltert hat’s genug,“ haucht Frau Fricke, „es war ganz recht, daß der Herr Doktor verreisten. Gestern haben sie noch den ganzen Tag Nägel eingeschlagen.“
„Haben Sie denn die Leute gesehen, die eingezogen sind?“
„Ja – eine schöne Frau, Herr Doktor,“ sagt sie wie in einer milden Verzückung; „und so niedliche Kinderchen!“ dabei legte sie den Kopf auf die Seite. „Und gute Sachen! Alles so vornehm. Das Mädchen sagte auch: die gnädige Frau wäre sehr vornehm, aber sie hätte es dabei sehr gut bei ihr. Sie hätte viel durchgemacht, die arme, der Herr wäre beinahe anderthalb Jahr krank gewesen, sehr jähzornig und zuletzt ganz gestört im Kopfe! Einmal wäre er ein paar Wochen in einer Anstalt gewesen, aber er hätte es nicht ausgehalten.“
„Wahrscheinlich Morphinismus, Gehirnerweichung oder so etwas ähnliches“, brummte Doktor Hartmann für sich. „Das ist freilich kein besonderer Genuß für eine Frau.“
„Ja – und in ihren Verhältnissen sind sie wohl auch dadurch ein bißchen zurückgegangen …“
„Das ist ihre Sache!“ Damit drehte er sich um, das bekannte Zeichen für Frau Fricke, zu verschwinden.
Doktor Hartmann lag nach dem Essen auf dem Paneelsofa und las Zeitungen. Nur die große Glockenlampe über dem Eßtisch mit dem Bronzenetz über der Glocke leuchtete in der Wohnung – das Nebenzimmer jenseit der aufgeschlagenen Portiere lag dämmerdunkel bis auf einen schrägen Streifen mattbeleuchteten Teppichs vorn. Es war alles so still, nur das Gas in der Flamme zischelte, und zuweilen knisterte die Zeitung in der Hand des Lesenden.
Der las zerstreut, horchte – auf was? Auf den ersten Ton über sich. Nur den ersten Ton wollte er hören. Merkwürdig, welche Wichtigkeit diese künftigen Geräusche da oben für ihn gewonnen hatten, daß er beständig an sie denken mußte! Wenn das so blieb, so wurde er nervös, wurde er verrückt! … Er sprang ärgerlich auf, ging, sich eine Cigarre anzuzünden, und legte sich dann wieder hin. Da – da rückte ein Stuhl und ein dumpfer Tritt bewegte sich weiter, in das Nebenzimmer, kehrte zurück, leicht, elastisch, doch klirrte die Glocke auf Doktor Hartmanns Lampe ein klein wenig; dann war wieder Ruhe, nur das Schälchen, welches den Ruß fängt, schwankte eine Weile nach.
Dies war also wohl die Frau von Einsiedel, die über ihm saß, die schöne Witwe mit der kühlen ironischen Miene, wie er [787] sich’s vorstellte. Wo mochten die Kinder schlafen’? Hoffentlich nicht vorn über seinem Schlafzimmer – nein, Gott sei Dank, dort war der Raum zu klein; er würde wenigstens ruhig ausschlasen können …
Wenn er nur wüßte, ob diese Dame Klavier spielt! Das würde er auf keinen Fall aushalten können; nicht weil er unmusikalisch war – gerade im Gegenteil, weil er ein für Musik so sehr empfindliches Ohr besaß. Er würde hilflos, gedankenlos zuhören müssen oder flüchten. Vielleicht ging sie doch wenigstens darauf ein, nur in den Nachmittagsstunden zu spielen, wo er ohnedies ausging!
Er rauchte, las – horchte ... uoch ein paarmal das Aufstehen, Gehen, er verfolgte ganz genau Richtung und Endziel – das leise Glockenklirren ... wie das Gas da zischte, mit wilder drängender Kraft! Sogar das war ihm heute lästig. Er sah ein paarmal nach der Uhr; endlich überwältigte ihn die Ungeduld und er ging schlafen.
Was wird der nächste Tag bringen? Er wird ja versuchen, wieder zu arbeiten!
Seinen Morgenschlaf stört nichts, er erwacht zur gewöhnlichen Zeit.
Da – da haben wir’s! Ueber dem Salon nebenan trappelt es schon hin und her. Da wird, wie es scheint, bereits Haschen gespielt, während er sich ankleidet! Gerade als er in den Salon tritt, kommt es vom Eßzimmer oben hergerannt, die ganze lange Flucht bis zur Fensterwand des Salons. Die Galle rührt’s ihm auf und er zieht grimmig die Brauen zusammen, indem er unter diesem dumpfen Gewitter hin zum Frühstückstisch geht.
Diese unerhörte Rücksichtslosigkeit! Das Weib weiß, daß dieses Getrappel einen Menschen quält, der es hilflos mit anhören muß, aber sie denkt nicht daran, es zu beschränken! Mit dem Arbeiten wird es demnach nichts werden!
Er setzt sich und frühstückt.
Er wird also bewußt und absichtlich genötigt, auszuziehen! Diese Kinder haben da offenbar den Weg durch die ganze Wohnung frei – es würde nicht einmal etwas nutzen, den Schreibtisch zu versetzen. Er könnte sich ja auswärts eine ruhige Arbeitsstube zu mieten versuchen; aber das wird er nicht thun. Er wird umziehen!
Das trappelt – da fällt eins: es giebt einen dumpfen Schlag und dann ein Geschrei …
Nun wahrhaftig! Er hat den brennenden Wunsch, dieser Dame gründlich die Wahrheit zu sagen. Das wird er auch noch thun! Mag sie es unbillig finden, daß sie einem fremden Manne zu Gefallen eine gemietete Wohnung wieder aufgeben sollte: nur Hochmut und Gemütlosigkeit kann auf der Bedrängnis eines Mitmenschen so vollkommen gleichmütig herumtrampeln lassen. Mündlich wird er das besorgen, nicht wieder schriftlich.
„Hören Sie bloß den Radau da oben,“ sagt er zu Frau Fricke, die abräumen kommt. „Hat denn das Weib wenigstens ein Kindermädchen? Die Kinder müßten doch ab und zu ins Freie kommen!“
„Ja – sie werden wohl gerade mit dem Kleinsten beschäftigt sein, Herr Doktor. Ich habe dem Mädchen gesagt: sie kann ja, wenn schönes Wetter ist, mit den Kindern auf den Belle-Allianceplatz gehen. Nun kommt freilich der Winter heran …“
„Natürlich; daran habe ich noch nicht einmal gedacht! Ich werde nachher ausgehen, eine andere Wohnung zu besorgen; machen Sie sich auf den Umzug gefaßt, Frau Fricke.“
„Wie Sie denken, Herr Doktor. Es thut mir so leid … es sind wirklich so niedliche Kinderchen!“
„Sehr niedliche Kinderchen, ausgezeichnet: niedliche Kinderchen!“
Frau Fricke schwieg still, ganz verschüchtert.
„Aha, da kommt ja schon die Equipage!“
Man hörte ein Rollen über die Dielen her, von der Thür ausgehend, die zu den Wirtschaftsräumen führte. Umgehend setzten sich von da und von dort her zwei Paar Kinderfüße in Bewegung, in der Richtung auf das Rollen zu.
Der Doktor Hartmann riß nach raschem Prüfen ein Stück „Lokalanzeiger“ ab, steckte es zu sich und ging Wohnungen besichtigen.
Als er zurückkehrte, war er ermüdet und verdrießlich. Er hatte nichts Passendes gefunden. Er warf Hut und Ueberrock an die Haken, als wären sie schuld daran.
In der Wohnung war es lauschig still, die Oktobersonne warf ein paar glührote Streifen auf den Teppich … er horchte, oben regte sich nichts. Als er ins Eßzimmer trat, öffnete Frau Fricke möglichst geräuschlos die Thür. „Die Kinder sind auf dem Belle-Allianceplatze, Herr Doktor.“
„Schön,“ sagte er, worauf sie verschwand. Jetzt könnte er also arbeiten! Wenn er nur nicht von dem Herumfahren und Treppenablaufen so erschöpft und zerstreut gewesen wäre!
Er warf sich in den niederen, ledergepolsterten Kameltaschensessel und streckte die Beine von sich, durch die Mitteilung der Wirtschafterin etwas milder gestimmt.
Hätte er nur glauben dürfen, daß man die Kinder fortgeschickt, um ihm Ruhe zu schaffen, er hätte es der Dame gern gut geschrieben. Wie dumm – läuft er, fährt er in der Stadt herum, und hier ist Friede zum Arbeiten gewesen. Er wird sich also das Wohnungsuchen ersparen, bis schlechtes Wetter ist …
Wie diese Dame wohl aussehen mag? Vor seiner Phantasie schwebt immer so ein schattenhaftes Wesen herum, schlank, vornehm, in Schwarz, aber mit unfaßbaren Zügen. Er sieht einen Gesichtsausdruck, aber das Gesicht selber zerrinnt ihm, sobald er darauf achten will. Sie macht sicherlich einen guten Eindruck, das ergiebt sich aus den Aeußerungen der Homeyers, der Frau Fricke und des Mädchens der Dame. Nun – er will ihr ja eine Visite abstatten, sich mit ihr anssprechen: im Augenblick wäre er freilich nicht in der Stimmung dazu!
Merkwürdig: jetzt ist ihm die Stille oben ordentlich befremdend. Immer wieder ertappt er sich, daß er nach oben horcht … trapp, trapp, trapp, so etwas Beflügeltes hat das an sich; es erinnert irgendwie an kleine Vögel. Es weht dahinter von kurzen Röckchen, die sich schwenken. Ah – er weiß gar nicht einmal: sind’s Jungen oder Mädchen, diese beiden? Trapp, trapp, trapp – so klein klingt das, so drollig klein, man kann beinahe abmessen, wie groß der Umriß des Füßchens ist, vom bloßen Klange!
Wenn man davon absieht, daß es höchst störend sein kann, dies trapp, trapp, trapp, so muß man es possierlich finden. Vielleicht ließe sich wirklich der Beschäftigung mit diesen Miniaturmenschen eine Art Reiz abgewinnen, hinlänglich lohnend, um müßige Minuten auf sie zu verwenden. Etwa wie man sich mit kleinen Katzen amüsiert! Man studiert und genießt das Niedliche, und das ist am Ende doch auch ein Teil des Schönen und ein Kapitel der Aesthetik…
Ach was – er wird noch ein wenig schreiben; er ist genug erholt jetzt. Er geht an den Schreibtisch, sammelt sich – wohl eine Stunde sitzt er ganz vergraben.
Da – da fährt wieder die Equipage oben; er hört ein feines dünnes Stimmchen schreien; richtig wie ein Kätzchen – der Wagen rollt hin und her. Und jetzt wieder die Trappelfüßchen, nicht so wild wie am Morgen – gerade über ihm läuft’s zum Fenster, das eine Paar, das andere Paar … Schritte Erwachsener …
Er macht eine ungeduldige Bewegung, legt die Feder hin. Aber er wartet mit einer gewissen Neugier auf die Füßchen. Jetzt – das ist das Kleinere; das muß ein Junge sein! Es stapft so gerade auf, so derb: eine gewisse sachliche Knappheit spricht aus den kurzen, festen Tritten, eine Sicherheit des Ausschreitens, die nicht durch den Weiberrock gehemmt ist. Das andere ist sicher ein Mädchen – die paar Schritte, wie federn sie! Die Kniee schieben den Rock vor, so tritt der Fuß wie von selbst auf die Zehen ... drollig ist das. Man sieht ordentlich die kleinen Beinchen vor sich, wie sie zappeln …
Aha, der kleine Mann stampft, es paßt ihm wahrscheinlich etwas nicht ... jetzt sind sie beisammen … jetzt fliegt das Fräulein davon, ins Nebenzimmer, der kleine Bursch hinterher … das wird etwas geben dort, das wird etwas geben! …
Der Doktor Hartmann verliert auf ein Paar Augenblicke den ganzen trotzigen, abwehrenden Ernst, er kraut den krausen Vollbart und lächelt für sich und wartet ordentlich gespannt … Dann springt er auf und ruft durch die Thür: „Frau Fricke!“
„Ja, Herr Doktor?“ Sie kommt vom Kochen, die alten spinnenhaften Hände an der Schürze abwischend.
„Ist nicht das kleinere, das da oben herumläuft, ein Junge, das größere ein Mädchen?“
„Jawohl, Herr Doktor; das allerkleinste ist auch ein Junge.“
Er war sehr befriedigt und sie sichtlich verblüfft über den Ton, in dem er sprach.
„Es hört sich so an,“ sagte er und wandte sich ab.
[799] Die Kinderfüßchen blieben Doktor Hartmanns Studium in den nächsten Tagen; sie ließen ihm, da zum Glück das Wetter sich hielt, erträglich Zeit zum Arbeiten; so hatte er gute Laune. Es machte ihm Spaß, früh oder nachmittags ein Stündchen zu sitzen, die Cigarre in den Fingern, und mit allem Scharfsinn die zahlreichen Nuancen dieses Trapp, trapp, trapp festzustellen und zu deuten. Jugenderinnerungen, vergessene Eindrücke von hie und da wurden lebendig und halfen das Erratene in Bilder umsetzen. Er war bald überzeugt, daß die Füßchen eine nicht mißzuverstehende Sprache redeten: sie erzählten von Frohsinn, Uebermut, Niedergeschlagenheit, Furcht, Zärtlichkeit, Begehrlichkeit – von allem, was die kleinen Gemüter oben bewegte; sie deuteten dies und jenes Spiel an, wobei freilich rollende Marmeln, das Auf und Nieder des Schaukelpferdes und allerlei andere Geräusche dolmetschen halfen. Schade, daß er seine Vermutungen nicht kontrollieren konnte!
Welch eine harmlose, sonnige Welt da oben! Junges Leben, Fleisch und Blut – er sah im Geiste die kleinen, drallen Beinchen sich rühren, in Strümpfchen und Schnürschuhchen, das übrige mehr schattenhaft dazu gefügt – Miniaturempfindungen und Miniaturinteressen, abseits vom großen, ernsten Lebensgang spielend … merkwürdig anheimelnd war das! Manchmal überkam es ihn, als stände er mitten dazwischen, väterlich eingreifend, helfend, mahnend … und im Nebenzimmer bewegte sich waltend eine schlanke schwarzgekleidete Frau, stand wohl einmal in der Thür und sah ihn mit spöttischer Miene, doch nicht unfreundlich an: „Ei ei – ich denke, Sie wollten unserthalb ausziehen, Herr Doktor?“
Einmal geschah es, als er, im Begriff auszugehen, auf den Treppenflur hinaustrat, daß er diese Frau – endlich! – zu sehen bekam. Sie schritt die Treppe herab. Nur ein paar Stufen war sie noch über ihm. Er zweifelte nicht einen Augenblick, daß sie es war; in Schwarz vom Kopf bis zu den Füßen, hochgewachsen, mit ruhig gemessener Haltung und elastischem Gang, wie er sie gedacht; ein schlank aufgesetzter, jugendlicher, blonder Kopf mit blassem aristokratischen Gesicht, aus dem ein Paar ernster graublauer Augen melancholisch vor sich hin blickte. „Eine schöne Frau!“ sagte es in ihm; er fühlte, daß ihm das Freude machte, aber deutlicher noch, daß ihn das unerwartete Begegnen verwirrte. Als ob er ihr gegenüber kein reines Gewissen hätte! Unwillkürlich nahm er seinen Hut in die Hand und neigte ein wenig den Kopf, als sie an ihm vorüber schritt.
Keine Bewegung an ihr verriet, daß er sie interessierte, obwohl ihre Gedanken ebenso sagen mußten: das ist er! Nur daß doch ihre Blicke ihn flüchtig streiften, als sie seinen höflichen Gruß etwas nachlässig, wie er meinte, erwiderte. Im Augenblick ärgerte ihn das. Aber wie sie tiefer stieg, verfolgten die Augen des Nachschreitenden doch mit Wohlgefallen die Linien dieser Figur und das anmutend Beherrschte ihrer Haltung. Sie schien so etwas zu fühlen, denn sie ging bald schneller.
So, nun wußte er, wie sie aussah.
Ungefähr so, wie er heimlich gewünscht hatte.
„Diese Frau muß ich kennenlernen,“ sagt er bei sich. „Vielleicht hält sie mich zur Zeit für einen Narren, und jetzt – wenn es eine giebt, von der ich das nicht wünsche, so ist sie es. Vielleicht überschätze ich sie … es ist ja möglich … aber ich glaube es nicht.“
Er hatte für den ganzen Abend ausgehen wollen, allein er änderte seinen Entschluß und kam bald zurück. Im Hausflur traf er Frau Homeyer, die Hausbesitzerin.
„Apropos: haben Sie schon Schritte gethan, um meine Wohnuug wieder zu vermieten?“ fragte er, sich zu ihr umwendend.
„Wir haben sie angezeigt, ja …“
„Lassen Sie sein, ich bleibe vorläufig noch …“
Er legte nachlässig die Hand an den Hut, ging hinauf, aß oben Abendbrot und verträumte diesen Abend. Er hörte noch die Kinderfüßchen, bis sie bei der Hinterthür verklangen – und die größeren, kräftigeren Schritte der schönen Mutter, diese noch durch Stunden, manchmal, auf kurzen Gängen.
Er kam sich keineswegs närrisch darum vor, daß er da saß und darauf horchte; er fand das ganz natürlich und nicht im mindesten langweilig.
Ein paar Tage später – er hatte sich eben an den Schreibtisch gesetzt – öffnete Frau Fricke schüchtern die Thür.
„Wollen Sie sie einmal sehen, Herr Doktor?“
„Wen?“
„Die Kinder!“ Und sie winkte mit dem Kopf nach oben. Er machte eine ungeduldige Miene, aber er hörte es hinter ihr trappeln – irgendwo draußen – er stand auf, ging ihr nach. Iu der Küche stand das Kindermädchen von oben mit zwei reizenden Puppen: der Junge in weißem Flanellmäntelchen, ein weißflockiges Hütchen auf dem derben Blondkopf, der ihn aus großen braunen Augen trotzig furchtsam anstarrte, das Mädchen im kirschroten Prinzeßkleidchen mit rotem Wollmützchen, langes weißblondes Gelock im Nacken, blauäugig wie die Mutter, ein zierliches lächelndes Elfchen.
„Ei, so seht ihr aus, ihr kleinen Hummeln,“ sagte Doktor Hartmann, „und mit den Füßchen da springt ihr über meinem Kopfe herum!“ Er mußte unbedingt diese Füßchen genau ansehen.
„Ich habe auch einen Ziegenbock,“ sagte der Junge trotzig mit tiefer Stimme.
„So? Wie heißt Du denn, kleiner Mann?“
„Turt von Einsiedel.“
„Und dein Schwesterchen?“
„Theta.“
Das Kindermädchen stupfte die Schwester ermunternd: „Sag doch, wie Du heißt!“ Und das anmutige Geschöpfchen knixte flüchtig: „Margarete von Einsiedel.“
„Ah so! – Also Du hast einen Ziegenbock. Kann er meckern?“
„Ja, wenn man ihn auf den Kopf drückt,“ beeilte sich Theta zu erklären.
„Ich habe auch einen,“ sagte Doktor Hartmann. „Willst Du ihn sehen? Einen ganz großen!“
Das Gesicht des Jungen wurde verklärt. „Ja,“ nickte er.
„Dann mußt Du einmal wiederkommen mit Theta, jetzt schläft er gerade. Willst Du das?“
„Ja!“
„Schön, dann geht nur jetzt spazieren. Ich habe auch eine große Puppe für Theta. Aber ihr dürft niemand etwas davon sagen, auch der Mama nicht, hört ihr wohl? Sonst kommt nachts der Knecht Ruprecht und holt alles weg.“
Er gab dem Kindermädchen einen Wink, der es zum Schweigen verpflichtete. Zur Frau Fricke aber sagte er, als die Drei draußen waren, so obenhin: „Niedliche Dinger! Vielleicht gewöhne ich mich an sie.“
„Das Kleinste müßten der Herr Doktor sehen!“ hauchte Frau Fricke. „Den ganzen Kopf voll brauner Löckchen!“
„Sie scheinen ja eine große Kinderfreundin zu sein … Sorgen Sie, daß das Mädchen reinen Mund hält.“
Am Nachmittag kaufte Doktor Hartmann den größten Ziegenbock, den er in einem Spielladen finden konnte. Er war gesattelt, hatte eine Klingel um den Hals, und für die Beine gab es ein Gestell zum Schaukeln und ein zweites mit Rädern zum Fahren.
Außerdem ein Wunder der Puppenerzeugung im Alter des kleinen Equipagenbesitzers oben, mit einem Wagen und sonstigem Zubehör. Als sich das erste Erstaunen über die geforderten Preise gelegt hatte, bezahlte er, was man haben wollte, und das war ein kleines Vermögen. Er hatte gerade die Laune dazu.
Hinterher sagte er freilich bei sich: „Es ist ein Schwabenstreich! Die Fricke ist schuld. In dem Studium der unbekannten Kinderfüßchen lag Poesie – ob der persönliche Verkehr mit den Kindern mir behagen wird, ist eine andere Sache. Welch ein Heidengeld kosten mich die Knirpse!“
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In der nächsten Zeit änderte das Leben in der Wohnung des Doktor Hartmann vollkommen sein Gesicht.
Es war ein feierlicher Augenblick, da die Frau Fricke zum erstenmal die beiden Kinder hereinführte, vor die gekaufte Herrlichkeit. Doktor Hartmann stand händereibend und studierte ihre Gesichter, wie die erste Schüchternheit allmählich dem Verlangen [800] wich; er half nach, Frau Fricke half nach … „Lassen Sie die Kinder eine halbe Stunde spielen, ehe Sie mit ihnen ausgehen!“ sagte er zu dem Kindermädchen. „Aber verstehen Sie mich: Ihre Frau braucht nichts davon zu erfahren.“
„Herr Doktor,“ sprach Frau Fricke, „die Kinder werden wohl doch etwas davon verraten.“
„Nun also – meinetwegen denn. Ueberlassen Sie mir einmal die Kinder allein.“
Frau Fricke ging. Es war ihm unbehaglich, daß sie zusehen sollte, wie er sich mit den Kindern beschäftigte; er wußte nicht, ob nicht die ersten Versuche sehr unbeholfen aussehen würden.
Wahrhaftig: er spielte mit ihnen, plauderte mit ihnen. Er studierte sie, so sagte er sich zu seiner Entschuldigung. Und es waren zwei so allerliebste Geschöpfe!
Sie kamen täglich, und er ließ sich von ihnen „Onkel Doktor“ nennen. Er hielt streng eine bestimmte Zeit für den Besuch fest. „So, nun ist’s genug, nun kommt das Spazierengehen.“ Sie gingen seufzend – er vergrößerte immerfort den Vorrat an Spielzeug – und ihm selber war es gar nicht recht, wenn er einsam zurückblieb. Er brauchte immer erst einige Zeit, um sich zu sammeln, ehe er nachher arbeiten konnte, und in dieser Zeit hatte er ein Gefühl wie im Herbstwalde, wenn kein Vogel mehr singt. Sein Leben hatte gewonnen durch diese kleinen Vögelchen, die um ihn zwitscherten. Es war, als brächten sie ihm ein Stück Lebensfrühling wieder, wenn sie kamen.
Was die blonde schlanke Frau oben dazu denken mochte? Denn sie wußte sicher darum. Frau Fricke hatte recht: wie hatte er sich einbilden können, daß all das hinter ihrem Rücken geschehen könnte! Wenn er ihr wieder begegnen würde, so würden sie beide lächeln müssen. Nun gut: was er that, war eine Art Abbitte für den Brief. Er brauchte nur eine halbe Entschuldigung noch und konnte die Zuversicht haben, daß sie kaum mehr als Formsache sein würde. Sie wußte darum und störte nicht – das gab ihm eine so angenehme Empfindung! Sie überließ ihm täglich ihre Kinder auf eine Stunde; sie durften ihre Herzchen an ihn hängen! Das war viel für eine trauernde junge Witwe, der ihre Kinder alles bedeuten. Was beschwor sie da herauf?! …
Oder machte sie sich einen Scherz mit ihm? Amüsierte sie’s heimlich, daß er, der jenen Brief geschrieben ... Ah, danach sah sie nicht aus.
Wie ein Donnerschlag war es für ihn, als eines Morgens die Kinder ausblieben. Es war allerdings der erste regnerische Vormittag seit dem Umzug; aber ist dies ein Grund, die Kinder da oben festzuhalten?
Vielleicht kommen sie noch!
Er geht ungeduldig, fast erbittert, auf und ab. Ueber ihm trappelt’s – da sind sie nun – das ist Kurt – das ist die Theta … es scheint nicht, daß sie Urlaub für ihn erhalten werden.
Er ist plötzlich wieder der Alte, heftig, aufbrausend. Er geht in die Küche, zur Frau Fricke. „Nun?“ sagt er, „wo bleiben die Kinder heute?“
„Das Kindermädcheu war einen Augenblick unten, Herr Doktor – sie gehen nicht aus – und die Frau Hauptmann hatte gemeint: das ginge doch nicht alle Tage so …“
„Das ginge nicht? Warum soll das nicht gehen? Sie hätten mir das gleich sagen sollen …“
Er verließ sie, besann sich in der Stube … nein, er wird da nicht erst Visitentoilette machen. Er will nicht Visite machen, nur auf eine Stunde „seine Kinder“ wieder haben. So zieht er seinen Salonrock an und nimmt den schwarzen Filzhut.
Als er treppauf steigt, ist ihm doch ein wenig beklommen zu Mute. Er gäbe etwas drum, zu wissen, wie man ihn aufnehmen wird. Er geht wie ins Fegefeuer. Auf sein Klirren öffnet das Kindermädchen, lacht über das ganze Gesicht und nimmt seine Visitenkarte … „Gnädige Frau läßt bitten …“
Da ist das kleine Empfangszimmer, über seinem Schlafzimmer: ein rechtes Damenzimmerchen in Rokoko, wie er’s eigentlich nicht liebt. Die Thür zu nebenan steht mit einem Spalt offen … da trappelt es und Kurt steckt sein rundes Jungengesicht hindurch, das ganz aufgehellt aussieht, und sagt: „Tuten Tag, Ontel Dottor.“
„Marie, halten Sie die Kinder zurück,“ sagt eine weiche Altstimme bei der Thür, und da steht die Frau Hauptmann im Rahmen und sie verneigen sich beide. „Ich ahne, was Sie zu mir führt. Sie haben meinen beiden Kleinen viel Freundlichkeit erwiesen, Herr Doktor, das ist gewiß für mich als Mutter eine Genugthuung und ich danke Ihnen. Aber Sie sollen nicht täglich von ihnen belästigt werden.“
„Darf ich einen Augenblick Platz nehmen?“
„Bitte …“ nickt sie, und ihr schlankes blasses Gesicht färbt sich ein wenig. Wie licht ihr Kopf erscheint, mit dem nordisch aschblonden Haar, so einfach glatt aufgeknotet, gegen das schwarze Hauskleid! Ein unbeschreiblich angenehmes Gefühl sagt ihm: „Eine ganze Dame“. Ihm war, als habe er ein großes Glück vor sich.
„Gnädigste Frau“, sagte er, „eine Vorbemerkung! Ich bin ein verwöhnter Juuggesell, der sich’s bisher nach Laune bequem gemacht hat; etwas eigenwillig, wie Aerzte leicht werden. Lassen Sie, ich bitte, Gnade für Recht ergehen und vergessen Sie meinen Brief, für den ich ja meine Lektion schon weghabe.“ Er saß steif, als hätte er den Chapeau claque vor sich.
„Ach, der Brief –“ sagte sie einfach. „Es giebt solche Zwischenfälle … das Leben korrigiert uns alle Augenblicke.“
„So. Und nun: lassen Sie mir alle Tage eine Stunde meine Kinder!“
„Ihre Kinder!“ Jetzt lächelte sie. „Die müssen sich ja recht dreist bei Ihnen eingenistet haben.“
„Begreifen Sie, gnädigste Frau: so lange ich nicht den Vorzug hatte, Sie persönlich zu kennen, hatten diese beiden reizenden Dinger für mich weder Vater noch Mutter. Ich hatte keine Anschauung davon, wo sie sich sonst bewegten … sie flogen herein, zwei Vögelchen – die dann niemand auf der Welt etwas angingen als mich. Können sie sich jetzt hineindenken, wenn ich sage: Meine Kinder?“
„Ja, das ist ein gefährliches Spiel, Herr Doktor. Das giebt doppelte Erziehung. Sie verwöhnen mir die Kinder – Sie haben es leicht, sich ihre Herzen zu gewinnen, ich muß sie kürzer halten, und sie werden vergleichen: dabei komme ich zu kurz.“
„Sie rechnen scharf, Gnädigste …“
„Das müssen Sie einer Mutter zu gute halten …“
„Ah – ich führe alle Großeltern, Tauten, Onkel, Paten für mich ins Treffen. Wieviel Kinder giebt es wohl, die nicht irgendwo ein Weihnachtsland haben, wo man sie verwöhnt … lassen Sie mir die Kinder!“
Sie war ein wenig betroffen von dem warmen Ton, in dem er bat; der Blick, mit dem sie ihn ansah, sagte ihm das.
„Sie wundern sich über diese ausgiebige Sinnesänderung bei mir. Ehrlich gesagt: ich wundere mich selber, obwohl ich Ihnen ganz genau vorsecieren könnte, wie sie sich vollzogen hat. Ich war nie Kinderarzt – ich mußte in meine eigene Jugend zurücksteigen, um mich zu ihnen zu finden. Das war reizvoll, denn es war etwas ganz Neues für mich.“
„Sie praktizieren nicht mehr, sagt man mir?“
„Es giebt Aerzte wie Heuschrecken, und ich bin nicht mehr auf der Höhe der Wissenschaft, wie man hier sagt. Das kommt so, wenn man im Auslande lebt. Ich habe so viele Menschen behandelt in meinem Leben, mit immer weniger Freude und Vertrauen … ich sehe nicht den geringsten Grund, weshalb ich mich hier durchaus um meine Nachtruhe bringen lassen müßte.“
Sie sah vor sich hin. „Ist das nicht doch recht egoistisch gedacht? Im Interesse der leidenden Menschheit gesprochen! Es giebt Aerzte genug, aber nicht gerade viel hervorragende …“
„Gnädigste Frau erzeigen mir da eine besondere Ehre …“
„Ich bitte ... Ihre Vergangenheit genügt, um zu schließen, daß Sie kein Durchschnittsmensch sind.“ Sie errötete doch ein wenig, mit einer leichten Verlegenheit, als sie das sagte. Und sie erhob sich gleich darauf. „Also, ich will es mit den Kindern wagen … auf Widerruf, Herr Doktor!“
Er stand auf, reichte ihr mit raschem Impulse die Hand hin. „Ich danke Ihnen.“ Zögernd legte sie eine schmale kühle Hand in die seine und neigte leicht den Kopf.
„Wenn Sie meiner als Arzt je bedürfen sollten …“
„Hoffentlich nicht, Herr Doktor. Im übrigen habe ich einen tüchtigen Hausarzt, dem ich vertraue.“
„Ganz wie Sie befehlen“, nickte er, plötzlich abgekühlt.
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Nun hatte er mit ihr gesprochen.
Diese blonde Frau in ihrem ewigen Schwarz quälte ihn – sie nistete sich in seinem Kopfe ein – und in seinem Herzen. Darüber war er sich ganz klar. Welch ein Verhängnis!
[802] Trotz des kühlen Abschieds: sie schätzte ihn nicht gering; das war wenigstens etwas! Aber er sah durchaus keine Möglichkeit, sich ihr zu nähern: wie es schien, hatte sie so gut wie keinen Verkehr, auf alle Fälle schloß ihr Trauerkleid sie vorläufig von jeder Geselligkeit aus. Er versuchte, aus den Kindern herauszuholen, wer zu Besuch käme, ob sie wohl zuweilen mit andern Kindern spielten … er gewann den Eindruck, daß die Mama sich von früheren Beziehungen so gut wie ganz losgelöst hatte. Nicht einmal den Namen des Hausarztes, von dem sie gesprochen, bekam er aus den Kindern heraus, die nur „den andern Onkel Doktor“ kannten, dem sie immer die Zunge zeigen mußten; so stiftete er die Frau Fricke an, das Mädchen um den Namen zu befragen. Irgend ein Arzt war’s, mit lateinischem Namen; er wohnte verhältnismäßig weit – das einzige, was ihn interessierte.
Hatte er einen Augenblick daran gedacht, den Mann aufzusuchen und über die Verhältnisse der Frau Hauptmann von Einsiedel auszufragen – er ließ den Gedanken rasch fallen. Er schüttelte sich ordentlich innerlich davor.
Er hatte wenigstens „seine Kinder“ – ihre Kinder! Jeden Tag hatte er sie früh eine Stunde, mit ihren strahlenden Gesichtern kamen sie an und mit der gewissen niedergeschlagenen Selbstverständlichkeit gingen sie, wenn das Mädchen sie holen kam. Jedesmal ließ Doktor Hartmann die Mama grüßen.
Aber sie brachten nie einen Gegengruß.
Im Laufe der Zeit hatte er all die bekannten Kinderfragen zu beantworten: Ob er keine Kinder hätte. Warum nicht? Ob er keine Frau hätte. Warum nicht? Warum er nicht die Mama heiratete…
„Weil sie mich nicht heiraten mag,“ sagte er.
„Warum nicht?“
„Ich weiß es nicht.“
„Dann werde ich sie mal fragen.“
Er lachte dazu; aber sie brachten keine Antwort.
Und einmal sagte Theta: „Onkel Doktor, ich darf Dich von Mama grüßen. Ich fragte sie, und da sagte sie: Meinetwegen.“
Sie liebten ihn sehr, es ist wahr; sie hingen sich an ihn, wenn sie ausgelassen wurden, und die Kleine kletterte am Ende einmal auf seinen Schoß und küßte ihn. Dabei wurde sie ganz rot – sie schienen mit Küssen nicht verwöhnt zu werden.
Er fragte auch gelegentlich, ob sie ein Klavier oben hätten. Ja. Ob Mama spielen könnte? Ja, aber seit Papa tot ist, hat sie kein einziges Mal gespielt.
Seinetwegen hätte sie spielen können, soviel sie wollte.
Welch ein Kinderfreund war er geworden! Diese Stunden waren ihm das Beste vom Tage. Er zwang sich zum Arbeiten, aber er hatte wenig Freude daran. Eine so eigenwillige, ungeduldige Natur wie er war, knirschte er innerlich vor der verschlossenen Pforte, hinter die er sich träumte. Seine Freunde klagten, daß er sich kaum mehr sehen lasse, die Frauen fanden, daß seine Rücksichtslosigkeit zunähme. Wenn er nicht schrieb, saß er zu Hause bei einem Buche und horchte über sich, statt zu lesen, und wenn ihn die Ungeduld packte, warf er das Buch fort und lief fort – irgendwohin, wo man sich mühelos zerstreut, in ein Theater, eine Spezialitätenvorführung.
Wohin soll das führen?
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Eines Tages kam Kurt allein herunter. „Theta ist trank, Ontel Dottor,“ sagte er.
Es stürmte heiß in ihm auf: er wird nachher Kurt hinaufbegleiten, nach dem kranken Kinde fragen! Aber er wird die Stunde warten müssen. Warten! Das fällt ihm schwer! Er ist zerstreut, sieht immer wieder nach der Uhr.
„Komm’, Kurtchen, wir werden vorn hinauf gehen.“
Oben grüßt ihn die ersehnte blonde Frau wieder, die er eine Ewigkeit nicht gesehen, gemessen freundlich, wie er sie kennt, einen Anflug von Sorge im Gesicht.
„Gnädigste Frau – was ist mit Theta?“
„O – sie hat ein wenig Mandelbelag und etwas Fieber, wie es scheint. Ich habe schon an den Arzt telephonieren lassen; es sieht nicht schlimm aus, aber man sorgt sich.“
Er kämpft mit sich. Dann hebt er die Augen vom Boden. „Darf ich sie sehen?“
Die Frage macht ihr Pein. „Ich – bitte – nicht, Herr Doktor, wenigstens jetzt nicht,“ fügt sie rasch hinzu. „Die Mädchen sind noch nicht mit Aufräumen fertig. Ich verstehe ja Ihren Wunsch …“
„Gott sei Dank,“ sagt er aus mühsam niedergehaltener Leidenschaftlichkeit heraus, „das ist doch wenigstens etwas! Verzeihung, gnädigste Frau; ich bin weit entfernt, das Kind behandeln zu wollen … aber ich bin auch Arzt … und ich liebe das Kind … Sie haben mir gestattet, es zu lieben …“
„Sie sehen die Folgen,“ nickt sie melancholisch.
„Ich leite daraus das Recht ab, mich in Ihre Häuslichkeit zu drängen,“ sagt er plötzlich bitter. „O nein …“
Sie ist blaß geworden und wehrt mit der Hand. „Mein Gott, warum sagen Sie das? Ich bin eine alleinstehende Frau, Sie ein alleinstehender Mann, und wir wohnen beide im selben Hause. Das schließt aus, daß ich Sie als Arzt wählte, geschweige, daß ein persönlicher Verkehr im Hause zwischen uns möglich wäre. Begreifen Sie nicht, daß ich schon für meinen Ruf wage, wenn meine Kinder zwischen uns hin und her gehen?“
Er reckte sich auf. „Gnädigste Frau,“ sagte er, und sein Auge flammte und es lag etwas Sieghaftes im Blick, und seine Stimme hatte den Erzklang eines unbeugsamen Entschlusses – „ich würde Ihnen am liebsten mit drei Worten erwidern und es ist eine That, daß ich sie unterdrücke. Ich werde mir diese Worte zu Anfang und Schluß jedes neuen Tages wiederholen und eines Tages werden Sie sie doch hören!“
„Ich verstehe Sie nicht,“ sagte sie erzwungen kühl, als er einen Augenblick inne hielt. „Ihr Charakter …“
„Sie werden nie Ursache haben, an ihm zu zweifeln,“ schnitt er rasch mit einer leichten Verneignng ab; und er blickte ihr offen ins Ange. Dann sagte er, an sich haltend: „Wenn Sie mir nicht einen großen Schmerz zufügen wollen, gnädigste Frau, so lassen Sie mich die Theta sehen!“
Mit so viel Selbstbeherrschung das gesprochen wurde, ein Grundton von blutwarmer Leidenschaft war darin, der Eindruck machte. Die blonde Frau sah unsicher vor sich hin und sagte ein wenig wie hilflos: „Nun gut, Herr Doktor, ich werde es Ihnen melden lassen, sobald das Zimmer hergerichtet sein wird. Das Mädchen wird Sie zu ihr führen.“
„Ich danke, meine gnädigste Frau. Ich fühle, ich lerne mit Ihrer gütigen Nachhilfe ein wenig das, worauf mich die Natur am wenigsten zugeschnitten hat: bitten und gedulden.“
Er war draußen, und die blonde Frau sah ihm mit einem langen Blick nach, als bliebe er in ihrem Gesichtskreise. Sie hatten sich beide nicht gesetzt, und so stand sie, ohne sich zu regen. Endlich schüttelte sie den Kopf. „Mein Gott,“ sagte sie für sich, „was will er? Dieser Mann macht mich unruhig. Das ist keiner, den man übersieht – das ist ein sehr kluger Mensch und eine große Natur. Er vergewaltigt die andern, wenn er will …“ Und sie setzt sich für ein paar Augenblicke und grübelt. „Ich habe Frieden, und ich will ihn behalten … ich habe genug gelitten… ich muß ihn fern halten … wie unvorsichtig war ich! Er wünscht das Gegenteil, das ist deutlich …“
Sie träumt: der Doktor Hartmann spricht noch, und die Wärme seines Tones strömt in sie, durchströmt sie. Ihr gegenüber hängt an der Wand das Oelbild eines brünetten jungen Offiziers, ein keckes, lebenslustiges Gesicht mit einem sinnlichen Zug um den Mund und herausfordernden grauen Augen – wie zufällig hebt sich ihr Blick, begegnet diesen Augen … ein leiser Schauder durchrieselt sie …
Zur Thür neben ihr tappeln Kinderfüßchen. „Mama!“ ruft Kurts Stimme, „tomm’ mal her.“
„Nein, nein,“ sagt sie für sich. „Ich habe genug.“ Und sie erhebt sich. „Ich komme, Liebling!“
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Doktor Hartmann ist bei Theta gewesen, an ihrem Bettchen, ohne die Mutter, nur mit dem Kindermädchen. Die Frau Hauptmann war in den Zimmern, die er durchschritt, nicht zu sehen, und er fragte nicht nach ihr. Nur flüchtig streifte sein Blick über eine Einrichtung, die in den Hauptstücken ziemlich luxuriös war und Sinn für das Lebhafte und Glänzende verriet. In dem Krankenzimmer standen zwei Kinderbetten, außerdem der Kinderwagen mit dem Kleinsten drin.
Theta war über den Besuch sehr glücklich; die Untersuchung [803] ergab keine sonderliche Gefahr, einen etwas beschleunigten Puls: ein paar Tage wirst du schon im Bett stecken müssen, kleine Theta! Doktor Hartmann schlug die Gardine am Kinderwagen zurück; da schlief ein braunes Krausköpfchen mit dem Finger im Munde, zart und bläßlich.
„Er ißt schon alles,“ flüsterte das Kindermädchen stolz.
„So?“ fragte Doktor Hartmann und musterte sie von der Seite. „Das soll er aber nicht, verstehen Sie? Der hat an Milch und Brei genug. Außerdem bringen Sie ihn in ein anderes Zimmer.“
Auf der Treppe begegnete ihm ein Herr, der es eilig hatte. Er lüftete den Hut und fragte: „Frau Hauptmann von Einsiedel wohnt hier im Hause?“ – „Eine Treppe höher,“ sagte Doktor Hartmann nachlässig. Er konnte über ein Gefühl von Eifersucht nicht Herr werden, denn es war kein Zweifel, dies war der erwartete Kollege!
Am vierten Tag kam das kleine Mädchen wieder mit dem Bruder herunter zu ihm. Er war wie erlöst – er hatte innerlich Angst ausgestanden, ob nicht stillschweigend wieder der Versuch gemacht werden würde, ihm die Kinder zu entziehen. Die Kinder – im Grunde: was waren die Kinder, so unentbehrlich sie ihm geworden! Mit den Kindern ließ ihm diese Frau, die sich gegen ihn wehrte, einen Finger wenigstens …
Der Winter meldete sich, mit Frost und Schneetreiben und kalter Sonne. Er sah die blonde Frau nur in flüchtiger Begegnung und sie grüßten einander nicht fremd, nicht vertraut – einmal drehten sich beide verstohlen nacheinander um, dann nie wieder. Es webte etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen, das wußten sie beide. Die Kinder trugen keine Grüße mehr, aber sie verrieten, daß sie der Mama erzählen mußten, was sie unten getrieben, und ob der Onkel Doktor auch „sehr gut mit ihnen wäre“.
Was hilft das? So kommt man nicht vorwärts!
„Sie wird mein,“ sagte sich Doktor Hartmann, „sie kann sich wehren wie sie will!“ Er wenigstens war dieser Frau verfallen: sie erfüllte feine Phantasie; wenn er ihren Schritt hörte, bebten seine Nerven, sah er sie, sprach er zu ihr! In der Einsamkeit unten rettete ihn nichts davor. Und es sollte ihn nichts davor retten! Selbst den spärlichen Freundesverkehr, der noch in seine Wohnung drang, empfand er als Belästigung.
Eines Tages war die blonde Frau krank. Die Kinder kamen, und mit ihnen Frau Fricke. „Vielleicht behalten der Herr Doktor die Kinder länger unten, so lange die Frau Hauptmann liegt? Sie geben doch nicht recht Ruhe oben,“ hauchte sie zaghaft und mit ihrem besten Lächeln. Er zog die Stirn zusammen. „Natürlich,“ nickte er zerstreut. „Aber warten Sie!“
Er schrieb ein Billet: „Gnädigste Frau – gönnen Sie mir den Vorzug, wenn der Arzt bei Ihnen gewesen sein wird, zu erfahren, was Ihnen fehlt.“ Ein paarmal setzte er mit hastigem Nachdenken die Feder an, um etwas hinzuzusetzen. Am Ende ließ er es sein. „So, das befördern Sie zur Frau Hauptmann hinauf.“
Eine Stunde später ließ sie danken und erklären, der Arzt hielte den Zustand für eine leichte Grippe. Er wird sich jeden Tag ein Bulletin erbitten, ein Entschluß gährt in ihm: wenn sie schwer krank wird, hält ihn keine Macht der Erde ab, zu ihr zu dringen. Die Gedanken sind Teufel, beinahe wünscht er das.
Aber es geht alles gut – sie ist endlich aufgestanden – bleibt außer Bett. Er grübelt – grübelt – kauft das wundervollste Blumenarrangement, das er finden kann, und schickt es hinauf.
Eine Stunde schwankt er – dann geht er selber.
Sie nimmt ihn an! Nicht im Empfangszimmer, sondern im Salon. Da sitzt sie am Kaminofen, mit dem matten Gesicht der Rekonvalescentin, steht auf. „Bleiben Sie sitzen, liebe, gnädige Frau“ – das fährt ihm so heraus, wie er abwehrend auf sie zueilt, sie lächelt ein wenig, als er sich rasch einen Stuhl nimmt, als wäre er hier Hausarzt.
„Wissen Sie auch, daß ich schwer gekämpft habe, ob ich Ihre Blumen annehmen sollte, Herr Doktor?“ sagt sie und ein schmerzlich verlegener Zug legt sich um ihren feinen Mund. „Ich muß es Ihnen sagen; es hilft nichts.“
Er sieht sie groß an, innerlich schnürt ihm ein jähes Gefühl bitterer Enttäuschung das Herz zusammen.
„Es genügt mir, daß dieser Kelch an mir vorübergegangen ist,“ brachte er endlich über die Lippen und zog die zwei Kinder, die sich an ihn drängten, jedes mit einem Arm an sich. „Ich komme nicht um Dank, gnädige Frau. Zerpflücken wir also diese Blumen! – Onkel Doktor freut sich, daß Mama gesund geworden, und das will sie nicht leiden, denkt euch …“
„Nein, nein – verwirren Sie mir die Kinder nicht …“
„Mama meint nämlich, sie sei die Frau von Einsiedel und ich sei der Doktor Hartmann und ein großer Narr …“
„Ich bitte, nicht weiter …“ unterbrach sie jäh und war blaß wie der Tod, wollte aufstehen, schloß aber in einem Schwächeanfall die Augen und blieb sitzen.
Er beobachtete sie unruhig.
„Die arme Mama ist noch recht schwach,“ sagte er, „und der Onkel Doktor ein solches Ungeheuer, daß er … gnädigste Frau …“
Er stand auf, ließ von den Kindern ab; sie schlug die Augen auf, es lag eine trostlose Verzweiflung darin.
„Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme … Sie sollen nicht glauben, daß sie keinen Wert für mich hat …“
Er holte tief Atem. „Ich bin ein grausamer Mann, gnädige Frau. Was sie mir da sagen, ist mehr, als ich im Augenblick verdiene. Damit ich glauben darf, daß es ehrlich gemeint und keine Phrase ist, mit der Sie mich abspeisen wollen: gestatten Sie mir noch fünf Minuten hier zu verplaudern. Ich werde sie nicht mißbrauchen. Dieser Nachwuchs hier soll helfen, glatte Wellen schaffen!“
Er nahm die Kinder an sich, die verschüchtert standen und von einem zum andern starrten, und setzte sich mit jener zuversichtlichen Selbstverständlichkeit, die den Widerspruch so schwer macht. Er fing an, mit den Kindern zu plaudern; die Frau Hauptmann lehnte sich zurück, ihre Hände hielten die gestickte Wolldecke fest, die sie über die Kniee gezogen hatte; die Augen in dem schmalen, blassen Gesicht, mit dem ernsthaften Blick, der jetzt so unsicher war, suchten in der Luft umher. Sie konnte dem warmen Ton seiner Stimme nicht widerstehen, der ihren Nerven so schmeichelte; fünf Minuten lang mußte sie ihn also noch dulden.
Die Kinder schleppten Spielzeug herbei; er fragte die Mutter nach dem Kleinsten, den er neulich gesehen hätte – ob er ihr Not mache. „O nein,“ sagte sie, „es ist ein ruhiges Kind, das viel schläft. Aber es entwickelt sich ein wenig langsam, wird ein wenig spät laufen und sprechen lernen.“
„Etwas rachitische Disposition,“ nickte er. „Das giebt sich bei richtiger Ernährung.“
So harmlos verliefen diese Minuten! Doktor Hartmann sah nach der Uhr. „Ich befreie Sie, gnädigste Frau, mache Platz für ungestörte Genesung.“ Einen Augenblick suchten beider Blicke einander, dann wich sie aus. „Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme.“ Sie fühlte, daß sie ihm die Hand reichen mußte – er hätte sie brennend gern an die Lippen geführt, aber er spürte ein Widerstreben und ließ ab.
„Ich nehme nichts, was Sie nicht freiwillig geben – sorgen Sie nicht,“ sagte er ruhig. „Auf morgen, ihr kleines Volk!“ Und er ging, ohne sich umzusehen.
„Das war überstanden,“ murmelte die blasse Frau. „Aber ich sehe kein Ende,“ gingen ihre Gedanken. „Wann wird er wiederkommen? Wozu muß ich kämpfen? Wozu mich immer wieder verteidigen? Und wie die Kinder an ihm hängen … da ist so schwer, abzubrechen!“
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Nun kam das Weihnachtsfest heran. Wenn auch Doktor Hartmann nicht immer daran gedacht hätte – die Kinder erinnerten zur Genüge. Er sehnte es herbei: dies Fest geht nicht vorüber, ohne daß man einander wieder berührt. Es ist einfach undenkbar. Man kann die Kinder nicht beschenken, ohne der Mutter eine Aufmerksamkeit zu erweisen – kein Geschenk, das ist ja ausgeschlossen, aber Blumen! Das sind verkleidete Gedanken, weiter nichts. Sie wird der Weihnachtsstimmung Rechnung tragen und wird sie annehmen. Wenn nicht Weihnachten, so wird er Neujahr oben sein!
Diese Frau sträubt sich, aber sie ist nicht unbefangen mehr. In den Giftkelchen, die sie ihm entgegen hält, ist etwas Honig. Und sie läßt ihm die Kinder! Er hat ein sicheres Gefühl, daß er sie bezwingen wird, das Gefühl aller großen impulsiven Kraft, daß sie unwiderstehlich ist. Aber es braucht Zeit, das muß er verwinden.
Er überlegt schon vor den Schauläden, was er für die Kinder einkaufen will …
Er ahnte nicht, wie das Nahen des Festes die blonde Frau über ihm peinigte, mit was für Entschlüssen sie umging. Alles erwartete er eher als das, was ihm drohte!
[812] Frau von Einsiedel war wieder genesen. „Jetzt muß man ein Ende machen,“ wiederholte sie sich unaufhörlich. „Gerade jetzt vor Weihnachten, wie schwer es auch ist, wie hart es aussieht! Denn einmal muß das Ende doch kommen. Er wird die Kinder mit Geschenken überschütten – wenn nicht um ihretwillen, so um meinetwillen. Er knüpft Verpflichtungen zu einem Netz über mich – es ist eine Feigheit, wenn ich das dulde. Ich will es zerreißen, ich muß es zerreißen. Ich muß den Mut dazu finden. Meine Kinder werden zwei Weihnachtsstuben haben: eine üppige, verschwenderische unten, eine ärmliche oben, bei ihrer Mutter. Das geht nicht. Darauf muß man sich stellen, um ihm verständlich zu machen, weshalb man ihm die Kinder nimmt. Man braucht keinen andern Grund zu nennen. Wenn ich die Kinder wieder für mich allein habe, so habe ich freie Hand gegen ihn – wir werden einander fremd, wie wir’s waren, als mich das Verhängnis trieb, jenen unglücklichen Brief zu schreiben …
Warum mußte ich hierher ziehen?
Ich suchte Frieden, und nun kämpfe ich – nach außen – in mir …
Vor Weihnachten muß es geschehen; er soll doch nicht erst für die Kinder einkaufen!“
Ein echter Dezembermorgen war’s, das Licht, das durch das breite Eckfenster der Berliner Stube fiel, so grau gedämpft, daß es zuerst die Augen des Doktor Hartmann auf sich zog, als er früh eintrat. Das Fenster war von oben bis unten dick zugefroren. Aber das Zimmer war warm, und die Lampe über dem Frühstückstisch leuchtete einladend, und auf dem Teller, da lag ein Brief.
Es gab einen Schlag an das Herz: das lange, schmale, lichtgrüne Couvert … er schellte erst … dann wandte er es um, und da war auch das Silbermonogramm.
Er starrte in die Flamme, mit abwesendem Blick … eine fatale Ahnung sprach unverständlich aus ihn ein. Da kam die Frau Fricke und trug den Thee auf.
„Wer hat den Brief da gebracht?“
„Das Kindermädchen von oben, Herr Doktor!“
„Es ist gut.“ Er hätte sich das selber antworten können, der Brief war ohne Marke.
Frau Fricke sagte sich: er ist schlechter Laune, und beeilte sich, zu verschwinden. Doktor Hartmann nahm Platz und riß das Couvert auf. Erst mußte er diesen Brief lesen, mochte drin stehen, was wollte.
„Sehr geehrter Herr Doktor!
So schwer es mir wird – ich muß Ihnen diesen Brief schreiben; zu meiner inneren Befreiung. Versuchen Sie, mir nicht allzusehr zu zürnen über das, was ich sage.“
„Das fängt gut an,“ preßte der Doktor durch die Zähne.
„Wie glücklich Sie auch meine älteren Kinder durch die gütige Art gemacht haben, wie sie sich ihrer angenommen, wie dankbar Ihnen mein Mutterherz dafür ist – ich leide darunter, schwerer als ich möchte. Abgerechnet den verzeihlichen Egoismus der Mutter, die sich gern den ersten Platz in den kleinen Herzen sichern möchte – diese Teilung der Kinder zwischen uns führt zu Konsequenzen, die eine Pein für uns beide sind. Wäre ein unbefangener Verkehr zwischen uns möglich, so würde ich diesen Brief nicht geschrieben haben: Sie wissen, warum ich das bezweifeln muß. Meine Zukunft ist abgeschlossen, ich wünsche mir nichts, als in Frieden meine Kinder erziehen zu dürfen; wenn Sie meine Lebenserfahrungen kennen würden, so würden Sie das begreifen und billigen. Ich will es – und ich muß es!
Glauben Sie mir das aufs Wort hin.
Ich bitte Sie, sich keinerlei Depensen für die Kinder zum Fest aufzuerlegen. Lassen Sie mich die Festtage benutzen, um meine Kinder wieder oben zu fesseln – es ist die beste Zeit dafür – und lassen Sie es meine Sorge sein, sie von Ihnen abzulösen, ohne daß eine Frage oder ein Vorwurf für Sie in ihren kleinen Herzen zurückbleibt. Sie sollen bei zufälligen Begegnungen die alte Zuneigung bei ihnen vorfinden.
Wenn Sie mir und meiner Zukunft Gutes wünschen, so verwinden Sie mit gutem Willen, was nicht zu umgehen ist … Jeder Versuch, es zu ändern, wäre nichts als eine Qual für mich. Ihre
Helene von Einsiedel.“
Doktor Hartmann sah sehr verstört aus, als er die beiden kleinen Bogen aus der Hand legte. Aber er biß die Zähne aufeinander. „Ich will Dich quälen!“ sagte er leidenschaftlich. „Ich will nicht auf Jahre hinaus verlumpen und vertroddeln, weil das Weib, das zu mir gehört wie mein Kopf und mein Arm, vor mir flüchtet! Was das für Marotten sind, verstehe ich nicht … aber das ist kein Abschiedsbrief. Du hast von dem Trank getrunken, schöne Frau, der selig oder verdammt macht, und ich bin Dein Schicksal...“
Er frühstückte hastig, zerstreut, las zwischendurch den Brief noch zweimal. Und er murmelte: „Meine Kinder … meine Puppen … Weihnachten ohne mich …“
Er wußte, was er thun würde.
Er ging zum Schreibtisch und schrieb eine Antwort:
„Gnädigste Frau!
Ich werde Ihnen den Uebergang erleichtern: morgen verreise ich auf ein Vierteljahr nach dem Süden.
Allein jeder, der geköpft werden soll, hat das Recht auf drei Dinge. Erstlich: genau zu wissen, weshalb er verurteilt ist. Zweitens: Abschied zu nehmen von denen, die ihm am nächsten stehen. Drittens: auf ein Henkersmahl.
Ich will mein Recht.
Fanden Sie den Mut, mir diesen Brief zu schreiben, so müssen Sie auch den haben, mich noch einmal zu sehen. Ich will nichts als eine Auskunft, ein Lebewohl und – Ihnen die Hand küssen, die mich schlägt! Der Ihrige
Doktor Hartmann.“
[814] Er drückte auf die elektrische Klingel und übergab den verschlossenen Brief an Frau Fricke zur Besorgung. „Apropos – ich verreise morgen bis zum Frühjahr.“
Frau Fricke starrte ihn an, als ob er ein Geist wäre. „Ach, Herr Doktor –“ sagte sie – „jetzt … gerade vor Weihnachten...“
„Gerade jetzt; sehen Sie sich gefälligst das Fenster da an – glauben Sie, daß ich aus den Tropen nach Berlin verzogen bin, um hier Champagner auf Eis zu markieren? Sie können das Vergnügen alle Jahre genießen, drei bis vier Monate allein zu wirtschaften!“
„Ach Gott – aber die Wäsche, Herr Doktor, die reicht nicht weit – wir wollten bald waschen ...“
„Da geben Sie sie schmutzig mit; waschen können sie in Italien auch. Jetzt besorgen Sie erst den Brief!“
Sie ging, kam wieder, räumte ab, verschüchtert und innerlich geknickt. Er war nach vorn gegangen, wartete – eine Stunde. Diese Frau Hauptmann mit ihren drei Kindern hatte „Lebenserfahrungen“ – für ihn verhängnisvolle Lebenserfahrungen! Was heißt das? Sie hat einen kranken Mann gehabt, der ihr gestorben ist – das hat sie mit allen Witwen gemein. Er war vielleicht nicht der beste – was geht ihn das an? Oder sie trauert noch, hat sentimentale Reminiscenzen … ah! er wird erfahren, welche Blätter hinter ihr rascheln!
Und wenn dieser Schwan in einen Sumpf getaucht wäre, er ist schneeweiß herausgekommen!
Sein Herz brannte – er wurde dieses Gefühl nicht mehr los, schon lange nicht mehr! Und seine Ungeduld wuchs. Er zündete sich eine Cigarre an, that ein paar Züge und vergaß, daß sie ausging. Da oben … die Kinderfüßchen! … die Wehmut beschlich ihn,’eine Art Heimweh nach den Stinimchen, dem lieben, zärtlichen Treiben … das Spielzeug staud um ihu her, der Bock glotzte ihu an und die große Puppe lag mit den geschlossenen Angen wie ein totes Kind …
Endlich! Also doch ein Bescheid.
„Hier, Herr Doktor,“ sagt Frau Fricke. „Die gnädige Frau ist eben ausgegangen.“
Er antwortet nicht, reißt das Couvert auf.
„Kommen Sie nicht! Ich appelliere an den Ehrenmann.
Mich bindet ein Eid: ich werde nie einem zweiten Manne angehören, wie schwer ich auch um meine Freiheit kämpfen müßte! Die Gründe kann Ihnen Doktor Cujavius, unser Arzt, sagen.
Die Kinder will ich abends auf eine Stunde zu Ihnen schicken.
Im heitern Süden streichen Sie aus Ihrem HerzenHelene von Einsiedel.“
Doktor Hartmann ist gar nicht niedergeschmettert, im Gegenteil, er lächelt. „Eid gegen Eid!“ Und er bedeckt das Billet mit Küssen. „Was ist es doch ein gut Ding um trotzigen Manneswillen!“
Er wird jetzt doch zu Doktor Cujavius gehen.
Im Augenblick ist dieser Mann auf Praxis, bis Nachmittag muß er warten. Also wird er die Zeit benutzen, um zu packen und zu ordnen, soweit er das ohne Frau Fricke besorgen kann, denn die kocht.
Die eine geheime Angst ist von ihm genommen: es steht kein Mann zwischen ihm und der geliebten Frau! Dies einzige, was er nicht auszudeuten gewagt, hätte allenfalls die Kraft gehabt, ihn hoffnungslos zu machen.
Er speist und geht, sich bei einem Adreßbuch um die Nachmittagssprechstunde des Doktor Cujavius zu befragen, und er richtet es so ein, daß er kurz vor Beginn derselben seine Karte zu ihm hinein geben kann. Dieser Kollege hat ein gutes Gedächtnis, denn er erinnert sich der Begegnung auf der Treppe.
„Frau von Einsiedel ermächtigt mich, Sie um Mitteilungen über ihre Vergangenheit zu fragen. Haben Sie ein paar Minuten dafür übrig? Ich wäre Ihnen dankbar,“ sagt Doktor Hartmann.
„Mit Vergnügen. Nur muß ich befürworten, daß ich nichts von ihr weiß als die Leidensgeschichte ihrer letzten Jahre!“
„Ich denke, eben darum handelt es sich.“
„Die alte Geschichte einer Frau, die einen Morphinisten zum Manne hat – allerdings mit erschwerenden Umständen! Der Hauptmaun war nämlich ein ungewöhnlich rücksichtsloser Mensch, wenn er in Depression war. Sie können sich die Scenen ungefähr denken, wenn sie darauf bestand, ihm das Morphium zu entziehen. Er war leider bereits völlig haltlos, als ich ihn in die Hände bekam; die Frau jammerte mich unsäglich: er hat sie mißhandelt – das eine Mal war sie nahe daran zu verbrennen, als er des Nachts die brennende Petroleumlampe nach ihr geworfen. Sie selber ist eine seltene Frau, von großer Charakterstärke … Ihnen brauche ich ihre Vorzüge wohl nicht auseinanderzusetzen?“ Er sah den Besucher verständnisvoll an.
Doktor Hartmann lächelte ein ganz klein wenig.
„Ich höre, der Mann ist in einer Anstalt gewesen?“
„In einem glücklichen Augenblick haben wir’s geschafft – er war sechs Wochen in der Maison de santé. Dann hat er die arme Frau mit den beweglichsten Briefen überschüttet: er sei gesund, sie solle ihm verzeihen … kurz, sie wurde schwach, ließ ihn wiederkommen … natürlich wurde er alsbald rückfällig und sie hatte wieder die alte Last, und ich auch. Sie hat sich musterhaft benommen, mit wahrhaft rührender Pflichttreue; und weun er seine gehörige Dosis Morphium hatte, die er sich hinter ihrem Rücken doch verschaffte, erkannte er das weichmütig an – sonst war er so brutal wie möglich. Mehr als einmal hat er sie umbringen wollen – am Ende that er das Gescheiteste, was er thun konnte: er jagte sich eine Kugel durch den Kopf; in ihrer Gegenwart, gerade als sie mit Morphium gekommen, das sie ihm in der Verzweiflung am Ende selber geholt hatte.“
Hartmann hatte nur ab und zu gemurmelt zwischen dem Bericht des Doktor Cujavius. Jetzt sagte er bloß: „Die Unselige!“
„Ihre Familie hatte gewollt, sie solle sich von dem Manne trennen, aber sie hat sich entschieden geweigert, ich glaube, daß sie darüber mit den Ihrigen zerfallen ist. Mit einem Bruder von ihr habe ich einige Briefe gewechselt, er ist Rittmeister bei den blauen Husaren. Ich fürchte, ihre Verhältnisse sind keine sonderlichen – ihr Mann hat vor der Ehe arge Schulden gehabt und nachher sehr viel verbraucht. Sie hat übrigens die Verhältnisse nach dem Tode ihres Mannes ganz allein geordnet: ein Freund von mir, ein Rechtsanwalt, hat ihr geholfen; wie er mir sagt, hat sie jede Einmischung der Familie zurückgewiesen.“
„Wer ist denn Vormund der Kinder?“
„Eben mein Freund. Der Herr Hauptmann hat nicht einmal ein Testament gemacht.“
Im Nebenzimmer scharrten und murmelten Patienten und Doktor Hartmann stand auf und nahm seinen Hut.
„Ich danke Ihnen, ich weiß jetzt genug. Wie lange ist sie Witwe?“
„Etwas über ein Jahr.“
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Doktor Hartmann war abgefahren, direkt durchgefahren bis Rom.
Er hatte an jenem Abend noch eine glückliche Stunde mit „seinen Kindern“ verlebt: seit der Unterredung mit dem Doktor Cujavius war eine große Ruhe bei ihm eingekehrt. Nur als er die Kinder entließ, überkam ihn eine weiche Stimmung, er küßte die beiden kleinen Geschöpfe immer wieder, was ganz gegen seine sonstige Art war, und schenkte ihnen das ganze Spielzeug, sie sollten es sich hinauf holen lassen.
Und diesen Brief sollten sie der Mama geben!
Es war nichts drin als seine Visitenkarte mit dem bekannten p. p. c.; aber auf der Rückseite standen die Worte: Ich warte.
Im übrigen hatte Frau Fricke Anweisung, pünktlich alle acht Tage ein Telegramm an ihn „postlagernd Rom“ zu senden, um ihn über das Befinden der Familie oben auf dem Laufenden zu erhalten.
So glaubte er gerüstet zu sein, um die Entfernung für ein Vierteljahr zu ertragen.
Und es ging. Selbst als Frau Fricke schrieb, die Frau Hauptmann hätte nicht gelitten, daß das Spielzeug zu den Kindern hinauf geschafft würde, that ihm nur drei Tage das Herz weh wie einem Kletterer, dem die Möglichkeit aufgeht, daß er sich rettungslos verstiegen hat.
„Nichts Neues,“ sagten die Telegramme, und das klang wieder so tröstlich!
Nur eins quälte ihn immerfort, und das war unsägliche Langeweile. Er hatte nicht die mindeste Lust, Bekanntschaften zu machen, noch Geduld, um sich die geistigen Genüsse zuzuführen, die man in Italien sucht. Er ging nach Neapel, nur um in dem größten Lärm, den man in Italien finden kann, recht einsam zu sein, und er blieb dort, als er im Museum einen ausgegrabenen Frauenkopf gefunden, der ihn an die geliebte Frau daheim erinnerte. Möglichst oft ging er dahin wallfahrten.
[815] Zweimal bereitete ihm die Gewissenhaftigkeit der Frau Fricke heitere Minuten, indem sie ihm telegraphierte: Oben hat alles den Schnupfen.
Im Februar wurde er unruhig und fuhr nach Florenz. Im März nach Nizza. Dort traf ihn ein Telegramm, welches besagte: Bodochen hat Darmkatarrh.
Bodochen – also das Kleinste.
Nun – der Doktor Cujavius hat ihm nicht mißfallen; das Kind wird also in leidlich vertrauenswürdigen Händen sein. Aber er depeschiert an Frau Fricke: Sofort telegraphieren, wenn eine ungünstige Wendung eintritt. Er bekommt zwei der gewöhnlichen Wochentelegramme: Bodochen noch nicht besser.
Drei Wochen – rechnet er nach – das ist ängstlich! Und er besinnt sich, wie lange er zu fahren hat, ehe er nach Berlin kommt. Und plötzlich überfällt ihn eine quälende Sorge – und eine Sehnsucht, nicht zu bändigen!
Weshalb soll er genau drei Monate absitzen? Er hat keinen Eid darauf geleistet. Es handelt sich ohnehin nur noch um Tage.
Er ermittelt den nächsten Kurierzug, rüstet Hals über Kopf die Abreise und fährt.
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Es ist Abend, als Doktor Hartmann im Anhalter Bahnhofe eintrifft; er nimmt eine Droschke erster Klasse, um in seine Wohnung zu gelangen. Frau Fricke ist telegraphisch von der Zeit seiner Ankunft verständigt, hat am Fenster gewartet.
„Guten Abend, Frau Fricke,“ sagt er, als er sie an der Hausthür gewahrt. „Wie steht’s mit dem Kinde?“
Jetzt sieht er erst, was sie für ein Wehmutsgesicht schneidet. Er läßt sich den Koffer vom Bocke geben.
„Ist es tot?“
„Nein, Herr Doktor; aber der Arzt hat der Frau Hauptmann gesagt, es würde diese Nacht schwerlich überleben, sie solle drauf gefaßt sein! Es wäre schon nach dem Gehirn gegangen.“
„Gehirnhautentzündung wahrscheinlich.“
„Ja, ich glaube. Das Mädchen sagt, der Kleine macht ganz abwesende Augen und wimmert bloß und wirft den Kopf hin und her. Die gnädige Frau hat schon ein paar Nächte gewacht und ist wie halbtot, so daß sie kaum die Augen offen halten kann.“
„So,“ sagt er, „das ist schlimm … Fassen Sie mal den Koffer mit an!“
Sie haben das noch vor der Hausthür verhandelt. Jetzt fassen beide an, um den mäßig großen Koffer treppauf zu schaffen.
„Ich besorge gleich Abendbrot, Herr Doktor,“ spricht oben ihre klagende Aeolsharfenstimme.
„Das ist nicht nöthig, ich habe im Restaurationswagen gegessen. Holen Sie mir nur eine Flasche Wein herauf – eine mit der großen Goldkapsel, wovon noch fünf da sind – ich werde inzwischen einen Gang in die Apotheke thun.“
„In die Apotheke? Ach Gott, wenn Sie helfen könnten!“
„Weiß ich nicht. Apropos: wissen sie oben, daß ich kommen wollte?“
„Ja, Herr Doktor, ich hab’ es dem einen Mädchen gesagt.“
„Hm! Es ist gut so.“
Er hat noch den Hut auf dem Kopfe und geht. Als er wiederkommt, steht die Flasche entkorkt da. Er stürzt hastig ein paar Gläser hinunter, so wie er ist, eine Minute später drückt er oben an die Klingel bei der Thür.
Das Hausmädchen öffnet mit einer Leidensmiene.
„Ach, der Herr Doktor! – Die gnädige Frau sitzt hinten bei Bodochen …“
„Wo ist das?“ Er nimmt den Hut ab.
„In ihrem Schlafzimmer.“
„Schlafen die andern Kinder schon?“
„Ja.“
„Führen Sie mich zu Ihrer Herrschaft.“
Sie gehen bis auf den Korridor der hinteren Räume und das Mädchen zeigt auf eine Thür. Aus der offenen hellen Küche blickt neugierig das Kindermädchen. Die Führerin klopft leise an, öffnet und haucht in die Spalte: „Gnädige Frau, der Herr Doktor!“
Doktor Hartmann sieht, wie sie schattenhaft sich langsam erhebt – das Bild seiner Träume und Gedanken, das ihm vertraut ist wie dem Frommen der Gott seiner Gebete. Sie ist offenbar der Meinung, daß es der Hausarzt sei, der kommt, denn als sie aufblickt, den Doktor Hartmann vor sich sieht, der die Thür hinter sich geschlossen, verwirren sich ihre Augen und sie hebt mechanisch die Hände, wie um ihn abzuwehren.
Eine kleine Lampe mit rosa Blendschirm wirft ein dämmriges Licht hinter ihr.
„Sie?“ sagt die arme Frau und läßt zögernd die Hände sinken. „Sie?“ Und sie nimmt ein Taschentuch und drückt es auf die Augen.
„Helene,“ spricht er halblaut mit seiner tiefen, warmen Stimme, „ich bin gekommen, das Kind zu retten.“
Er weiß es gar nicht, daß er sie beim Vornamen nennt. Und sie antwortet nichts als ein tonloses: „Das ist nicht mehr möglich.“
„Der Doktor Cujavius sagt das. Ich glaube noch nicht dran. Wird er diese Nacht kommen?“
„Nein. Er sagt, es wäre zwecklos. Doch dachte ich …“
„Ich wäre er. Nun gut. Es ist ein anderer Arzt. Das Kind ist aufgegeben und Sie wagen nichts. Ich werde diese Nacht bei ihm zubringen und ich hoffe – verstehen Sie recht: ich hoffe! – es zu retten. Wie lange hat es diese Zufälle?“
Das Kind im Wagen wimmerte und regte sich wie in Zuckungen hin und her.
„Seit gestern.“
„Gut. Ich stelle eine Bedingung: ich sitze diese Nacht mit dem Kinde allein in der Küche – der Aufenthalt dort ist kühl, die Nähe des Herds und der Wasserleitung ist von Nutzen und Sie werden schlafen ...“
„Um keinen Preis …“
„Sie werden schlafen, Helene, denn Sie sind totmüde, ich weiß, daß Sie die letzten Nächte gewacht haben,“ sagte er ungeduldig durch die Zähne. „Ich werde mir von den Mädchen geben lassen, was ich brauche. Das Kind stirbt diese Nacht nicht.“
Sie kannte diesen Ton – eisern, wie das Muß des Schicksals; es lag eine zwingende Kraft darin.
„Mein Gott … ich bin müde … aber ich werde nicht schlafen können …“
„Sie werden es doch können!“
Sie schwieg.
„Doktor Cujavius sagt, das Kind dürfe nicht zu trinken bekommen,“ sprach sie schwach.
„Ich übernehme die Verantwortung für meine Maßregeln,“ antwortete er. „Und jetzt vertrauen Sie auf die geheimnisvolle Macht, die mich hundert Meilen entfernt antrieb, heute hier zu sein.“
Er ging an ihr vorüber, ergriff die Lampe, schlug das Verdeck des Kinderwagens zurück und beleuchtete das Gesicht des Kindes: ein faltiges Greisengesicht mit starren glasigen Augen. Es stieß wieder die irren Jammerlaute aus und zuckte mit dem Köpfchen.
„Mein Junge – wie sieht er aus!“ sagte sie mit mühsam aufrecht erhaltener Fassung. Dann überlief sie ein Zittern der Schwäche, sie sank auf einen Stuhl und preßte die Hände vors Gesicht; ihre Kräfte waren vollkommen erschöpft.
Er sah nicht zu ihr hinüber. „Gute Nacht, Helene! Ich muß das Kind retten – ich muß es retten – wiederholen Sie sich das so lange, bis Sie drüber einschlafen!“ Dabei setzte er die Lampe fort, öffnete die Thür und zog den Wagen aus dem Zimmer.
Sie hinderte es nicht; eine abergläubische Stimme sprach ihr zu: „Warum ist er hier, gerade heute? Das ist ein Wunder!“ So tröstlich war es, darauf zu hören … und sie ist so müde … so abgestumpft … sonst wäre ja das alles unmöglich …
Der Doktor Hartmann steht neben dem Wagen in der Küche und spricht mit dem Mädchen. Er hat den Ueberzieher anbehalten – es giebt eine kühle Nacht in der Küche – nur den Hut auf den Tisch geworfen. Er verlangt eine Lampe – die Deckenlampe da muß ausgelöscht werden – ein Paar feine Handtücher, einen Theelöffel, ein Glas; er fragt, ob sie abgekochtes Wasser da haben, und läßt sich zeigen, wie er im Notfall eine von beiden herausklopfen kann.
„So. Nun geht zu Bett!“
„Gute Nacht, Herr Doktor!“
Er zieht die Uhr, es ist halb elf geworden.
So ist er allein mit dem halb verlorenen Kinde, in der matt erleuchteten Küche. Er spielt va banque, das weiß er: wenn er siegt, gewinnt er alles; wenn er verliert, ist alles verspielt. Er will siegen – und es ist möglich!
Ans Werk also!
Er beugt sich zu dem Kinde hinab: es hat immerfort die Augen offen und in kurzen Pausen wimmert es und zuckt mit dem [816] Kopfe; das bleiche Faltengesichtchen, so zusammengeschrumpft, ist doppelt mitleidswürdig in den üppigen braunen Löckchen.
Er zieht ein Fläschchen mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit aus der Tasche, flößt mit dem Löffel dem Kinde erst davon, dann etwas Wasser ein, wobei er das Köpfchen festhält. Darauf geht er die Handtücher holen, taucht sie in den Eimer, ringt sie aus und faltet sie zusammen. Das eine legt er unter den Kopf des Kindes, das andere wickelt er ihm um den Leib und deckt es sorglich zu. Nun ergreift er einen Küchenstuhl und setzt sich vor den Wagen.
Mäuschenstill alles, nur die Küchenuhr tickt, in der Lampe zischt das verbrennende Petroleum, und ganz fern verworren murrt das Nachtleben der Großstadt.
Jetzt stößt das Kind wieder seine Klagetöne aus. Wird er es retten? Das eigentliche Uebel ist nicht in einer Nacht zu heben – aber diese toddrohende Wendung, die es genommen! Und nach einiger Zeit steht er auf und untersucht die Tücher, sie sind heiß, daß sie rauchen. Er nickt befriedigt, näßt sie wieder durch und bringt sie an die alte Stelle.
Dann sitzt er wieder, der verkörperte Rettungswille. Die Krankheit hat den Kampf mit ihm aufgenommen – das ist schon etwas. Und als er wiederum untersucht, weiß er, daß es lohnt, ihn durchzuführen: so heiß wieder die Tücher!
Wohl eine halbe Stunde vergeht.
Er kümmert sich nicht um die Zeit, er näßt ab und zu die Tücher, wenn sie durchhitzt sind. Die kläglichen Laute verstummen, das Kinderköpfchen liegt ruhig. Und wie er jetzt fühlt, ist das Tuch unter dem Kopf nur wenig erwärmt.
Er legt es fort, wickelt das andere ab, der kleine Leib ist kühl. Sorgfältig deckt er das Kind zu, und wie er einen Blick in das Gesichtchen wirft, sieht er, daß die Augen geschlossen sind, und hört ruhiges Atmen. Der kleine Patient ist eingeschlafen.
Ein wundervolles Glücksgefühl durchströmt den Arzt, wie er es nur als Student bei seinen ersten Erfolgen empfunden hat, und es hält vor – er kann es ausgiebig durchkosten. Es geht auf und nieder, wie ein Feuer, und manchmal fährt’s wie ein Windstoß hinein, daß es hell aufschlägt. So hält er die einsame Wacht weiter, nur ab und zu sich vorbeugend, um die ruhigen Atemzüge zu hören.
Er weiß nicht, wie lange. Eine leichte Ermüdung bemächtigt sich seiner, die wilde Eisenbahnfahrt übt ihre Nachwirkung und er versinkt langsam in sich.
Plötzlich fährt er auf, nur ein ganz leises Geräusch in den Kissen war es, was ihn geweckt. Er steht auf, beugt sich zu dem Kinde, das hat die Augen offen. Noch tiefer – das sind doch klare, verständige Kinderaugen … Er holt die Lampe näher, bei Gott, das ist nicht mehr der wirre Idiotenblick, das sind gesunde Augen, die ihn verlangend ansehen, und dieser jetzt übergroße Mund mit den schmalen Lippen führt Bewegungen aus wie ein schluckender Fisch. Es hat Durst! sagt Doktor Hartmann für sich.
Er mischt frisches Wasser mit abgekochtem, warmem, und setzt das Glas an des Kindes Lippen. Das trinkt – trinkt, unersättlich. Er nimmt das Glas fort, aber die schmalen Lippen bitten um mehr.
Dann sinkt das Köpfchen schlaff zurück, nach Sekunden ist das Kind wieder eingeschlafen.
Der Arzt auf dem Küchenstuhl sitzt wieder in verdämmerndem Bewußtsein – das Kind weckt ihn noch einmal, zweimal – es will trinken. Und Doktor Hartmann giebt ihm und lächelt – „Nichts zu trinken geben!“ hat der Kollege Cujavius anbefohlen!
Dann schlafen sie beide, das Kind und der Arzt. Der Kopf des Doktor Hartmann ist fast bis auf die Kniee hinabgesunken.
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Die Küchenuhr zeigt die fünfte Stunde, da öffnet sich leise die Thür vom Korridor her; die junge Mutter, mit der angstvollen Frage in den Augen. Sie sieht aus, wie Doktor Hartmann sie am Abend zurückgelassen – so hat sie sich auf das Bett geworfen, geschlafen wie eine Tote, ist plötzlich erwacht und weiß nicht, warum.
Doktor Hartmann ist beim leisen Knirschen der Klinke aufgefahren, aufgesprungen, so munter, als hätte er den Kopf in Wasser getaucht.
Er hat das erlösende Wort für sie – aber wie sie dasteht, mit all ihrem edlen Reiz, so hilflos bange, so mädchenhaft, da überkommt’s ihn, nimmt ihm den Atem; sein Herz stockt, die Hände sind ihm eiskalt, wie er auf sie zutritt. Sie fragt ihn nichts, nur ihre Augen suchen ihn. Er lächelt schwach – ein Lächeln wie in Schmerzen, und dicht vor ihr breitet er die Arme, und eine Flut von Leidenschaft bricht aus seinen Blicken über sie – und dann fällt er nieder und umfaßt ihre Kniee …
„Helene,“ sagt er mühsam, „da ist Dein Kind, und es wird leben!“
Sie steht wie erstarrt, aber aus ihren Augen fallen die Thränen auf ihn, und ihre Hände streicheln weich über sein Haar.
„Was thu’ ich!“ … spricht sie über ihm … „Mein Eid … ich hab’ es ja verschworen ... Aber mein Kind! mein Schmerzensreich! …“