Jürgen Wullenwever (Ratslinie)

Textdaten
Autor: Emil Ferdinand Fehling
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Titel: Jürgen Wullenwever
Untertitel:
aus: Lübeckische Ratslinie, Nr. 636
Herausgeber:
Auflage: 2. Auflage
Entstehungsdatum: bis 1923 (Vorwort)
Erscheinungsdatum: 1925
Verlag:
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Erscheinungsort: Lübeck
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Kurzbiographie des Lübecker Bürgermeisters und Volkstribuns Jürgen Wullenwever aus der Hand eines seiner modernen Nachfolger
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[95] Jürgen Wullenwever, am 21. Februar 1533 zum Ratsherrn und gleich darauf zum Bürgermeister erwählt. – Um 1493 in Hamburg geboren, wandte er sich in der ersten Hälfte der 20er Jahre nach Lübeck und begründete hier ein bescheidenes kaufmännisches Geschäft. Davon, daß er gleich anfangs öffentlich hervorgetreten sei, ist nichts bekannt. Im Jahre 1529 wird er sich an der politischen Bewegung beteiligt und dieser Tätigkeit wohl zu danken haben, daß er 1530 von den Rentnern und Kaufleuten in den damals gebildeten Vierundsechziger-Ausschuß gewählt wurde. In diesem Kreise ist er schnell zu Ansehen gelangt. Durch das Vertrauen der Ämter ward er am 17. Januar 1531 zu einem der vier Wortführer des Ausschusses ernannt. Vielleicht weniger durch die eigene Bedeutung als durch die Bedeutungslosigkeit der übrigen Wortführer erlangte er bald die Leitung bei allen Beratungen und Beschlüssen [96] des Ausschusses. Am 12. Februar 1531 wohnte er im Rathause dem Handgelöbnis bei, durch das die Verständigung zwischen Rat und Bürgerschaft wiederhergestellt werden sollte. Als am 8. April 1531 die Bürgermeister Broemse (604)[1] und Plönnies (613)[2] die Stadt heimlich verlassen hatten, war er es, der als Wortführer des Ausschusses dem Rate die bittersten Vorwürfe machte, die Verhaftung dreier Ratsherren veranlaßte und dann die Ergänzung und den Erlaß einer dem Bürgerausschuß das Vorschlagsrecht gewährenden Wahlordnung durchsetzte. Auch den zu Ende des Jahres geführten Ausgleichsverhandlungen mit dem Domstifte wohnte er bei. Schon damals war sein Wille von entscheidendem Einfluß auf die Beschlüsse des Rates und der Bürgerschaft. Diesen Einfluß auch auf die auswärtige Politik der Stadt zu gewinnen, war sein Bestreben. Vornehmlich zielten seine Bemühungen darauf ab, die holländischen Schiffe aus der Ostsee fernzuhalten. Deshalb schloß er sich der Gesandtschaft nach Kopenhagen im April 1532 an, um über diese Hauptfrage mit König Friedrich[3] sich zu bereden. Auch beteiligte er sich bei der Gesandtschaft nach Braunschweig, die den Zweck verfolgte, im Kriege gegen Christian II.[4] den Beistand der Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes[5] zu erreichen. Als im Juli eine neue Gesandtschaft an König Friedrich nach Kopenhagen geschickt wurde, ward Wullenwever ihr beigeordnet. Bei den Beratungen, die insbesondere auf den Abschluß eines Bündnisses gegen die Holländer gerichtet waren, führte er das Wort. Auch soll er sich vor allem der Freilassung des gefangenen Königs Christian II. widersetzt haben. Auf sein Betreiben ward im Beginn des Jahres 1533 den Holländern der Krieg[6] erklärt. Im Februar war Wullenwever Bürgermeister. Ohne von einem andern Ratsherrn begleitet zu sein, ging er im Sommer abermals nach Kopenhagen, um den Reichsrat zu einem Bündnis mit Lübeck zu bewegen. Erfolg haben seine Verhandlungen nicht gehabt. Im Februar 1534 begab er sich in ungewöhnlichem, prächtigen Aufzuge nach Hamburg, um mit dort weilenden Gesandten des Kaisers und der Holländer, sowie mit Vertretern mehrerer Hansestädte über den Ausgleich der Streitigkeiten und Abschluß eines Friedens zu verhandeln. Da die Beratungen sich in die Länge zogen und keinen günstigen Ausgang verhießen, verließ er am 12. März 1534 plötzlich Hamburg und kehrte nach Lübeck zurück. Hier hatte unter einflußreichen Kaufleuten eine ihm feindliche Strömung eingesetzt; doch gelang es seiner Persönlichkeit, sie zu unterdrücken und die Mehrzahl derjenigen Ratsherrer, die schon dem alten Rat angehört hatten, zum Rücktritt zu nötigen. Bei den Kronstreitigkeiten, die in Dänemark nach Friedrichs Tode ausgebrochen waren, veranlaßte W. [97] die Lübecker sich einzumischen, und der Einsetzung des Herzogs Christian von Holstein[7], des Sohnes des verstorbenen Königs, mit Gewalt entgegenzutreten. Er bewog Graf Christoph von Oldenburg[8], die Führung im Kriege[9] zu übernehmen; er bemühte sich in vielfachen persönlichen Besprechungen, bei denen er die Krone Schwedens in Aussicht stellte, Herzog Albrecht von Mecklenburg zur Beteiligung am Kriege zu bewegen; er verhandelte mit Gesandten des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen wegen Übertragung der dänischen Krone auf diesen. Er hatte den Bogen überspannt. Als im November 1534 der Stockelsdorfer Friede den Krieg mit den Holsteinern, die Lübeck belagert hatten, beendigte, war das Ansehen der 64 und der 100 geschwunden und die Mitglieder des alten Rates, die im März ihr Amt niedergelegt hatten, kehrten zurück. Trotz des empfindlichen Stoßes, den sein persönliches Ansehen erlitten, gab W. noch nicht nach. Er dachte nicht daran, sein Bürgermeisteramt aufzugeben. Noch vor Ende des Jahres war er wieder in Kopenhagen, um weitere Schritte für den Krieg einzuleiten; auch die Verhandlungen mit Herzog Albrecht von Mecklenburg nahm er nochmals auf. Inzwischen war vornehmlich wegen des ungünstigen Ausganges des dänischen Krieges die Stimmung gegen ihn immer mehr umgeschlagen. Während er im August eine Gesandtschaftsreise an Herzog Heinrich von Mecklenburg unternahm, wurden auf Betreiben der in Lübeck sich aufhaltenden hansischen Gesandten die neuerwählten Ratsmitglieder zur Niederlegung ihrer Ämter gedrängt und Broemses Rückberufung in die Wege geleitet. Ende August kehrte W. in die Stadt zurück. Freiwillig trat er jetzt aus dem Rat, nachdem ihm dieser zu Michaelis die Stelle des Amtsmannes zu Bergedorf für die nächsten sechs Jahre zugesagt hatte. Bevor er das Ruheamt antrat, ward er auf einer Reise nach Hadeln – die er unternommen hatte, um mit einer dort versammelten Söldnerschar in Verbindung zu treten – von einem Hauptmann des Erzbischofs Christoph von Bremen[10] aufgegriffen und in Rothenburg gefangen gesetzt. Dem Gesuche des Herzogs Heinrich von Braunschweig[11], ihm Wullenwever auszuliefern ward entsprochen. Der Herzog leitete eine Untersuchung wider ihn ein und ließ ihn auf Grund von Geständnissen, die er bei zweimaliger Vernehmung auf der Folter abgelegt hatte, am 24. September 1537 in Wolfenbüttel durch das Schwert hinrichten. – W. war mit Elisabeth, Tochter des Peter Pynne, verheiratet. Er wohnte im Hause seines Schwagers Königstraße 75. Sein Wappen – ein quergeteilter Schild, der oben einen nach rechts gehenden Löwen, unten zwei Eicheln, die an gekrümmten Zweigen aufrecht stehen, zeigt, L.B.S.9,92.

[98] Das Urteil über Wullenwever schwankt in der Geschichte. In allerneuester Zeit hat sich eine Auffassung geltend gemacht, die, ohne neues Material zu bringen, nicht nur der Persönlichkeit W’s, sondern auch seinen Widersachern und der ganzen Bewegung, die sich an seinen Namen knüpft, jede starke Bedeutung abspricht. Solcher Geschichtsschreibung gegenüber ist es genügend, aber auch geboten, auf das Urteil von Ranke und Waitz zu verweisen. Aus dem zehnten Kapitel seiner[12] Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation (Berlin, Duncker & Humblot, 1840): »Der Bürgermeister Wullenwever in Lübeck« mögen die folgenden Sätze herausgehoben werden: »Wullenwever stellt recht eigentlich den verwegenen Geist in sich dar, der sich in den deutschen Bürgerschaften jenes Jahrzehnts regte. Er hatte angefangen, wie so viele andere Volksführer in anderen Städten; das Talent, eine leicht angeregte Bürgerschaft nach seinem Sinne zu lenken, und die natürliche Kraft des politisch-religiösen Interesses trug ihn bis auf eine Stelle empor, wo er sich vermessen durfte, selbständig unter die Mächte der Welt einzugreifen. Er kannte keine Mäßigung; Unfälle hatten ihn nie vorsichtig gemacht; noch einmal rief er den Geist der alten Hanse auf, überredete deutsche Fürsten zu seinen Kriegen, trat mit fremden Königen in Bündnis. Demokratische, religiöse, merkantile und reinpolitische Motive durchdrangen sich in ihm; er faßte die Absicht, das reformierte Lübeck zum Oberhaupt des demokratischen Nordens zu machen; er selbst wäre an das Ruder der umgestalteten Welt getreten. Damit überschritt er aber zugleich den Kreis der Ideen, durch welche die deutsche Reformation gediehen war; die Kräfte, die er angriff, waren ihm doch zuletzt zu stark; die Niederlagen, welche die Demokratie überall erlitten, wirkten auch auf seine Vaterstadt ein; so verlor er den Boden unter den Füßen; er geriet seinen Feinden in die Hände. Da er den Norden nicht erobern konnte, so geschah ihm, daß er auf dem Schaffot umkam.«

Daneben sei an die Worte erinnert, die – fünfzehn Jahre nach Ranke – Waitz seinem den Lübecker Freunden Ernst Curtius, Ernst Deecke und Heinrich Thöl[13] gewidmeten Werke »Lübeck unter Jürgen Wullenwever – und die Europäische Politik« (3 Bde. Weidmannsche Buchh. Berl. 1855) zum Geleit gegeben hat. Waitz trägt kein Bedenken, zu denjenigen Teilen der Geschichte, in denen die größte Vollständigkeit gerechtfertigt, in gewissem Sinne geboten ist, die Bewegung zu rechnen, die sich an Wullenwevers Namen knüpft, die zuerst Lübeck, dann von Lübeck aus das nördliche Deutschland und die benachbarten skandinavischen Reiche ergriff und am Ende auch auf einen großen Teil des übrigen Europas eine nicht unerhebliche Einwirkung hatte. [99] »Es sind Fragen von großer allgemeiner Bedeutung, um die es sich hier handelt; verschiedene Interessen und Bestrebungen sind in- und durcheinander verpflochten; eine Reihe bedeutender oder doch aus einem oder dem andern Grunde anziehender Persönlichkeiten tritt handelnd auf. Die Ereignisse haben ein wahrhaft historisches und zugleich ein dramatisches Interesse, und dieses wächst, je weiter man in die Einzelheiten eingeht. Erst da erscheinen die Dinge in rechtem Lichte und Leben, treten die Charaktere bestimmter heraus; und erst so darf man hoffen der Wahrheit wenigstens nahe zu kommen. Der Auffassung, welche sich in neuerer Zeit zugunsten des Bürgermeisters Wullenwever geltend gemacht, welche in ihm zugleich einen Helden und Märtyrer gesehen hat, ist diese in die Verhältnisse näher eingehende Forschung nicht günstig gewesen. Ich lasse die Tatsachen sprechen: wer sie anders auslegen oder umdeuten will, dem ist schwerlich zu wehren. Aber das glaube ich wird jeder eingestehen, daß die Ereignisse gewaltiger waren als alle Pläne des Einzelnen, und daß sich in diesen Jahren eine Umwandlung vollzog, die auch ein mächtigerer Wille, eine stärkere Kraft als die jenes Mannes nicht hätte aufhalten können. Es ist der Kampf des deutschen Lübeck, des Hauptes der Hanse, um die Herrschaft auf der Ostsee gegen die Nebenbuhler in den westlichen Staaten Europas und die selbständig sich emporhebenden Reiche des Nordens, welcher in einem Augenblick gekämpft werden mußte, da die Reformation zu einer Umgestaltung aller Verhältnisse, auch des politischen und sozialen Lebens hier im Norden führte. Die Verwicklung dieser Dinge, die Katastrophe, welche die einzelne Persönlichkeit und ein ganzes Gemeinwesen betraf, der Zusammenhang mit den allgemeinen Fragen der europäischen Politik sind der Gegenstand dieser Darstellung: eben sie schienen mir der Mühe wert, welche auf diese Ausarbeitung verwandt werden mußte.«

Anmerkungen Wikisource

  1. Ziff. in Klammern bezieht sich auf die Lübeckische Ratslinie.
  2. Hermann Plönnies
  3. Friedrich I. von Dänemark
  4. Christian II. von Dänemark
  5. Schmalkaldischer Bund
  6. Anm.: Die Städte der Hanse führten im Regelfall, wie auch hier, keine Landkriege, sondern Seekriege, zumeist als Kaperkriege.
  7. Herzog Christian von Holstein, später als Christian III. König von Dänemark.
  8. Christoph von Oldenburg
  9. sog. Grafenfehde
  10. Christoph von Braunschweig-Wolfenbüttel, ein Bruder von Herzog Heinrich II. zu Braunschweig-Lüneburg
  11. Heinrich II., Herzog zu Braunschweig-Lüneburg.
  12. gemeint ist Ranke.
  13. Johann Heinrich Thöl