Kabale und Liebe (Schiller-Galerie)
Nicht nur die Zeit, in der der Künstler lebte und Eindrücke empfing, muss man kennen und berücksichtigen, sondern auch seine persönlichen Verhältnisse und Stimmungen, als er sein Werk schuf, – wenn man es beurtheilen will.
Wir haben schon bei Luise auf die erstere hingewiesen, da man ohne jene Erinnerung an die tiefe Fäulniss der sittlichen Zustände und die absolutistische Willkür kleiner Höfe im vorigen Jahrhundert den Grimm in der Schilderung derselben nicht begreift, der sich durch „Kabale und Liebe“ zieht und diesem Stück ein so ungeheueres Echo in der Nation verschaffte. Auch die unsichere und bedrängte Lage des Dichters selbst zu jener Zeit hat man in Rechnung zu ziehen, wenn man es verstehen will. Im Zwang eines Standes entstanden, welcher, der hohen Seele aufgedrungen, als eine widerwärtige Bürde auf ihr lastete, vollendet auf der Flucht vor gefürchteter Verfolgung einer tyrannischen Gewalt, die keine Schranken mehr kannte als die ihrer Macht, musste sich jene tiefe Empörung gegen den politischen Zustand des Vaterlandes erzeugen und geltend machen, die am Ende nur zu gerechtfertigt war, so fremd sie uns heute erscheint.
So sehr uns auch die Wildheit dieses Stücks erschreckt und zurückstösst, so erstaunt man dagegen gerade hier um so mehr über die Macht des Dichters, über die wahrhaft dämonische Glut und Gewalt, mit der er uns fortreisst, uns zwingt, selbst seine Irrthümer zu theilen. Unser Gefühl wird von ihm überwältigt, wenn uns Verstand und Geschmack auch zehnmal die Roheit seines Gemäldes, den Mangel aller feinern und ausgleichendern Nuancen vorhält. Diese Roheit liegt aber mehr in der Ausführung, die der junge, wenig [Ξ] erfahrene Feuerkopf nicht künstlerisch genug durcharbeiten konnte, als in der Auffassung der Verhältnisse im grossen, die so eminent richtig ist, wie die Umrisse der Personen lebendig; nur der Mangel des feinern Details ist es, das uns die letztern so ungeheuerlich erscheinen lässt, daher sind die Nebenfiguren, die dieses Details weniger bedürfen: der Geiger mit seiner lebhaften Musikantennatur, die dumm geschwätzige Mutter so meisterhaft gerathen, weil hier die Skizzirung genügte.
Die eigentümliche Hoheit des Sinnes aber, die überall aus dem Dichter spricht, versöhnt uns selbst mit den obenerwähnten Mängeln, um so mehr, als sie echt nationale sind, uns die schwäbische Stammeseigenthümlichkeit Schiller’s stärker als irgend sonstwo in seinen Werken zeigen. So wortkarg und kurz angebunden der Schwabe auch ist, so leicht findet er, einmal gereizt und genöthigt sich zusammenzunehmen, eine gewisse nervige Beredsamkeit. Dieses Element von fanatischer, schwärmerischer, rücksichtsloser Leidenschaft in dem schwäbischen Naturell nicht minder als den starren Eigensinn desselben hat uns der Dichter in seinem Ferdinand ganz vortrefflich geschildert; so oft uns dieses jungen Mannes studentenhafter Schwulst revoltirt, müssen wir uns doch sagen, dass er um so mehr echt charakteristisch ist, als keine Hohlheit dahinter verborgen liegt, sondern die ganze unbändige Glut und Nachhaltigkeit eines Jünglings von tiefer und schwer zugänglicher Empfindung.
Dasselbe verzehrende Feuer, welches er seinem Ferdinand eingoss, durchströmte den Dichter selbst, wie wir leicht aus seinen einzelnen auf uns gekommenen Jugendbriefen ersehen können, wo uns eine Ueberfülle heisser Leidenschaft entgegentritt, die bei jeder Gelegenheit alle Schranken durchbricht. Hat Goethe in seinem Tasso, Werther, im Clavigo, im Weisslingen sogar einzelne Seiten seines Charakters niedergelegt, so hat dies Schiller beim Ferdinand sicher nicht minder gethan. In dieser Natur, den sanftesten und weichsten Regungen so zugänglich und im nächsten Augenblicke wieder aufblitzend wie Pulver, in diesen unbewusst glühenden Sinnen und dieser Reinheit des Herzens, in der ganzen Empfindungsart, der Unmöglichkeit, von irgendeiner [Ξ] Ueberzeugung etwas abmarkten, von der Welt abschleifen zu lassen, – wer erkennte da nicht den Chirurgus aus der Karlsschule?
Auch das Schneidige, Kampflustige des Charakters ist nicht minder bezeichnend; haben die Goethe’schen Gestalten, die wir eben erwähnt, etwas Weichliches, so erquickt uns bei Schiller der durchweg männliche Nerv, der in Ferdinand allerdings noch sehr an die Studentenzeit und ihre Raufwuth erinnert.
Nirgends mehr aber empört sich diese angeborene Mannhaftigkeit und Tüchtigkeit des Wesens als so einer taffetenen Lumpenseele gegenüber, wie sie der Dichter uns im Hofmarschall Kalb gezeichnet hat. In dieser Situation sehen wir denn den Major, wie er dem Hofmarschall sagt:
- Marschall, dieser Brief muss Ihnen bei der Parade aus der Tasche gefallen sein – und ich war zum Glück noch der Finder. . . . . Lesen Sie! Lesen Sie! Bin ich auch schon zum Liebhaber zu schlecht, vielleicht lass’ ich mich desto besser als Kuppler an.
- Hofmarschall. Verflucht!
- Ferdinand. Geduld, lieber Marschall! Die Zeitungen dünken mich angenehm! Ich will meinen Finderlohn haben! (Hier zeigt er ihm die Pistole.)
So sehr man sich auch gewöhnt hat, über seine Carikirung zu scherzen, konnte der Marschall doch vielleicht kaum meisterhafter skizzirt werden, als der Dichter in den paar Scenen ihn malt, und zugleich mit ihm das ganze grenzenlos klägliche und nichtige Treiben jener Klasse, die sich an Fürsten von mittelmässiger Fähigkeit und despotischem Naturell von jeher so leicht angesammelt hat, wie jeder nur einigermassen mit solchen Kreisen Vertraute in seiner Erinnerung Beispiele dafür wird zusammenfinden können. Auf einen an sich unbedeutenden Menschen muss die als das Haupterforderniss alles feinen Gesellschaftstons betrachtete Hofgewöhnung, das Banale mit Grazie zu umkleiden und mit affectirter Wichtigkeit zu sagen, das Bedeutende aber mit anscheinender Nachlässigkeit und sorgloser Leichtigkeit zu behandeln, den verflachendsten Einfluss üben; das Product dieses Tons sehen wir nun im Hofmarschall, dieser Fliege, [Ξ] die in der Sonne des Hofs mit Redensarten gedankenlos spielt, vor uns, während in Ferdinand eine Natur gezeichnet ist, die erst durch die Leidenschaft zum vollen Leben geweckt wird. Ist doch sein Vater selbst über ihn verwundert, und bricht in die Worte aus:
- Wo in aller Welt bringst du das Maul her, Junge?
In ihrer Rücksichtslosigkeit sind sich Vater und Sohn gleich, nur dass, wie man dies so oft trifft, aus Abscheu vor dem intriguanten Charakter des Vaters der Sohn im Gegensatze dazu sich gerade die höchste Reinheit und Ehrenhaftigkeit der Gesinnung bewahrt, und sich dadurch eine Theilnahme sofort sichert, die bei edelmüthigen Naturen oft zu begeisterter Sympathie sich steigert.
Selbst die genialste Kraft kann sich nicht von allen die Zeit beherrschenden Geschmacksrichtungen vollständig losreissen, und wenn wir also demgemäss Schiller hier auch in die jene Sturm- und Drangperiode beherrschende Manie verfallen sehen, die Leute um so schwärzer zu malen, je höher sie auf der gesellschaftlichen Leiter stehen, so hat er wenigstens die Entschuldigung für sich, dass es damals in Würtemberg an Originalen zu dieser Malerei à la Höllenbreughel nicht fehlte. Eigenthümlich ist es aber, dass jene Manier, in jedem Minister einen Bösewicht eo ipso zu sehen, sich nur selten zur Person des Regenten selbst verstieg, der man sich höchstens einige schüchterne Seitenhiebe zu versetzen traute, während ein moderner Feuerkopf sicherlich direct den Serenissimus selbst hätte auftreten lassen.
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Man kann „Kabale und Liebe“, diese Jugendarbeit Schiller’s, nicht vollständig verstehen, wenn man sich nicht zugleich den Boden, auf dem sie gewachsen, vergegenwärtigt, das Würtemberg unter der Regierung des Herzogs Karl, wo Schiller die ersten herben Eindrücke empfing, die er nachher in „Kabale und Liebe“ künstlerisch zu gestalten suchte. Er malt uns die demoralisirende Maitressenwirthschaft aus der Jugendzeit dieses despotischen aber begabten und späterhin so vielfach verdienten Fürsten mit der schonungslosen Härte, mit der ein reines schwärmerisches Gemüth die Züge aus jener Epoche, die ihm noch allenthalben im Lande begegnen mussten, zu beurtheilen sich gedrungen fühlte, ja oft mit einer Brutalität, die nur aus dem ungezügelten Naturalismus seiner Dichtungsperiode zu erklären, und wol auch gutentheils auf Shakspeare’sche Reminiscenzen zurückzuführen sein möchte.
Bezeichnend für die damalige Zeit ist besonders die ungeheuere Kluft, die in dem Stück den Stand Ferdinand’s von dem der Tochter des Musikers trennt, und deren Bewusstsein so unaufhörlich aus allen Personen spricht, dass es uns fast übertrieben erscheint, während es damals sicherlich vollständig richtig war.
Luise ist nach dem Ausdruck der Lady, der die Eifersucht jedenfalls den Blick geschärft hat, „sehr interessant und doch keine Schönheit“; so hat sie der Künstler auch aufgefasst in dem Augenblick, da Ferdinand ihr sagt:
- Die Limonade ist matt wie deine Seele!
Wenn wir die Sprache Luisens für ein sechzehnjähriges Mädchen viel zu gewählt und sententiös finden, so müssen wir dabei doch immer in Anschlag bringen, dass Ferdinand ihren Geist zu bilden gesucht, [Ξ] ihr Bücher aller Art gebracht hat, die jedenfalls den überschwenglichen Charakter der Literatur der damaligen Zeit trugen, ferner, dass eine alles erfüllende und beherrschende Leidenschaft aus jedem Menschen einen Dichter macht, seiner Rede etwas Emphatisches mittheilt; um wie viel mehr wird dies also bei einem schwärmerischen Mädchen der Fall sein müssen.
In der Stille und dem Frieden des häuslichen Kreises aufgewachsen, dringt die Leidenschaft zu dem höher stehenden Manne plötzlich in das bisher blos der Liebe zu Gott und den Aeltern hingegebene Herz und erfüllt es auf einmal ganz und ausschliesslich; sie vergisst, dass es noch Menschen, ja beinahe, dass es einen Gott ausser ihm gibt, der ihre ganze Seele ausfüllt; sie sieht keine Welt mehr und doch hat sie sie nie so schön gefunden, sie weiss nichts von Gott mehr und doch hat sie ihn nie so sehr geliebt. Drängt dieses Uebermass des Gefühls an sich schon auf einen schweren Ausgang hin, so ist es noch echt tragischer, dass nicht der Hass, sondern die Neigung es ist, die sie dem Untergang entgegenführt, und zwar um so mehr, je stärker sie ist, da ihr Vater, Wurm und zunächst Ferdinand ihr Unglück verschulden. – Die Roheit in der Sprache des letztern gegen die Geliebte, als er sie schuldig glaubt, was ohnehin mehr als leichtsinnig geschieht, wäre ohne den Hintergrund des Schwabenthums, in dem der Dichter noch so tief stak, gar nicht denkbar; bei aller sonstigen Tüchtigkeit sind aber die Schwaben noch heute sicherlich der am wenigsten ritterliche Volksstamm Deutschlands und die sociale Stellung der Frauen die schlechteste, die es gibt, obgleich sowol die Schönheit als der Geist und die natürlichen Anlagen der Schwäbinnen diese rohe Zurücksetzung in keiner Weise verdienen. Diese zeigt auch Luise, deren in der weiblichen Natur begründeten Schärfung des Blicks und der Intelligenz durch die Liebe wir es denn auch zuzuschreiben haben, wenn sie aus dem Wettkampfe mit der doch so gebildeten, durch alle Ueberlegenheit der Weltdame und ihrer raffinirten Dialektik glänzenden Lady als Siegerin hervorgeht, weil sie die Grösse, Macht und Tiefe des Gefühls besitzt, die ihr in diesem Augenblicke den rechten Ausdruck verleihen. [Ξ] Die Sprache des Herzens aber wird im Moment der Leidenschaft der des Verstandes immer an Beredsamkeit so überlegen bleiben, als der Naturlaut der Volkspoesie der künstlichen Dichtung.
Ganz aber werden wir freilich diese philosophische Betrachtung, diese ausgeklügelte Casuistik wol nicht der sechzehnjährigen Geigerstochter zuschreiben dürfen: es ist die Subjectivität des Dichters selber, die hier und da fortgerissen von der Leidenschaft durchbricht und die Rede der handelnden Personen übernimmt; es ist der Student aus der Karlsschule, der bisweilen so überschwenglich und geistreich raisonnirt.
Deshalb, weil er einen Theil des eigenen Selbst malt, ist ihm auch die zügellose, überschäumende Leidenschaft des Ferdinand so vortrefflich gelungen, während er pathetisch und aufgeregt im höchsten Grade, wie er war, für die naive Schönheit der Sprache eines Bürgermädchens, wie sie uns Goethe im Gretchen so wunderbar malt, noch kaum ein Ohr hatte.
Werden wir also schwerlich glauben können, dass die wirkliche Luise so gesprochen hätte, so prägt sich die geniale Kraft des Dichters um so sicherer in ihrem Handeln aus, wo er die sanfte, mehr zum Dulden und Entsagen als Kämpfen geschickte Natur des Weibes wunderbar richtig herausempfindet, die überall sich an Pflicht, Gesetz und Herkommen halten, sich ihnen unterwerfen will, wenn sie auch ihr Herz zerreissen, da sie fühlt, dass sie doch der Schutz und Schirm ihres Geschlechts sind gegenüber der Leidenschaft und dem rohen Egoismus der Männer.
Dass Luise ihren Schwur, der doch nur gezwungen war, nicht bricht, das wäre vielleicht für ein heutiges Mädchen nicht richtig, wo auch in die untersten Klassen der Gedanke kecken Aufruhrs gegen göttliche und menschliche Gesetze gedrungen ist, also auch in der Seele eines gefolterten Mädchens auftauchen muss; damals aber war man jedenfalls noch nicht so weit, und die Idee des Selbstmordes lag der Verzweifelnden näher. Ebenso lässt uns eine Vergleichung der jetzigen mit der damaligen Zeit zu dem Schlusse kommen, wie das Verhältniss zu der Familie nicht minder als das zu Gott und dem Staat ein so [Ξ] viel gebundeneres war, als es heute ist, die Macht des Vaters nach der damaligen Sitte eine viel grössere Ausdehnung hatte, als er sie heute besitzt.
Unwiderstehlich wird die Wucht der Dichtung in den letzten Scenen, als die Ahnung des Todes Luise erfasst, da sie Ferdinand wiedersieht, wo sie ihn richtig beurtheilt, wenn sie sagt:
- Ehe er sich eine Uebereilung gestände, greift er lieber den Himmel an.
Die ganze aufopfernde Natur des Weibes, welcher der Geliebte weit über die eigene Existenz geht, dringt aber durch, als sie von ihm das Verbrechen erfährt, das er an ihr begangen, und ihr erster Gedanke ist:
- O Gott, vergib es ihm – Gott der Gnade, nimm die Sünde von ihm. –
Würde bei einem Mann, den die Geliebte auf einen so leichtsinnig geglaubten Verdacht hin vor die Pforten des Todes geführt, dieses wol die erste Empfindung sein?
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Stellten die Figuren von „Kabale und Liebe“ ihrer stark übertriebenen Zeichnung halber alle dem Maler eine schwere Aufgabe, so gilt dies vielleicht am meisten von der Lady Milford, einem Charakter, den im Bilde zu beleben schon deshalb schwierig sein musste, weil er in der ungenügenden individuellen Motivirung, die ihm der Dichter zu Theil werden liess, uns auf den ersten Blick ungeheuerlich, ja unmöglich erscheint. Der Künstler hat die Schwierigkeit dadurch zu besiegen gesucht, dass er uns ein reizendes Weib zeigt, der man allenfalls jene leidenschaftliche Denkungsart zutrauen kann, die sie sagen lässt:
- Wir Frauenzimmer können nur zwischen Herrschen und Dienen wählen, aber die höchste Wonne der Gewalt ist doch nur ein elender Behelf, wenn uns die grössere Wonne versagt wird, Sklavinnen eines Mannes zu sein, den wir lieben!
Eine feine, geistreiche, nervöse und verwöhnte, schlechten und guten Anwandelungen gleich zugängliche Frau, wie sie eben das Geschenk des Herzogs wegschiebt, entsetzt von dem Gemälde des Elends, das ihr der Ueberbringer aufrollte. Messen wir der Apologie Glauben bei, die sie mit wunderbarer Geschicklichkeit gegen den unerfahrenen Major versucht, der schnell gerührt, von der tiefsten Verachtung so leicht zur Bewunderung und Verehrung überspringt, so haben ihr Unglück und ihre Schönheit sie in die entehrende Lage geführt, aus der sie sich mit seiner Hülfe zu retten suchen möchte; im Grunde aber ist es eine [Ξ] Schauspielernatur: manierirt, sentimental, betrog sie sich selber, indem sie den grossen Flecken ihrer Existenz durch kleines Wohlthun abwaschen zu können wähnte, und über den dunkeln Punkt in ihrer Geschichte so leicht wegsprang, während er doch nur entschuldigt werden konnte, wenn sie den Herzog wirklich liebte und ihm treu blieb. Dass dies ihre Ehre just fordert, davon aber hat sie nach echter Maitressenart gar keine Ahnung, wenn sie zu Ferdinand sagt:
- Meine Leidenschaft, Walter, weicht meiner Zärtlichkeit für Sie.
Stolz, ehrgeizig und grossartiger Auffassung allerdings wenigstens in leidenschaftlicher Aufwallung zugänglich, ist sie doch schon zu viel Courtisane, um irgendein wahres Gefühl lange und dauernd zu nähren. Englisch ist an diesem Charakter vor allem der Hochmuth, der sich unter keinen Umständen verleugnet, jener rasende Anfall von Spleen, in welchem sie, nachdem ihr das Project auf Ferdinand mislungen und sie beschämt vor Luisen gestanden, ihr ganzes Los mit Füssen tritt, und die Schaubühne verlässt, auf der sie bisher Gebieterin war, vielleicht am allerehesten auch die hartnäckige Laune, mit der sie sich einbildet einen Mann zu lieben, den sie bisher noch nie gesprochen hatte. Dieselbe Willkür der Phantasie, die sie heisst sich dem Unbekannten in die Arme zu werfen, die ihr erlaubt, sich der Hoffnung hinzugeben, ein Mann von Ehre werde ihre frühere Laufbahn vergessen, würde uns auch die geringe Nachhaltigkeit ihrer Caprice verbürgen, wenn solche Frauen nicht oft gerade in der Caprice allein eine eiserne Beharrlichkeit zeigten. Nimmt man sich die Mühe, den Charakter von diesem Standpunkte aus genauer zu betrachten und der geschraubten und pathetischen Dialektik, die ihm der Dichter in den Mund legt, zu entkleiden, in der er uns viel häufiger das mittheilt, was er über den Charakter denkt, als was dieser letztere denken und sagen kann, so wird man immer wieder über die Meisterschaft der Anlage trotz der Mangelhaftigkeit der Ausführung erstaunen, die bei aller Verwilderung, die uns das Schiller’sche Talent in dieser ersten Periode zeigt, immer durchbricht, uns mit einer Art von Bewunderung und [Ξ] Grauen zugleich erfüllt. Will man die Lady kennen, wie sie sich Schiller wirklich gedacht hat, und nicht wie sie ihm in der Ausführung geworden ist, so muss man sie in ihrer Scene mit Luise betrachten, wo die hochmüthige, egoistische, reizbare Natur, ganz besonders aber das Schlangenartige des Wesens, die Raschheit der Wendung trefflich zum Vorschein kommt, und sie sich auch selber das Urtheil spricht, wenn sie zu Luise sagt:
- Keinen Seitensprung, Lose! – Wenn es nicht die Promessen Ihrer Gestalt sind, was in der Welt könnte Sie abhalten, einen Stand zu erwählen, der der einzige ist, wo Sie Manieren und Welt lernen kann, der einzige ist, wo Sie sich Ihrer bürgerlichen Vorurtheile entledigen kann?
und wenn sie dann später wüthend auffährt:
- Ich kann nicht mit ihm glücklich werden, aber du sollst es auch nicht werden. – Wisse das, Elende! Seligkeit zerstören ist auch Seligkeit –
oder gar Luisen zuletzt echt englisch den Mann ihres Herzens abkaufen will:
- Wo bin ich? Wo war ich? Was hab’ ich merken lassen? Wem hab’ ich’s merken lassen? – O Luise, edle, grosse, göttliche Seele! Vergib einer Rasenden. – Ich will dir kein Haar kränken, mein Kind! Wünsche! Fordre! Ich will dich auf den Händen tragen, deine Freundin, deine Schwester will ich sein. – Du bist arm – sieh! (einige Brillanten herunternehmend) ich will diesen Schmuck verkaufen – meine Garderobe, Pferd und Wagen verkaufen – dein sei alles, aber – entsag’ ihm!
Da ihr dies nicht gelingt, tröstet sie sich schliesslich wenigstens mit der Vorstellung, welchen Eclat ihr Entschluss, den Hof zu verlassen, machen werde, und sagt:
- Auftaumeln wird sie, die fürstliche Drahtpuppe! Freilich! Der Einfall ist auch drollig genug, so eine durchlauchtige Hirnschale auseinander zu treiben. – Seine Hofschranzen werden wirbeln – das ganze Land wird in Gährung kommen!
Indem sie so zehn Seelenstimmungen in einer Viertelstunde durchläuft, und ebenso viele Seiten ihres Charakters zeigt, die im Grunde [Ξ] doch alle keine rechte Dauer versprechen, berechtigt sie uns zu der Erwartung, dass sie, um den Hof und „die fürstliche Drahtpuppe“ in noch grösseres Erstaunen zu setzen, doch wol, wenn sie heute durchging, am andern Tage wiedergekommen sein werde.