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ist, aus den entferntern Provinzen geschehen, wohl einige Monate. Dreist aber unternehmen sie die Gläubigen ohne einen Kopeken in der Tasche, denn überall, wo sie im Namen des Herrn eintreten unter ein ländliches, russisches Dach, finden sie offenen Tisch und bereite Aufnahme. Der gastfreie Bauer verlangt dafür nichts, als ein Gebet vor den Gebeinen der Heiligen.“

„Noch einmal verschwand Kiew hinter eine Anhöhe, und erst vom Gipfel derselben zeigte es sich wieder. Unvergeßlicher, entzückender Anblick! Gerade vor uns, auf den Bergen am Dniepr-Ufer, erheben sich aus Hainen und Wäldchen die schlanken Glockenthürme und schimmernden Dome der heiligen Klöster, und am äußersten Ende der Vista Kiew selbst, dessen unteren Theil (Podol) wir eines Blicks überschauen konnten[1]. Der breite Dniepr wälzte, vom Nordwinde gereizt, zornig seine ungestümen Wellen an den Felsen hin, und lange, schmale, schwerbeladene Fahrzeuge kämpften in der Mitte des Stroms mit dem furchtbaren Elemente. Dem Klosterberge graenüber liegt eine Fähre zum Ueberschiffen der Reisenden und Pilger. Als wir vom Ufer abstießen, bekreuzigten sich die Weiber und murmelten stille Gebete zu ihren Heiligen; ein durch die Jahre gebeugter Greis faltete aber feierlich die Hände und sprach, das erlöschende Auge voller Inbrunst nach dem nahen Ziele seiner weiten Wallfahrt richtend, die Worte des heil. Damascenus mit feierlicher Stimme: „„Siehe, das irdische Meer erhebt sich und droht mich im Sturme zu verderben; führe mich, ich flehe, in deinen sichern Hafen und errette mich, o Gott!““

„Nach glücklicher Ueberfahrt schickten wir uns an, den auf allen Punkten mit starken, von Peter dem Großen angelegten Festungswerken umgebenen Klosterberg auf dem gewöhnlichen Wallfahrtswege zu besteigen, der zwischen vorspringenden Felswänden und von den Batterien der Bastionen beherrscht, ziemlich steil hinangeht. Wir gelangten zur Mauer des Katakomben- oder Höhlenklosters, das auf dem vom Dniepr scharf abgeschnittenen Felsen prangt. Die weite Mauerpforte, die ein alter Laienbruder hütet, ist mit Heiligenbildern bemalt, und innerhalb sahen wir zwischen Blumen- und Gemüßbeeten in einer weitläufigen Gartenanlage mehre Reihen kleiner Zellen. Die eigentlichen Klostergebäude bilden 4 abgesonderte Gruppen und jede hat ihren besondern Namen: Das Laurakloster (die höchstgelegene Gruppe), das Krankenkloster, das Kloster der nahen Höhlen und – das entlegenste aller – das Kloster der fernen Höhlen. Das Laurakloster ist die älteste christliche Stiftung in ganz Rußland. Gründer war ein Mönch vom Berge Athos, der heilige Anton, Zeitgenosse Wladimir’s des Heiligen, der in einer Höhle des Berges sich im Jahre 1017 als Einsiedler einrichtete. Der Ruf seiner Kasteiungen und seines frommen Wandels verbreitete sich zugleich mit dem Christenthume im russischen Lande, und durch die


  1. Diese Beschreibung verbildlicht genau unser vortrefflicher Stahlstich, nach einer Zeichnung an Ort und Stelle gemacht.
Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1840, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_7._Band_1840.djvu/58&oldid=- (Version vom 26.10.2024)