Textdaten
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Autor: Friedrich Helbig
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Titel: Judas, der Erzschelm
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 794–796
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Judas, der Erzschelm.


Eine Charakterstudie.


Armer Ischarioth! Wie ist es dir nach deinem unseligen Ende im Laufe der Zeiten ergangen – welche Wandlungen hast du erlebt! Keine Ruhe haben sie dir gelassen in deinem selbstgeschaffenen Grabe. Der Fluch von Jahrhunderten hat dich über dasselbe noch weit hinaus begleitet, hat dich immer von Neuem wieder in Wort und Bild verfehmt, gehenkt und zerbersten lassen. Ja, dieser Fluch und Haß hat sich auf dein ganzes Volk übertragen. Mit Feuer, Schwert und Strick hat die gläubige Christenheit es fast das ganze Mittelalter hindurch verfolgt, gemartert und vernichtet um deines Verrathes an dem Herrn willen. Als das verworfenste sittliche Scheusal ausgestellt an dem Pranger der christlichen Liebe, überliefert an den Satan, ja, ihm verlobt von Kindesbeinen an, im Judas-Kusse und Judas-Lohne begrifflich gebrandmarkt für alle Zeiten – hat auf einmal in dem aufdämmernden Lichte einer humanern Zeit dein Schicksal fröhlich sich gewandelt. Man hat sich deiner in Gnaden erbarmt, hat dich wieder heraufgeholt aus dem tiefsten Schlunde der Hölle, in welchen der Fanatismus christlicher Gläubigkeit dich gestoßen, und dir wieder ein menschliches Gewand umgeworfen. Ja, noch mehr als dies. Unter der Sonde des Psychologen, aber noch weit mehr unter dem Zauberstabe des Poeten ist aus dir, dem großen Sünder, ein fast ebenso großer Heiliger geworden. Wie durch die Pilatus-Wäsche eines modernen Gelehrten aus dem Urbilde aller grausamen Tyrannen, aus dem finstern Tiberius ein Muster von Herrschertugend sich herausgeschält hat, also hat die Theologie so gut wie die Poesie den schnödesten aller Verräther zum Träger und Märtyrer einer berechtigten Idee gestempelt und ihm den idealen Strahlenkranz eines tragischen Helden auf die gebrandmarkte Stirn gedrückt.

Die Angaben der Heiligen Schrift über Judas sind nur dürftig, so dürftig, daß David Strauß bemerkt: Wie Jesus dazu kam, einen solchen Jünger zu erwählen, und wie Judas dazu kam, ihn zu verrathen, das werde uns durch die drei ersten Evangelisten nicht begreiflich, durch Johannes geradezu unbegreiflich. In der Jüngerschaft Jesu spielt Judas lange Zeit keine Rolle. Wir erfahren eigentlich erst etwas von ihm bei der Salbung Christi durch Maria Magdalena. Da murrt er wider die Verschwendung des kostspieligen Nasses. Das hat ihm den Vorwurf des Geizes eingebracht, und da ihn Matthäus unmittelbar darnach zu den Hohenpriestern gehen läßt, auch den Geiz zum Motive seines Verrathes gestempelt. Dann treffen wir ihn wieder beim Passahmahle, wo Christus ihn bestimmt als seinen Verräther bezeichnet und nach Johannes ihn geradezu auffordert, die verbrecherische That zu vollziehen, indem er zu ihm sagt: „Was Du thust, das thue bald!“ Nach diesem Evangelisten ist erst in diesem Momente der Entschluß zum Verrathe in Judas gereift – ein Moment psychologisch so bedeutsam, daß er von den meisten späteren Judas-Erforschern als Ausgang ihrer Forschungen festgehalten worden ist. Dann kommt die Scene in der Nacht zu Gethsemane. Des Judaskusses geschieht bei Johannes keine Erwähnung. Der die That vorauswissende Meister überliefert sich da freiwillig den Häschern. Nur bei Matthäus und im Eingange der Apostelgeschichte erfahren wir etwas über das weitere Schicksal des abtrünnigen Jüngers, über seine Reue, seine Rückgabe des Blutgeldes, seinen Selbstmord. Eine spätere Legende ließ seinen Leib, seinen Kopf und seine Augenlider aufschwellen, und da er wegen seines Körperumfangs und seiner Blindheit einem entgegenkommenden Wagen nicht ausweichen konnte, ihn von diesem überfahren werden, „so daß ihm die Gedärme aus dem Leibe quollen“. Die spätere [795] christliche Anschauung betrachtete den Verrath, wie überhaupt die Verurtheilung und Kreuzigung Jesu als ein Werk des Satans, und in den geistlichen Spielen des Mittelalters, den sogenannten Mysterien, fand dieser Gedanke eine sehr drastische Verwirklichung.

Der Darsteller der Judas-Rolle pflegte unter seinem gelben Kittel einen „schwarzen Vogel“ zu verbergen, den er zum Zeichen, daß der Satan bei ihm seinen Einzug hielt, in der Passahmahlscene vor dem Munde herumflattern ließ. Auch übernahm beim Tode des Ischarioth Beelzebub als Abgesandter Lucifer’s das Amt des Henkers. Er zog ihn an einem Stricke hinter sich her zur Leiter hinauf, die schräg an einem auf der Bühne befindlichen Baume lehnte, legte ihm nach einer von ihm gehaltenen kläglichen Rede, in welcher er sich als das Opfer des Geizes und der sieben Todsünden bezeichnete, den Strick um den Hals, setzte sich sodann hinter ihn und riß ihm das Kleid auf, aus welchem im buchstäblichen Sinne die Gedärme herausfielen, denn der Schauspieler trug eine Partie Därme gleichfalls unter seiner Kutte. Hierauf glitten Beide mittelst angebrachter Rollen an dem Seile hinab, das von dem Baume nach einem im Podium befindlichen Loche führte. Dieses Loch repräsentirte die Hölle. Vor dem Eintritte in das dunkle „Höllenthor“ meldete Beelzebub den neuen Ankömmling erst bei Lucifer, dem Commandanten der Hölle, mit den drastischen Worten an:

Ihr Teufel, thut auf der Hölle Thor!
Gottes Verräther Judas ist davor,
Der Jesum seinen Herrn hat verrathen.
Wir haben einen guten schmutzigen Braten;
Seel’ und Leib ist unser eigen.
Er muß jetzt tanzen unsern Reigen,
Wann er hat sich an uns ergeben,
Dieweil er annoch war im Leben.
Lucifer, lieber Herre mein,
Empfah Judas, den Diener dein.

Da steigt Lucifer aus der Tiefe der Hölle herauf, nimmt Judas vom Seile ab, bekennt, daß er längst ein großes Verlangen nach ihm gehegt habe, und verspricht ihm sofort ein Bad aus Schwefel, Pech und Feuer zu bereiten.

Im Oberammergauer Passionsspiele, das ja noch auf den alten Mysterien fußt, erscheint zwar die Figur ihres höllischen Beiwerks entkleidet, aber das kleinliche Motiv des Geizes ist hier noch ängstlich festgehalten, doch hat der Verfasser des Dramas es verstanden, den Zusammenhang zwischen dem kleinen Beweggrund und der großen That dadurch psychologisch wahrscheinlich zu machen, daß er den Gedanken an den Verlust der dreihundert Denare für den Ankauf des Salböls, den die Casse der Jünger, welche Judas verwaltete, erlitt, in diesem zur fixen Idee werden läßt, die ihn ruhelos verfolgt und sein ganzes Denken also verwirrt, daß er, nur darauf bedacht, diesen Verlust zu ersetzen, in den Verrath hinein kommt – er weiß selbst nicht wie. Die Figur schrumpft da freilich zusammen zu der eines ängstlichen pedantischen Cassenbeamten, und nur in der Schilderung der Größe ihrer Verzweiflung wächst sie wieder empor.

Auch Renan, der novellistische Darsteller des Lebens Jesu, befindet sich in wohl nur zufälliger Uebereinstimmung mit dieser Auffassung, wenn er angiebt, Judas habe die Interessen der Casse über das Werk gesetzt, für das sie bestimmt war; der Verwalter habe den Apostel erstickt, und dergleichen.

Die protestantisch-theologische Kritik machte sich gar früh über den ausgestoßenen Jünger her, und es fehlte ihr nicht an den verschiedenartigsten Motiven für das unerklärliche Handeln des dunkeln Charakters. Da, wo sie nicht mit ihm fertig werden konnte, suchte sie wohl auszuführen, daß die ganze Judasgeschichte ein bloßes Werk der Erfindung des spätern Paulinismus sei, der einen der Apostel habe anrüchig machen wollen, um den allerdings mißlungenen Versuch zu machen, ihren eigenen Vertreter in die geheiligte Zwölfzahl der Apostel einzuschmuggeln, eine Ansicht, die durch Strauß ihre Widerlegung findet. Dagegen irren und schwirren die Motive des verrätherischen Handelns unseres Helden im buntesten Wesen durch den wissenschaftlichen und poetischen Luftkreis. Da ist es bald der gereizte Zorn gewesen, bald die empfundene Zurücksetzung gegen die andern Jünger, bald wieder die Unbefriedigtheit der eigenen weltlichen Messiashoffnungen, wie überhaupt die ganze weltliche Sinnes- und Denkungsweise, bald wieder Stolz und verbrecherische Eitelkeit, die den räthselhaften Apostel in seine verhängnißvolle That gestürzt haben sollen, bis endlich eine Auffassung sich Bahn brach, welche die Figur ganz ihrer niedern dunkeln Umgebung enthob. Diese Auffassung ist niedergelegt in Goethe’s Wahrheit und Dichtung. Obwohl er sich selbst zu ihrer Urheberschaft bekennt, ist dieselbe uns doch nicht ganz zweifellos. Sie mag sich auch wohl damals schon in wissenschaftlichen Kreisen das Bürgerrecht erworben haben.

Goethe führt uns das Problem seiner beabsichtigten Ahasver-Dichtung vor und berührt dabei auch das Verhältniß des Judas zu Christus. Danach lebte Judas so gut wie die anderen Jünger der Ueberzeugung, daß Christus sich als Regent und Volkshaupt erklären werde. Um nun das bisherige unüberwindliche Zaudern des Herrn mit Gewalt zur rettenden That zu drängen, habe er, Judas, so erzählt er in der Werkstatt Ahasver’s, die Priesterschaft zu Thätlichkeiten aufgereizt, welche auch diese bisher nicht gewagt hätten. Von der Jünger Seite wäre man auch nicht unbewaffnet gewesen und wahrscheinlicher Weise wäre Alles gut abgelaufen, wenn der Herr sich nicht selbst ergeben und sie, die Jünger, in den traurigsten Zuständen zurückgelassen hätte. In der durch Ahasver’s bittere Stachelreden noch gesteigerten Verzweiflung schritt denn der schwer Getäuschte zur Selbstentleibung.

Es war hier gewissermaßen der Geist von Hamlet’s Vater heraufbeschworen. Der „dunkle Ehrenmann“ war gerettet, wenn auch nicht moralisch, so doch mindestens ästhetisch. Es war nun nicht mehr der Haß, sondern geradezu die Liebe das treibende Rad seines Handelns.

Andersen in seiner Dichtung „Ahasver“ führte wohl zuerst, die Goethe’sche Judas-Idee dichterisch weiter aus. Aber auch die Dichter der mannigfachen neuen Jesus- und Ischarioth-Dramen stehen auf dieser Basis. In den Dramen tritt neben Judas meist auch noch eine andere, ebenfalls etwas anrüchig gewordene biblische Figur in den Vordergrund. Es ist dies das bekehrte Weltkind Maria Magdalena, deren sich auch sonst die dichtende und bildende Kunst liebend angenommen und sie zum Typus einer bestimmten Species weiblicher Charaktere gemacht hat. Sie erscheint da als die frühere Geliebte des Judas, den sie aus begeisterter Liebe zu dem neuen Messias, dessen Ideen sie ein größeres Verständniß als Jener entgegenträgt, aufgiebt und ihm damit ein neues Motiv zuführt, seinem Herrn und Meister zu grollen.

Auch mit einer bis dato unbekannt gebliebenen Mutter unseres Helden machen wir hier und da Bekanntschaft, welche die geistige Größe ihres Sohnes in mütterlicher Eitelkeit überschätzt, wohl auch eigene Messiashoffnungen auf ihn überträgt und ihm so den unheilvollen Weg mit bahnen hilft, den er betritt. Sie erntet dafür regelmäßig den Fluch des verzweifelnden Sohnes. Um gleichsam zu zeigen, daß es auch noch schlechtere Menschen als ihn giebt, läßt ihn Andersen noch die Freundschaft des Barrabas genießen, der in der Maske eines wüsten, verkommenen und verbrecherischen Don Juan’s auftritt.

Construiren wir uns an der Hand dieser mannigfachen Vorlagen auf möglichst psychologischer Grundlage den modernen Judas-Charakter, so erhalten wir etwa folgendes Bild.

Judas von Karioth, später Ischarioth, das heißt der Mann (Isch) von Karioth, genannt, war ein treuer und warmer Anhänger seines Meisters. Er faßte aber das verheißene Reich Christi noch im concreten altjüdischen Sinne als das Reich David’s auf oder er war doch, wie nicht minder die anderen Jünger, höchstens mit Ausnahme von Johannes, über die eigentlichen und höheren Ziele des Herrn nicht im Klaren. Unter dem doppelten Drucke der Herrschaft der Römer und der eigenen frivolen und grausamen Fürsten nicht minder wohl auch der geistigen Tyrannei einer Priesterkaste, nährte das jüdische Volk in verstärktem Maße seine Hoffnung auf einen befreienden Messias.

Die thatkräftige und energische Natur des Judas – er verband damit einen wesentlich praktischen Sinn, der ihm das Amt eines Schatzmeisters verschafft hatte – verlangte, zumeist wohl nach dieser Richtung hin, wirkliche und greifbare Ziele. Daß diese sich ihm nicht zeigten, das erzeugte mehr und mehr in [796] ihm zunächst eine gewisse Ungeduld. Diese Ungeduld brachte bei ihm den Unmuth hervor, eine allgemeine seelische Verstimmung.

Da kam der Einzug des Herrn in Jerusalem unter den begeisterten Hosiannahrufen des zum Passahfeste herbeigeströmten jüdischen Volkes. Unmittelbar daran reihte sich die Säuberung des Tempels von den Wechslern und Händlern, das offene Auftreten gegen die Anmaßungen der Hohenpriester und Schriftgelehrten. Das war etwas Greifbares, etwas Thatsächliches und Sichtbares. Jetzt schien die Messiasidee im Sinne des Judas sich zu verwirklichen. Aber des Weiteren geschah nichts. Der hoffend begrüßte, geliebte Meister verließ den Schauplatz wieder, ging nach Bethanien und beschäftigte sich hier mehr als je mit den Gedanken und Vorhersagungen seines nahenden Todes. Das rief den Unmuth des Judas wieder von Neuem in noch weit verstärkterem Maße hervor. Zu diesem Unmuthe gesellte sich dann noch die Unklarheit über die dunkeln Worte des Meisters, die der eigenen Auffassung seiner Mission so zuwiderliefen. Das mehrte noch die Verwirrung in dem ohnehin schon verdunkelten Geiste und Gemüthe.

Die mißvergnügte Aeußerung über den verschwenderischen Gebrauch der kostbaren Salbe zum Nachtheile der Casse der Jüngerschaft zu einer Zeit, wo – wir sprechen immer im Sinne des Judas – Geld sehr nützlich werden konnte, erscheint dann ganz nebensächlich. Eine bereits vorhandene allgemeine Verstimmung hält leicht unbedeutende Nebendinge fest, um sich dort gleichsam abzulagern.

Aus dieser Verstimmung heraus erwuchs nun in dem thatkräftigen Charakter die Erwägung, ob da nicht zu helfen, ob da nicht selbst etwas zu thun sei, um den bereits betretenen Weg zum Ziele wieder zu gewinnen und rechtzeitig zu beschleunigen. Welches Mittel bot sich ihm hierzu dar? Welches?

Der Meister zeigte es ihm selbst. Er zeigte es ihm in der directen Vorhersagung und Bezeichnung des Verrathes beim Ostermahle, der sich in der weitern Rede: „Was Du thust, das thue bald!“ die bestimmte Aufforderung zu handeln anschloß. Nehmen wir an, daß die Pharisäer und Hohenpriester bereits den Plan zur Gefangennahme des ihre Herrschaft gefährdenden neuen Propheten gefaßt und bereits Versuche gemacht hatten, den unmuthigen und dabei thatenlustigen Jünger für sich zu gewinnen, ein Umstand, der dem Scharfblicke des Herrn nicht entgangen sein konnte, so mußte diese eigenthümliche Aufforderung zum eigenen Handeln in der That außerordentlich bestimmend, nicht etwa verstimmend, auf Judas wirken. Derselbe konnte sich, wie eine neuere anonym erschienene Studie über den Judascharakter treffend bemerkt, jetzt sagen: Der Herr will in die Hände seiner Feinde geliefert werden, um seine göttliche Kraft zu bethätigen. So ging er hin und verrieth den Herrn. Wir legen hierbei die, wie es uns scheint, psychologisch richtigere Wiedergabe der Reihenfolge der Thatsachen im Evangelium des Johannes zu Grunde.

Daß Judas nicht in Wahrheit die Interessen des Hohen Rathes bei seinem Verrathe im Auge gehabt habe, dafür spräche dann namentlich sein Verhalten unmittelbar nach seiner That, das Hinwerfen des Blutgeldes, das kühne, Trotz und Verachtung bedeutende Auftreten in dem mächtigen, gefürchteten Priestercollegium, der wider dasselbe geschleuderte Fluch. Auch die Reue und Verzweiflung, die über Judas in ihrer ganzen furchtbaren Größe hereinbrechen, finden so ihre weit natürlichere Erklärung. Der Judaskuß wird aus einem Symbole des Verrathes ein Symbol der Liebe, indem er bekunden soll, daß der Jünger nur äußerlich, nicht innerlich abgefallen sei.

Welch tiefe Tragik aber beherrscht nun die Lage, in welche Judas nach der That und durch dieselbe sich versetzt findet! Das, was er nur scheinen wollte, ist er nun wirklich geworden, der Verräther, der Mörder seines Herrn und Meisters, des Herrn, an dem seine ganze Seele mit unbegrenzter Liebe hing. Die ganze Reihe seiner im Unmuthe gefaßten Schlüsse erweist sich als falsch und trügerisch. Das Werk, das er fördern wollte, sieht er mit seinem Meister für immer vernichtet. Verkannt und auf allen Seiten verachtet und ausgestoßen, verliert er unter sich allen Boden zu seiner Weiterexistenz, und da er auch keinen Richter hat, der ihn vermöchte zu richten, so bleibt ihm fast nichts weiter übrig, als sein eigener Richter zu werden.

Um der Tragödie seines Lebens einen versöhnenden Schluß zu geben, läßt ihn die Dichtkunst wohl noch in seiner letzten Stunde den Sieg der Christusidee erleben und empfinden.

Ja – dieser Ischarioth kann nicht blos anreizen zu einer Charakterstudie, er ist und war schon längst ein wirklicher Studiencharakter.

Fr. Helbig.