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liegt auf einer Höhe, die sich von der Schlucht nordwärts hinzieht. Hier ist jede Stelle classischer Boden und von kirchlicher oder historischer Wichtigkeit. Die Kathedrale der heil. Sophia ist die älteste in ganz Rußland und hat einen Schatz, den man auf mehr als 20 Millionen Rubel würdigt. Sie steht auf derselben Stelle, wo Jaroslaw das Heer der Petscharegen 1036 in zweitägigem Kampfe auf’s Haupt schlug. Jener Fürst ließ die Kirche nach dem Modell der heiligen Sophia in Constantinopel durch griechische Architekten bauen und er verwendete große Schätze, die Beute vieler Siege, zu ihrer Ausschmückung. Ihr Hauptthor war von purem Golde. Spuren ursprünglicher Pracht bezeugen noch die Mauern des Altars, die mit einer Mosaik aus Gold und kostbaren Steinen bedeckt sind, dem ältesten Denkmal russischer Kunst. Das Innere des Tempels ist ein Labyrinth aus Gallerien, Scheidemauern, Säulen und Gewölben. In den Zwischenräumen sind die Gräber und Denkmäler der Großfürsten angebracht und 20 Altäre. Der Kirchenschatz liegt in einem feuerfesten Gewölbe. Er hat auch als Kunstsammlung historischen Werth; denn von Jaroslaw bis auf Nicolaus I. mehrten ihn alle Herrscher Rußlands durch Geschenke. Man zeigt Mitren aus Goldblech geschmiedet und mit Edelsteinen, Rubinen, Smaragden und Diamanten besetzt; Bilder des Heilandes und der heil. Jungfrau, ganz aus Diamanten zusammengefügt; Heiligen-Gewänder und priesterliche Kleidungen, die von Perlen und Edelgestein starren; goldene Kandelaber und goldene Kelche mit Diamanten, bei denen man nicht weiß, ob man mehr die Kostbarkeit des Stoffs oder die Kunst daran bewundern soll. Eine Bibliothek, die sich bei der Sophienkirche befindet, enthält viele wichtige aus Constantinopel hergebrachte, griechische Manuscripte des 11. und 12. Jahrhunderts und die ältesten Quellen der Geschichte der slavischen Völkerfamilie. Andere berühmte Kirchen Kiew’s sind die zu den drei Bischöfen, die Zehntenkirche, die des heil. Andreas und viele andere.

Podol, der niedrigste Theil von Kiew, im Thale des Dniepr, ist der jetzt größte und bevölkertste. In demselben ist der Sitz der Gewerbe, einer Tuchfabrik, vieler Ledermanufakturen, Lichter- und Seifenfabriken etc.; dort wohnen auch die Bankiers und reichen Kaufleute, welche mittelst der Kontraktgeschäfte mit den großen Güterbesitzern der Ukraine und Podoliens (wozu eigene Messen eingerichtet sind), in russischen Landesprodukten jährlich zum Belaufe von 15 bis 20 Millionen Rubel verkehren. Die höhern Unterrichtsanstalten, die Akademie, hauptsächlich für die Bildung griechischer Priester (mit 15 Professoren und 1500–1800 Studenten), Gymnasium, Seminar, Distrikts- und Gewerbschule, sind ebenfalls in Podol.

Fast in allen Theilen Kiew’s, im neuen, im alten und in Podol, und auf den benachbarten Feldern, Bergen und Höhen, 3–4 Stunden in der Runde, sieht man Spuren alter Wohnungen, Kirchen und Gottesäcker. Müssen uns auch die Nachrichten mancher Geschichtschreiber von Kiew’s ehemaligem Glanze und seiner Größe übertrieben und fabelhaft scheinen, so ist doch, Angesichts dieser Ueberreste, das Zeugniß des deutschen Chronisten

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1840, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_7._Band_1840.djvu/61&oldid=- (Version vom 26.10.2024)