Kiew und seine heiligen Stätten

CCXC. Göthe’s Gartenhaus in Weimar Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band (1840) von Joseph Meyer
CCLXXXXI u. CCLXXXXII. Kiew und seine heiligen Stätten
CCLXXXXIII. Oerbyhus bei Stockholm
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KIEW

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DIE HEILIGEN-GRUFT
in Kiew

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CCLXXXXI u. CCLXXXXII. Kiew und seine heiligen Stätten.




Was für Griechenland Athen und seine Akropolis gewesen, was für das römische Weltreich die alte Roma war und das Capitol, und was für die abendländische Christenheit das neue Rom ist, daß sind für Rußlands Reich und Kirche Moskau und Kiew. Hier wie dort schlugen die zwei Hauptgewalten des staatlichen Lebens ihren Sitz auf: die politische und die geistliche. Was die Kaiser und Auguren in der alten, die Päbste in der neuen Roma, Könige und Volk in Athen bauten und formten, errichteten und bildeten die Großfürsten, Czaare und Patriarchen im Kreml und auf den Höhen von Kiew. Beide Städte bewahren die heiligsten und theuersten Besitzthümer des russischen Volks, die ehrwürdigsten Symbole seiner Nationalität, die belehrendsten Denkmäler seiner Geschichte: vorzugsweise Moskau für die spätern Zeiträume, Kiew für die frühern und ältesten.

Beneidenswerth ist Kiew’s Lage im Herzen des eigentlichen Rußlands, in der Mitte der fruchtbarsten und gesegnetsten Provinzen eines jetzt unermeßlichen Reichs. Seine Mauern umspült der schiffbare Dniepr; grasreiche Thalgründe, fette Fluren umfassen es, köstliche Rebengelände decken anmuthig die Höhen; in weiterer Entfernung aber umgibt es ein breiter Waldgürtel, aus dem Hauptquellen des Erwerbs fließen.

„Beim Austritt aus dem Dunkel des Gehölzes,“ so beschreibt ein Reisender, „entdeckten wir über einer grauen Nebelschicht Kiew. Die heilige Stadt stand wie in der Luft, oder am Himmel, und die Strahlen der aufgehenden Sonne, die auf den goldbedeckten Spitzen seiner Tempel flammten, boten ein prachtvolles und seltenes Schauspiel dar! Der Weg führt durch den Wald in tiefem Sande; zur Seite wanderten lange Züge von Pilgern und Pilgerinnen, in Andacht versunken. Gläubige Frömmigkeit und Gottesfurcht sind noch mächtig unter den russischen Völkern. Ein Jahrtausend ist verflossen, seit das Licht der Offenbarung sich von Kiew aus über Rußland verbreitete und trotz der babylonischen Gefangenschaft unter Batu Chan und der Verwüstungen und langen Herrschaft der Polen hat das Volk sein Jerusalem doch nicht vergessen. Besonders ist die Verehrung Kiew’s unter dem weiblichen Theil der Bevölkerung groß, und viele tausend russische Frauen thun das Gelübde, jährlich einmal die heiligen Gebeine in Kiew zu besuchen und erfüllen es, – freilich oft mit Aufopferung auch heiliger Pflichten als Mütter und Hausfrauen, – pünktlich bis zum Ende ihres Lebens. Solche Pilgerfahrten dauern, wenn sie, was häufig der Fall [32] ist, aus den entferntern Provinzen geschehen, wohl einige Monate. Dreist aber unternehmen sie die Gläubigen ohne einen Kopeken in der Tasche, denn überall, wo sie im Namen des Herrn eintreten unter ein ländliches, russisches Dach, finden sie offenen Tisch und bereite Aufnahme. Der gastfreie Bauer verlangt dafür nichts, als ein Gebet vor den Gebeinen der Heiligen.“

„Noch einmal verschwand Kiew hinter eine Anhöhe, und erst vom Gipfel derselben zeigte es sich wieder. Unvergeßlicher, entzückender Anblick! Gerade vor uns, auf den Bergen am Dniepr-Ufer, erheben sich aus Hainen und Wäldchen die schlanken Glockenthürme und schimmernden Dome der heiligen Klöster, und am äußersten Ende der Vista Kiew selbst, dessen unteren Theil (Podol) wir eines Blicks überschauen konnten[1]. Der breite Dniepr wälzte, vom Nordwinde gereizt, zornig seine ungestümen Wellen an den Felsen hin, und lange, schmale, schwerbeladene Fahrzeuge kämpften in der Mitte des Stroms mit dem furchtbaren Elemente. Dem Klosterberge graenüber liegt eine Fähre zum Ueberschiffen der Reisenden und Pilger. Als wir vom Ufer abstießen, bekreuzigten sich die Weiber und murmelten stille Gebete zu ihren Heiligen; ein durch die Jahre gebeugter Greis faltete aber feierlich die Hände und sprach, das erlöschende Auge voller Inbrunst nach dem nahen Ziele seiner weiten Wallfahrt richtend, die Worte des heil. Damascenus mit feierlicher Stimme: „„Siehe, das irdische Meer erhebt sich und droht mich im Sturme zu verderben; führe mich, ich flehe, in deinen sichern Hafen und errette mich, o Gott!““

„Nach glücklicher Ueberfahrt schickten wir uns an, den auf allen Punkten mit starken, von Peter dem Großen angelegten Festungswerken umgebenen Klosterberg auf dem gewöhnlichen Wallfahrtswege zu besteigen, der zwischen vorspringenden Felswänden und von den Batterien der Bastionen beherrscht, ziemlich steil hinangeht. Wir gelangten zur Mauer des Katakomben- oder Höhlenklosters, das auf dem vom Dniepr scharf abgeschnittenen Felsen prangt. Die weite Mauerpforte, die ein alter Laienbruder hütet, ist mit Heiligenbildern bemalt, und innerhalb sahen wir zwischen Blumen- und Gemüßbeeten in einer weitläufigen Gartenanlage mehre Reihen kleiner Zellen. Die eigentlichen Klostergebäude bilden 4 abgesonderte Gruppen und jede hat ihren besondern Namen: Das Laurakloster (die höchstgelegene Gruppe), das Krankenkloster, das Kloster der nahen Höhlen und – das entlegenste aller – das Kloster der fernen Höhlen. Das Laurakloster ist die älteste christliche Stiftung in ganz Rußland. Gründer war ein Mönch vom Berge Athos, der heilige Anton, Zeitgenosse Wladimir’s des Heiligen, der in einer Höhle des Berges sich im Jahre 1017 als Einsiedler einrichtete. Der Ruf seiner Kasteiungen und seines frommen Wandels verbreitete sich zugleich mit dem Christenthume im russischen Lande, und durch die [33] vielen frommen Gaben sah sich der Klausner im Stande, seine kleine Einsiedelei in ein Kloster zu verwandeln. Anfänglich bestand die Brüderschaft aus nur 4 Personen, dann sammelten sich 12 Brüder, und mit ihnen und tausenden von freiwilligen Händen grub Anton die große Höhle zur Kirche und andere zu Zellen, Vorrathskammern und Wohnungen aus. 56 Jahre lang kam Anton nicht an das Tageslicht und eben so treu hielten die übrigen Brüder ihr Gelübde, in den Höhlen zu leben und zu sterben. Als endlich die unterirdischen Räume die immer häufiger herzuströmenden Pilger nicht länger mehr fassen konnten, bauten die Mönche, mit Unterstützung der Gläubigen und des Großfürsten Isgaslaw, der ihnen den ganzen Berg bis an die Stadtmauer schenkte, eine Kirche auf der Höhe und Zellen für 100 Brüder. Baumeister dazu wurden aus Constantinopel gerufen und die Kirche zu Mariä-Himmelfahrt genannt. Der griechische Patriarch schickte die Gebeine von sieben Heiligen; und in das Fundament der Kirche setzte man sie ein in silbernen Särgen. Andere Reliquien und ein wunderthätiges Marienbild wurden in der Kirche selbst aufgestellt. Der Ruf dieser Heiligthümer verbreitete sich bald über die ganze Christenheit; sogar von Constantinopel und Cairo kamen Pilgerschaaren. Die Zahl der Mönche stieg auf 200, und der Klosterschatz auf viele Millionen. Die fortwachsende Vermehrung der Brüder gab zum Bau noch anderer Klöster Anlaß, und am Ende des 11. Jahrh. waren ihrer 12 mit 750 Mönchen vorhanden. Aber 1096 fielen die damals noch heidnischen Polen in’s Reich, plünderten Kiew, zerstörten die Klöster, vertrieben die Mönche und raubten die nur theilweise geretteten Schätze. Kaum wieder aufgebaut erlitten sie 1169 neue Verheerung, und i. J. 1240 stürmten die Mongolen herein, legten alle Städte und Dörfer des Landes in Asche, und die in dem Höhlenkloster Schutz suchenden Einwohner Kiew’s wurden an den Altären niedergehauen. Der Chan der Mongolen, Batu, ließ, nachdem er geraubt hatte, was er finden konnte, die Gebäude in Brand stecken und führte die übrige Bevölkerung gefangen mit sich fort. 200 Jahre lang blieb hierauf die heilige Stätte verödet. Erst i. J. 1470 stellte ein litthauischer Herzog die unterirdischen Verehrungsplätze wieder her; später erhoben sich auch die Kirchen und Gebäude aus dem Schutte, bis in einer stürmischen Nacht, vom 21–22. August 1718, eine Feuersbrunst alle Gebäude des Bergs, damit auch die Marienkirche, sammt Archiven, Bibliotheken etc. etc. verheerte. Ihr letzter Wiederhersteller war Peter der Große.

Die neue Maria-Himmelfahrtskirche ist eines der schönsten kirchlichen Gebäude Rußlands und ihr prächtiger Glockenthurm, 340 Fuß hoch, ein Meisterstück der Architektur. In seinem Aeußern gleicht jener Tempel der Kathedrale des Kreml; er ist, wie diese, mit sieben kugelförmigen goldenen Kuppeln, wie mit einem Kranze geziert, eine Bauart, die weder byzantinisch, noch weniger gothisch ist und den eigentlichen russischen Kirchenstyl ausmacht.

Merkwürdig ist, daß die vielen Reliquien dieser Kirche durch alle Wandlung der Zeit, der Raubsucht und Zerstörung sich unversehrt erhalten haben, und das gläubige Volk fest in die Wahrheit der Legenden und Geschichten [34] von ihrer mirakelvollen Rettung aus Feuers- und Feindesgewalt eben so wenig Zweifel, als in ihre Wunderthätigkeit selbst. Die Hauptreliquien ruhen im „Allerheiligsten“, vom übrigen Tempelraume durch ein Thor von massivem Silber geschieden. In einem mit Silberblech überzogenen Schreine von Cypressenholz liegt der Zeigefinger des heil. Stephan und der Kopf des heil. Wlademir; ein silberner Sarg umschließt die Ueberreste des heil. Michaels, ersten Metropoliten Kiew’s; das Grabmal des heil. Theodosius, mit gleichfalls silbernem Sarkophage, ist in der Vorkirche auf der rechten Seite. Unzählige andere Reliquien: Finger, Nägel, Späne vom heil. Kreuze, Marterinstrumente etc. etc., zum Theil in den kostbarsten Hüllen mit Gold und mit Edelsteinen besetzt, sammt den äußerst reichen Gefäßen, Kirchengeräthen, Heiligengewändern u. s. w. machen einen Schatz von vielen Millionen an Werth, welcher in einem besondern Gebäude aufbewahrt wird. In diesem befindet sich auch die Druckerei für die Kirchenbücher.

So groß auch die Verehrung der oben beschriebenen Reliquien ist, so sind sie doch nicht das Endziel der wallfahrenden Menge. Dies ist nicht über der Erde; es ist in den Katakomben, Kapellen und Kirchen im Innern des Berges.

Eine bedeckte, fast 600 Fuß lange und in eine Felsenschlucht gebaute Gallerie, führt aus der Maria-Himmelfahrtskirche zu dem Eingang der heiligen Grüfte. Aehnlich den bekannten Höhlen der ältern Kalk- und Gypsformation bestehen sie aus einer Menge größerer, als Kapellen und Kirchen hergerichteter Räume, die durch labyrinthische, bald schmale, bald enge Gänge mit einander verbunden sind. Pfeiler und Gewölbe von solidem Mauerwerk stützen in den größern Höhlen die Decken.

In diesen Höhlen sind die Leiber von mehr als hundert Heiligen aufbewahrt, welche nicht verwest, sondern ausgetrocknet sind. Sie liegen, zum Theil in kostbar geschmückten Särgen, in Grabnischen, und einige sind in halb oder ganz geöffneten Sarkophagen, bewacht von Mönchen, der Verehrung ausgestellt. Ein Paar der Heiligen, angethan im Mönchsgewand, stehen sogar hinter Altären aufrecht, und die schweigenden, hohläugigen Gestalten recken pergamentartige Hände den Gläubigen zum Kusse hin. In diesen Labyrinthen des Todes rastet nimmer das Leben der Andacht. Tag und Nacht ziehen die Pilger in langen Schaaren aus und ein, und die feierlichen Umgänge mit Gesang und Fackelschein nehmen kein Ende. Bei jedem Altare brennen Kerzen auf silbernen Leuchtern, stehen hohe, ernste Gestalten, Gnade spendende und Opfer empfangende Priester, liegen Gläubige in demuthvollem Gebet um Vergebung ihrer Sünden oder Erlösung von Uebeln. Selig preist sich der gemeine Russe sein Lebenlang, der Andacht gehalten hat in den heiligen Grüften. –

Unfern der eben beschriebenen Klöster und zum Theil noch innerhalb des Festungsrayons, breitet sich Neu-Kiew aus, der schönste Theil der Stadt, mit seinem Kaiserpalast und einem geschmackvoll angelegten Park. Dieser Stadttheil wird durch eine tiefe Schlucht von Alt-Kiew und dem tiefer liegenden Podol geschieden. Jenes [35] liegt auf einer Höhe, die sich von der Schlucht nordwärts hinzieht. Hier ist jede Stelle classischer Boden und von kirchlicher oder historischer Wichtigkeit. Die Kathedrale der heil. Sophia ist die älteste in ganz Rußland und hat einen Schatz, den man auf mehr als 20 Millionen Rubel würdigt. Sie steht auf derselben Stelle, wo Jaroslaw das Heer der Petscharegen 1036 in zweitägigem Kampfe auf’s Haupt schlug. Jener Fürst ließ die Kirche nach dem Modell der heiligen Sophia in Constantinopel durch griechische Architekten bauen und er verwendete große Schätze, die Beute vieler Siege, zu ihrer Ausschmückung. Ihr Hauptthor war von purem Golde. Spuren ursprünglicher Pracht bezeugen noch die Mauern des Altars, die mit einer Mosaik aus Gold und kostbaren Steinen bedeckt sind, dem ältesten Denkmal russischer Kunst. Das Innere des Tempels ist ein Labyrinth aus Gallerien, Scheidemauern, Säulen und Gewölben. In den Zwischenräumen sind die Gräber und Denkmäler der Großfürsten angebracht und 20 Altäre. Der Kirchenschatz liegt in einem feuerfesten Gewölbe. Er hat auch als Kunstsammlung historischen Werth; denn von Jaroslaw bis auf Nicolaus I. mehrten ihn alle Herrscher Rußlands durch Geschenke. Man zeigt Mitren aus Goldblech geschmiedet und mit Edelsteinen, Rubinen, Smaragden und Diamanten besetzt; Bilder des Heilandes und der heil. Jungfrau, ganz aus Diamanten zusammengefügt; Heiligen-Gewänder und priesterliche Kleidungen, die von Perlen und Edelgestein starren; goldene Kandelaber und goldene Kelche mit Diamanten, bei denen man nicht weiß, ob man mehr die Kostbarkeit des Stoffs oder die Kunst daran bewundern soll. Eine Bibliothek, die sich bei der Sophienkirche befindet, enthält viele wichtige aus Constantinopel hergebrachte, griechische Manuscripte des 11. und 12. Jahrhunderts und die ältesten Quellen der Geschichte der slavischen Völkerfamilie. Andere berühmte Kirchen Kiew’s sind die zu den drei Bischöfen, die Zehntenkirche, die des heil. Andreas und viele andere.

Podol, der niedrigste Theil von Kiew, im Thale des Dniepr, ist der jetzt größte und bevölkertste. In demselben ist der Sitz der Gewerbe, einer Tuchfabrik, vieler Ledermanufakturen, Lichter- und Seifenfabriken etc.; dort wohnen auch die Bankiers und reichen Kaufleute, welche mittelst der Kontraktgeschäfte mit den großen Güterbesitzern der Ukraine und Podoliens (wozu eigene Messen eingerichtet sind), in russischen Landesprodukten jährlich zum Belaufe von 15 bis 20 Millionen Rubel verkehren. Die höhern Unterrichtsanstalten, die Akademie, hauptsächlich für die Bildung griechischer Priester (mit 15 Professoren und 1500–1800 Studenten), Gymnasium, Seminar, Distrikts- und Gewerbschule, sind ebenfalls in Podol.

Fast in allen Theilen Kiew’s, im neuen, im alten und in Podol, und auf den benachbarten Feldern, Bergen und Höhen, 3–4 Stunden in der Runde, sieht man Spuren alter Wohnungen, Kirchen und Gottesäcker. Müssen uns auch die Nachrichten mancher Geschichtschreiber von Kiew’s ehemaligem Glanze und seiner Größe übertrieben und fabelhaft scheinen, so ist doch, Angesichts dieser Ueberreste, das Zeugniß des deutschen Chronisten [36] Dittmar, eines Zeitgenossen Wlademir’s, kaum verwerflich, nach welchem sich damals 400 Kirchen in Kiew befanden und 7000 Mönche in 76 Klöstern wohnten. Adam von Bremen nannte Kiew gleichfalls die Hauptzierde Rußlands „ein zweites Konstantinopel.“




  1. Diese Beschreibung verbildlicht genau unser vortrefflicher Stahlstich, nach einer Zeichnung an Ort und Stelle gemacht.