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von ihrer mirakelvollen Rettung aus Feuers- und Feindesgewalt eben so wenig Zweifel, als in ihre Wunderthätigkeit selbst. Die Hauptreliquien ruhen im „Allerheiligsten“, vom übrigen Tempelraume durch ein Thor von massivem Silber geschieden. In einem mit Silberblech überzogenen Schreine von Cypressenholz liegt der Zeigefinger des heil. Stephan und der Kopf des heil. Wlademir; ein silberner Sarg umschließt die Ueberreste des heil. Michaels, ersten Metropoliten Kiew’s; das Grabmal des heil. Theodosius, mit gleichfalls silbernem Sarkophage, ist in der Vorkirche auf der rechten Seite. Unzählige andere Reliquien: Finger, Nägel, Späne vom heil. Kreuze, Marterinstrumente etc. etc., zum Theil in den kostbarsten Hüllen mit Gold und mit Edelsteinen besetzt, sammt den äußerst reichen Gefäßen, Kirchengeräthen, Heiligengewändern u. s. w. machen einen Schatz von vielen Millionen an Werth, welcher in einem besondern Gebäude aufbewahrt wird. In diesem befindet sich auch die Druckerei für die Kirchenbücher.

So groß auch die Verehrung der oben beschriebenen Reliquien ist, so sind sie doch nicht das Endziel der wallfahrenden Menge. Dies ist nicht über der Erde; es ist in den Katakomben, Kapellen und Kirchen im Innern des Berges.

Eine bedeckte, fast 600 Fuß lange und in eine Felsenschlucht gebaute Gallerie, führt aus der Maria-Himmelfahrtskirche zu dem Eingang der heiligen Grüfte. Aehnlich den bekannten Höhlen der ältern Kalk- und Gypsformation bestehen sie aus einer Menge größerer, als Kapellen und Kirchen hergerichteter Räume, die durch labyrinthische, bald schmale, bald enge Gänge mit einander verbunden sind. Pfeiler und Gewölbe von solidem Mauerwerk stützen in den größern Höhlen die Decken.

In diesen Höhlen sind die Leiber von mehr als hundert Heiligen aufbewahrt, welche nicht verwest, sondern ausgetrocknet sind. Sie liegen, zum Theil in kostbar geschmückten Särgen, in Grabnischen, und einige sind in halb oder ganz geöffneten Sarkophagen, bewacht von Mönchen, der Verehrung ausgestellt. Ein Paar der Heiligen, angethan im Mönchsgewand, stehen sogar hinter Altären aufrecht, und die schweigenden, hohläugigen Gestalten recken pergamentartige Hände den Gläubigen zum Kusse hin. In diesen Labyrinthen des Todes rastet nimmer das Leben der Andacht. Tag und Nacht ziehen die Pilger in langen Schaaren aus und ein, und die feierlichen Umgänge mit Gesang und Fackelschein nehmen kein Ende. Bei jedem Altare brennen Kerzen auf silbernen Leuchtern, stehen hohe, ernste Gestalten, Gnade spendende und Opfer empfangende Priester, liegen Gläubige in demuthvollem Gebet um Vergebung ihrer Sünden oder Erlösung von Uebeln. Selig preist sich der gemeine Russe sein Lebenlang, der Andacht gehalten hat in den heiligen Grüften. –

Unfern der eben beschriebenen Klöster und zum Theil noch innerhalb des Festungsrayons, breitet sich Neu-Kiew aus, der schönste Theil der Stadt, mit seinem Kaiserpalast und einem geschmackvoll angelegten Park. Dieser Stadttheil wird durch eine tiefe Schlucht von Alt-Kiew und dem tiefer liegenden Podol geschieden. Jenes

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1840, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_7._Band_1840.djvu/60&oldid=- (Version vom 26.10.2024)