Jüdische Frauen vor vierzig Jahren

Textdaten
<<< >>>
Autor: Ludwig Kalisch
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Jüdische Frauen vor vierzig Jahren
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 392–397
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Probe aus „Bilder aus meiner Knabenzeit“
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[392]
Jüdische Frauen vor vierzig Jahren.[1]


Schon in meiner Knabenzeit unterschieden sich die älteren Frauen meiner Heimath sehr bedeutend von den jüngern nicht nur in Bezug auf Bildung, sondern auch in der äußeren Ankündigung. Jene trugen ein ganz eigenthümliches, halb orientalisches, halb russisches Costüm. Dasselbe bestand aus einem Kleide von schwerem Brocat und aus einem Kopfputz, dem „Geschleier“, einer goldenen Kappe mit einer breiten goldenen Stirnbinde, deren beide Enden kreuzweise über den Rücken fielen. Einige trugen auch den „Perlenbund“, der dem Kakoschnik, dem bekannten russischen, sehr kleidsamen Kopfschmuck, ähnlich und mit Perlen und Diamanten reich verziert war. Die jüngere Generation kleidete sich bereits deutsch, ohne darum auf den Juwelenschmuck zu verzichten. Die Hälfte ihres Vermögens hatten die Juden damals in Kleinodien stecken. Die Mitgift bestand fast zur Hälfte aus Goldschmuck und Edelsteinen, und mit dem zunehmenden Wohlstande ward auch der Schatz dieser Kostbarkeiten vergrößert. Selbst eine Frau aus dem Mittelstande trug ihre Perlenschnüre und hatte im Hause einen beträchtlichen Vorrath an Silberzeug. Dies ist aber nicht blos der Eitelkeit zuzuschreiben; sondern es hatte seinen Grund zum Theil in den Gefahren, denen bisher das Eigenthum der Juden ausgesetzt gewesen. Der Jude, der früher kein Grundeigenthum erwerben durfte und oft genug von der Habgier großer und kleiner Fürsten gebrandschatzt wurde, konnte wenigstens den Theil seines Vermögens, den er in Geschmeiden besaß, leicht vor der Raubsucht seiner Verfolger retten, wenn er zur Flucht genöthigt war. Mit der verbesserten Stellung der Juden verlor sich auch die Last an solch todtem Capital.

Die älteren Frauen der damaligen Zeit schlossen sich ebenso wie die Männer vor der nahenden Aufklärung ab, und die jüngern, die sich dieser Aufklärung sehr zugänglich zeigten, vermieden doch Alles, was die ehrwürdigen Matronen in deren Glaubensstarrheit hätte verletzen können. Sie wurden überhaupt mit einer unbeschreiblichen Hochachtung behandelt, nicht blos von der heranwachsenden weiblichen Generation, sondern auch von den Männern und zwar von den hervorragendsten und gelehrtesten. An den Sonnabenden und Festtagen, vor einer Reise und bei der Rückkehr von derselben drängte man sich herbei, um ihren Segen zu empfangen, und sie spendeten ihn mit einer schwer zu schildernden feierlichen Sammlung. Sie waren nach ihrer Weise gut unterrichtet; denn sie verstanden nicht allein die hebräischen Gebete, sondern auch die Bibel, und Viele von ihnen, wie z. B. meine Großmutter väterlicher Seits, citirte im Gespräche zahlreiche Bibelverse und Sprüche jüdischer Gelehrten und schrieb dieselben auch ohne orthographische Fehler. Sie ließen es auch nicht bei frommen Worten bewenden, sondern übten die Wohlthätigkeit als eine heilige Pflicht und übten sie im Stillen. Wo ihre eigenen Kräfte nicht ausreichten, nahmen sie die Kräfte Anderer in Anspruch und scheuten keine Mühe, keine Entsagung, wenn es galt, den Bedrängten Hülfe zu spenden, den Kranken die Schmerzen zu erleichtern, den Verfolgten zu ihrem Recht zu verhelfen, den Verleumdeten Genugthuung zu verschaffen. Ihr eifrigstes Streben war den Namen einer Zenoue (fromme Matrone) zu verdienen und ihr Beispiel von Anderen befolgt zu sehen.

Auf Sittenreinheit wurde streng gehalten und eine Verletzung derselben zog der Familie einen ewigen Makel zu. Wenn eine Frau oder ein Mädchen sich verging, so wurde dies fast als ein Nationalunglück betrachtet. Solche Fälle kamen übrigens äußerst selten vor. Ich erinnere mich eines Falles, den ich als Beweis für die Sittenstrenge unter den damaligen Juden anführen will. Eines Sommerabends saß ich, noch ein kleiner Knabe, vor dem Hause meiner Großeltern. Mehrere Nachbarinnen hatten sich vor demselben eingefunden und plauderten mit meiner Mutter und Großmutter. Während dieser Unterhaltung geht eine Frau vorbei, die ich sehr gut kannte, gerade vor sich hinstarrend, Niemand grüßend und von Niemand gegrüßt. Dies fiel mir um so mehr auf, als diese Frau mit den vor unserer Wohnung versammelten Damen bisher auf dem freundschaftlichsten Fuß gestanden. Die Nachbarinnen zischelten nun untereinander und schienen sehr bestürzt. Die Frau war nämlich des Ehebruchs von ihrem Gatten überwiesen worden. Am andern Morgen fand man die Leiche im Stadtgraben. Durch Selbstmord hatte die Unglückliche die Schmach gesühnt, die ihr das Leben unerträglich machte.

Die Keuschheit wurde bei den Frauen nicht nur durch die strenge Erziehung, durch die frommen Lehren der Eltern, sondern auch dadurch erhalten, daß die Mädchen im fünfzehnten oder im sechszehnten Jahre in die Ehe traten, ja nicht selten schon im vierzehnten Jahre. Der Gatte war nicht viel älter. Bei diesen Bündnissen spielte die Leidenschaft keine Rolle. Amor arbeitete Hymen nicht in die Hände. Die Eltern entschieden, und die Kinder fügten sich dem Willen der Eltern. Daß unter solchen Verhältnissen die Ehen nicht immer glücklich waren, versteht sich von selbst; doch waren die entschieden unglücklichen ziemlich selten. Die Ehen beruhten auf gegenseitiger Duldung und erhielten eine besondere Stütze durch die tief eingeprägten religiösen Grundsätze. Ein Sturm in der Ehe wurde von den Schwiegereltern oder sonstigen Verwandten beschworen. Nahmen die Zwistigkeiten einen bedenklicheren Charakter an, so wandte sich das Paar an einen ehrwürdigen Rabbi oder an den Rabbiner der Stadt, und der fromme Mann suchte durch seine Ermahnungen den Frieden wieder herzustellen.

Die Rabbiner erfreuten sich eines unbedingten Vertrauens und verdienten dasselbe auch im höchsten Grade. Sie waren keine heuchlerische Pfaffen, welche die Armen und Bedrängten auf das ewige Leben vertrösten, während sie sich selbst das irdische Leben so angenehm wie möglich zu machen suchen und sich runde Bäuche anmästen. Ihr Leben war eine fortgesetzte Selbstopferung. Die Achtung, die man vor dem Rabbiner hegte, galt ihm, seiner Person, nicht seinem Stande. Unter den Juden giebt es überhaupt [393] keinen eigentlich geistlichen Stand. Jeder Jude kann, ohne besondere Weihe, Rabbiner werden und wieder dem Rabbinat entsagen.

Wenn sich nun bei den Ehezwisten die Bemühungen des Rabbiners unzulänglich erwiesen, so wurde zur Scheidung geschritten. Die Ehescheidungen waren nicht sehr selten und wurden in der Synagoge vollzogen.

Die Mädchen wurden nicht streng überwacht, Sie durften ohne Begleitung ausgehen; sie mißbrauchten jedoch diese Freiheit nicht. Ein Mädchen, das sich häufig auf der Straße allein sehen ließ, gefährdete ihren Ruf und wurde, mit Anspielung auf die unglückliche Tochter des Erzvaters Jacob, „Dina Läuferin“ gescholten. Bei den Ehebündnissen wurde viel weniger auf Geld als auf guten Ruf gesehen. In eine Familie zu treten, die bedeutende Gelehrte und notorisch fromme Männer hervorgebracht, wurde für keine geringe Ehre gehalten. Die Aristokratie unter damaligen Juden hatte ihre langen Stammbäume, und man nannte mit Stolz die Männer, die durch ihre Schriften hervorgeragt, durch Wohlthun sich ausgezeichnet oder durch ihren Tod für den Glauben ein glänzendes Beispiel gegeben. Da solche Namen unter den Juden aller Länder bekannt waren, so wurden diejenigen, die sich der Abstammung von glorreichen Männern rühmen konnten, überall bereitwilligst aufgenommen. Waren nun zwei Familienväter von solch ruhmwürdiger Abkunft, so suchten sie durch die Verbindung ihrer Kinder ihren Stamm noch mehr zu veredeln, und nicht selten geschah es, daß die Sprößlinge, die noch in den Windeln zappelten, verlobt wurden. Das Brautpaar in der Wiege ließ sich drei Lustren später ohne Sträuben an den Traualtar führen, und diese Ehen waren bei den damaligen patriarchalischen Verhältnissen nichts weniger als unglücklich. Die Ehen werden im Himmel geschlossen, sagte man sich, und indem man den lieben Gott zum Eheprocurator machte, fügte man sich ergebungsvoll in dessen Schickung und beschwichtigte das geheime Grollen des Herzens durch das Bewußtsein gewissenhafter Pflichterfüllung.

Und der Pflichten gab es genug zu erfüllen. In der Haushaltung waren tausend rabbinische Vorschriften streng zu beobachten und sie erheischten eine unausgesetzte Ueberwachung. Der Topf, der auf dem Markte gekauft worden, mußte erst in fließendes Wasser getaucht werden, bevor er benutzt werden konnte, und kam er in die Küche, so mußte er höchst sorgfältig von einem großen Theile seiner Mittöpfe abgesondert werden. Die Töpfe nämlich, die zu Fleischspeisen dienten, durfte man niemals für Milchspeisen verwenden. Eine Verwechslung dieser Geschirre machte die Speisen unbrauchbar und brachte in die Wirthschaft eine unbeschreibliche Verwirrung, die nur durch unablässiges Glühen, Waschen und Scheuern wieder beseitigt werden konnte. Man durfte niemals mit Sicherheit darauf rechnen, das Geflügel, das gackernd und schnatternd im Hofe herumlief, einst auf dem Tische zu sehen. Wenn der Schlächter mit dem Messer nicht tief genug oder etwas zu tief in den Hals des Thieres einschnitt, so war dasselbe dem Genuß entzogen. War es tadellos abgeschlachtet, so konnte sich doch beim Ausweiden desselben ein Unglück ereignen. Sobald man nämlich irgend eine Abnormität an den Geweiden fand, mußte das Thier sogleich zu einem Rabbiner geschafft werden, der die Befugniß hatte, über solche Angelegenheiten zu entscheiden. Er untersuchte höchst sorgfältig die Abnormität, und sprach er das verhängnißvolle „Trepha“ (ungenießbar) aus, so war der Genuß des betreffenden Thieres untersagt. Es ereignete sich nicht selten, daß man sich auf eine gebratene Gans freute und mit einem magern Fisch fürliebnehmen mußte, weil die Gans durch einen verdächtigen Fleck an der Leber oder eine Verhärtung am Magen von dem Rabbiner als „Trepha“ erklärt worden. Solche Fälle konnten sich ereignen, wenn man Gäste zu Tisch geladen, was dann die arme Hausfrau in keine geringe Verlegenheit setzte. Der Talmud, der sich um die geringfügigsten culinarischen Angelegenheiten kümmert und den Küchenherd streng überwacht, machte den jüdischen Hausfrauen das Leben recht sauer, und sie schwebten in steter Angst, besonders an Sonnabenden. Da nämlich den Juden untersagt ist, Küchenfeuer am Sabbath zu unterhalten, so wurden die Speisen am Freitag in wohlverschlossenen Töpfen, auf denen der Name der Eigenthümer mit Kreide geschrieben war, zu den jüdischen Bäckern geschickt und am folgenden Mittag von der Magd abgeholt. Nun sahen sich aber die Töpfe sehr ähnlich; dazu kam noch, daß der Ofenruß nicht selten die mit Kreide geschriebenen Namen unleserlich machte; die Töpfe wurden daher häufig vertauscht, so daß der Arme die delicaten Speisen des Reichen bekam und dieser sich mit der dünnen Kost des Armen begnügen mußte. War der Ofen übermäßig geheizt, so fand man bei der Oeffnung der Geschirre, die vierundzwanzig Stunden im Ofen zugebracht, verkohlte und völlig ungenießbare Speisen. Es konnte auch vorkommen, daß die Speisen einer jüdischen Familie, die im Geruche der Aufklärerei stand und sich in Bezug auf die talmudischen Vorschriften manche Freiheiten erlaubte, im Backofen sich befanden. Eine fromme Familie, die dies erfuhr, berührte dann die eigenen Speisen nicht, aus Furcht, daß die aufgeklärten Töpfe den orthodoxen Töpfen zu nahe gekommen sein könnten. Es kam sogar vor, daß ein Christ einen mit Schweinefleisch gefüllten Topf in einen jüdischen Backofen einzuschmuggeln wußte und durch diesen leidigen Spaß den ganzen Inhalt des Ofens, Speise und Geschirr, ungenießbar und unbrauchbar machte.

Außer den Rabbinern erschwerten auch noch die Kabbalisten den jüdischen Frauen das Dasein durch tausend Vorschriften, über deren Grund man sich oft umsonst den Kopf zerbrach. Eine dieser Vorschriften, die ich meine Großmutter gewissenhaft erfüllen sah, ist mysteriös genug und hat meine Neugierde nicht wenig gefoltert. Alle drei Monate, und zwar zur Zeit der Nachtgleichen und Sonnenwenden, öffnete die fromme Matrone sämmtliche Speiseschränke und legte auf die mit rohen feuchten Speisen oder Flüssigkeiten gefüllten Töpfe, Flaschen und sonstige Geschirre verrostete Nägel, alte Schlüssel und was sie an unbrauchbarem Eisen zur Hand hatte. Als ich sie nach der Ursache dieses Gebrauchs fragte, antwortete sie, dies geschehe, damit kein Blutstropfen auf die Nahrungsmittel falle. Weiter ging ihre Gelehrsamkeit nicht, und ich war so klug wie zuvor. Viele Jahre später erfuhr ich erst, daß diese kabbalistische Vorschrift zuvörderst auf dem Aberglauben beruhe, daß bei dem Beginn jeder der vier Jahreszeiten aus den oberen Luftschichten ein die Gesundheit bedrohender Blutstropfen falle, das Eisen aber die Kraft besitze, denselben unschädlich zu machen. Aber auch die Blutplage in Aegypten, das Geschick der Tochter Jephta’s und sogar der Adonis-Mythus spielen eine Rolle in diesem Aberglauben, den die Kabbalisten durch allerlei etymologische und meteorologische Firlefanzereien unter die zu beobachtenden Gebräuche eingeschwärzt und den Judenfeinden einst einen bequemen Grund zu neuen Verdächtigungen gegeben.

Man sieht, wie sauer den Juden die Tafelfreuden wurden und welche Mühe und Noth sie den frommen Hausfrauen verursachten. Dazu kamen noch die vielen langen Gebete, die sie verrichten mußten und die sehr viel Zeit raubten. Man konnte keinen Bissen Brod, keinen Schluck Wasser genießen, ohne sich vor und nach dem Genusse desselben durch ein Gebet mit dem Himmel abzufinden. Außerdem mußte eine fromme Frau auch die Gebete ihrer Kinder, besonders der Töchter, überwachen. Auch die Werke der Wohlthätigkeit nahmen ihre Zeit in Anspruch. Verschämten Armen mußte geholfen, dürftige Kranke mußten besucht und gepflegt, Familien, denen der Tod ein Mitglied geraubt, mußte Trost gespendet werden. Die Wohlthätigkeit wurde im Stillen geübt; doch betraute man nicht selten die Kinder mit der Ausführung derselben, um sie selbst an Mildthätigkeit zu gewöhnen.

So floß das Leben dieser Frauen in der gewissenhaften Beobachtung ihrer Pflichten ruhig und einförmig dahin. Indessen hatten sie doch auch ihren Ehrgeiz, und dieser bestand darin, die männlichen Nachkommen ihrer Familie als große Schriftgelehrte zu sehen. Meine Großmutter, von der ich eben spreche, hegte keinen innigeren, keinen heißeren Wunsch, als mich, ihr ältestes männliches Enkelkind, einst als solch herrliche Leuchte in Israel glänzen zu sehen. Sie ließ mich nie von ihrer Seite. Wenn sie sich mit ihren Freundinnen und Nachbarinnen unterhielt, saß ich immer auf einem Bänkchen zu ihren Füßen, und so oft sie im Gespräch irgend eine Behauptung auf’s Kräftigste und Unwiderleglichste darthun wollte, unterließ sie es niemals, die Hände auf meinen Kopf zu legen und dabei feierlichst auszurufen: „So wahr soll ich Dich ‚darschenen‘ (predigen) hören!“

Keiner der großen Schriftgelehrten wurde so oft von den Juden genannt, wie Hillel. Kein Anderer erfreute sich einer solchen Popularität und wurde so oft der Jugend als nachzuahmendes [394] Beispiel von Frömmigkeit, Bescheidenheit und himmlischer Geduld empfohlen. Man erzählt von ihm viele Züge, welche die schönen Eigenschaften seines Geistes und Herzens bekunden.

Den guten Hillel zu lieben, der in seiner Milde immer zu ihren Gunsten sprach, hatten die Frauen übrigens um so mehr Grund, als andere Schriftgelehrten sich über sie oft manche spitze Bemerkung erlaubten. So fragt Einer derselben, warum Gott so grausam war, dem armen Hiob alle seine Güter zu nehmen und ihm just sein Weib zu lassen, das sein Unglück ja noch vermehren mußte? und er beantwortete die Frage damit, daß dies der Herr aus purer Barmherzigkeit gethan; denn da er beschlossen, ihm Alles, was er ihm genommen, doppelt wieder zu geben, hätte er ja Hiob, wenn er ihm auch sein Weib genommen, zwei Weiber geben müssen, was keine Belohnung für die ausgestandenen Leiden, sondern im Gegentheil ein neues und sehr hartes Unglück gewesen wäre.

Von Hillel erzählt der Talmud folgende Geschichte: Zwei reiche Leute machten einst folgende Wette. Der Eine behauptete, Hillel’s Geduld sei durch nichts in der Welt zu erschüttern; der Andere versicherte, daß er es fertig bringen könne, den sanften Gelehrten in den Harnisch zu jagen. Der Wettpreis bestand in der Summe von hundert Silbersekeln.

Der Eine der Wettenden nun, der Hillel außer Fassung bringen wollte, ging an einem Freitag Nachmittag in dessen Wohnung und rief mit Zeterstimme:

„Heda, Hillel! Wo steckt Hillel?“

Der Rabbi, der gerade im Begriff stand ein Bad zu nehmen und dann die Sabbathkleider anzulegen, hörte das Geschrei, warf einen Mantel um, trat zu dem Fremden und sagte: „Was willst Du von mir?“

„Bist Du Hillel?“ schrie ihn Jener an.

„Ich bin Hillel,“ antwortete der Rabbi in sanftem Tone.

„Ich komme, Dich zu fragen, warum die Babylonier spitze Köpfe haben?“ sagte der Mann.

„Die Babylonier haben spitze Köpfe,“ antwortete Hillel, „weil ihre Wehemütter es nicht verstehen, die Kinder bei deren Geburt naturgemäß zu behandeln.“

Der Mann entfernte sich, und Hillel kehrte in sein Zimmer zurück. Es dauerte aber nicht lange, als Jener wieder kam und mit fürchterlicher Stimme schrie:

„Heda, Hillel! Wo ist Hillel?“

Hillel erschien und fragte sanft: „Mein Sohn, was begehrst Du?“

„Ich komme, Dich zu fragen, warum die Termudier an Augenentzündungen leiden?“ sagte der Fremde.

„Weil sie in sandigen Gegenden wohnen und ihnen der beißende Staub in’s Gesicht weht,“ antwortete der Rabbi.

Der Mann entfernte sich; aber kaum hatte Hillel sein Zimmer wieder betreten, als dieselbe Stimme abermals schrie:

„Hillel! Wo steckt Hillel?“

Ruhigen Schrittes trat dieser vor den Fremden und sprach sanft und mild:

„Mein Sohn, hast Du noch eine Frage an mich zu richten?“

„Freilich! Freilich!“ sagte der Fremde. „Warum haben die Afrikaner breite Füße?“

„Weil sie an der Küste auf lockerem feuchten Boden leben und barfuß gehen,“ antwortete Hillel.

Nach einer Pause begann der Fremde wieder:

„Ich hätte wohl noch mancherlei zu fragen, allein ich fürchte, Du könntest ungeduldig werden.“

„Frage getrost, mein Sohn,“ antwortete der Rabbi, „ich bin gern bereit, Dir zu antworten.“

Und mit diesen Worten setzte er sich auf eine Bank und harrte der Rede des Fremden entgegen.

Dieser war in keiner geringen Verlegenheit; denn er sah die Gefahr, seine Wette zu verlieren. Er entschloß sich also, das Aeußerste zu versuchen, um den Rabbi in Wuth zu bringen. Frech und unverschämt fuhr er plötzlich heraus:

„Bist Du Hillel?“

„Ich bin Hillel,“ erwiderte der Rabbi sanft.

„Hillel, den man den Ersten unter den Juden preist?“

„Ich bin Hillel,“ wiederholte er.

„Nun, ich wünsche,“ rief der Andere, „daß Israel nicht Viele Deines Gleichen zähle.“

„Und warum nicht?“ fragte Hillel lächelnd.

„Weil Du mir einen Verlust von hundert Silbersekeln zuziehst,“ sagte Jener. „Ich habe diese Summe gewettet, Dich aus Deiner ruhigen Fassung zu bringen, und ich sehe nun, daß mein Geld dahin ist.“

„Hoffentlich hast Du dadurch gelernt,“ bemerkte Hillel, „stets die Seelenruhe zu bewahren und Dich niemals zu wildem Zorn hinreißen zu lassen. Es ist auch besser, Du verlierst durch Deine thörichte Wette hundert Silbersekel, als daß ich meine Gemüthsruhe und meine Besonnenheit verliere.“ –

Der weise und sanfte Hillel lebte vor Jesus Christus. –

Meine Großmutter erzählte gern allerlei Fabeln und Legenden und wußte dabei meine Aufmerksamkeit im höchsten Grade zu fesseln. Sehr anziehend war die Geschichte vom Dalles. Dieselbe hat sich meinem Gedächtniß so fest eingeprägt, daß ich sie wörtlich, wie meine Großmutter sie erzählt hat, hier niederschreiben kann.

Einmal kam ein dürftiger Mann in ein Haus und bat um Unterstützung. Der Hausherr und seine Gattin waren gutmüthige Leute; sie luden den armen Gast zu Tisch und erquickten ihn mit den besten Bissen. Nach Tische fragte der Fremdling den Wirth, ob er ihn nicht über Nacht beherbergen wollte? Worauf die Gattin zu ihrem Manne sagte: „In der Dachkammer ist Raum genug, um den Fremden unterzubringen.“ Man wies also dem wegemüden Manne ein Obdach an.

Am andern Morgen glaubte das Ehepaar, der Fremdling würde seinen Weg fortsetzen. Sie täuschten sich aber gewaltig. Der Fremdling kam vielmehr zur Essenszeit in’s Zimmer, setzte sich an den Tisch und ließ nichts auf dem Teller zurück. Nach der Mahlzeit ging er wieder in die ihm angewiesene Bodenkammer.

Mehrere Tage, mehrere Wochen vergingen; aber der Fremdling, statt sich für die so lange genossene Gastfreundschaft zu bedanken und endlich den Wanderstab wieder zu ergreifen, kam nach wie vor regelmäßig zu Tisch, aß mit immer gesteigertem Appetit und suchte nach der Mahlzeit die Bodenkammer auf. Mann und Frau wurden über diesen Mißbrauch der Gastfreundschaft um so bestürzter, als sie durchaus nicht in blühenden Verhältnissen, vielmehr im Rückgang waren und kaum genug hatten, sich selbst zu ernähren. Dabei waren sie so gutmüthig und zartfühlend, daß sie es lange nicht über sich vermochten, dem Fremdling die Gastfreundschaft zu kündigen. Allein am Ende war es ihnen nicht mehr möglich, diesen dritten Mund zu speisen. Die Frau sagte daher zu ihrem Manne: „Gehe zu dem Fremden und sage ihm, daß wir ihn gern noch länger im Hause behalten würden, wenn wir in besseren Umständen wären, daß wir aber schlechterdings die Gastfreundschaft nicht länger fortsetzen können.“

Das war für den gutmüthigen Mann ein saurer Auftrag. Er faßte sich indessen ein Herz, ging hinauf in die Bodenkammer zu dem Fremdling und sagte ihm: „Mein Freund, ich habe die Gastfreundschaft gegen Dich treu und redlich erfüllt. Du hast mich um ein Obdach für eine einzige Nacht gebeten, und ich habe nichts dazu gesagt, daß Du mehrere Monate in meinem Hause geblieben und meinen Tisch mit mir getheilt hast, aber so schwer es mir auch wird, ich muß Dir sagen, daß ich Dich nicht länger bei mir behalten kann, denn ich bin selbst dürftig, ja, der Mangel wird täglich bei mir größer. Gehe zu einem vermögenden Manne in der Nachbarschaft, und er wird Dir gewiß ein Obdach nicht versagen.“

Der Fremdling, der auf seinem Lager behaglich ausgestreckt war, erhob sich ein wenig und antwortete:

„Was Du sagst, ist gerecht und billig. Aber siehe! mein Gewand ist so verschlissen, daß ich nicht mehr in anständiger Weise vor die Leute treten kann. Gieb mir ein besseres Gewand und ich will dann bei Anderen um Hülfe bitten.“

Der Mann hinterbrachte seiner Gattin die Worte des Fremden, worauf diese sagte:

„Ich denke, es ist besser, wir lassen ihm ein anständiges Gewand machen, damit er endlich von uns scheide, als daß wir ihn noch länger verpflegen.“

Sie ließen den Schneider kommen, der den Fremdling bekleidete, und sie erwarteten nun, daß sich dieser verabschieden würde. Wer sich aber nicht verabschiedete, war er. Er aß womöglich mit noch größerem Appetit. Je mehr er aß, desto stärker [395] ward er, und je stärker er ward, desto mehr aß er. Den braven Leuten wurde es ganz unheimlich. Der Hausherr aber ging wieder in die Dachkammer und sagte zu dem Gaste: „Wir haben Dir trotz unserer sehr beschränkten Mittel ein neues Kleid machen lassen, wie Du gewünscht. Warum bist Du nicht geschieden, wie Du versprochen?“

„Der Schneider hat das Gewand verpfuscht,“ erwiderte der Fremdling. „Siehe, es ist mir zu kurz und zu eng.“

In der That war das Gewand nicht lang und weit genug, und die biedern Leute ließen ihm ein viel längeres und weiteres machen. Als aber der Gast auch jetzt sich nicht anschickte, das Haus zu verlassen, gingen Beide zu ihm auf den Boden, wo er sein Lager aufgesucht hatte.

„Wir haben Dir,“ sagte der Wirth, „abermals einen neuen Anzug machen lassen, und dennoch bist Du nicht geschieden!“

„Weil auch dieses Gewand zu knapp ist,“ erwiderte Jener. „Seht her,“ fuhr er fort, indem er sich erhob, „das Kleid reicht mir kaum bis an die Kniee.“

Die Beiden sahen zu ihrem Entsetzen, daß der Fremde jetzt zu einer fast riesigen Größe angewachsen war und daß ihm daher das Kleid viel zu kurz und viel zu eng war.

„Wer bist Du?“ riefen Beide.

[396] „Ich bin der Dalles (Armuth),“ sagte Jener. „Wer mich unvorsichtig beherbergt, dessen Haus verlasse ich so leicht nicht wieder; ich wachse schnell heran zu einem Riesen, und Riesenkräfte gehören dazu, mich wieder loszuwerden.“ –

Sehr fesselnd waren auch für mich die Geschichten von dem König Og zu Basan, der ein solcher Riese war, daß seine Fußsohlen eine Länge von zehn Meilen hatten. Sein Appetit stand im Verhältniß zu seiner Körperstärke. Es wird von ihm erzählt, daß er im Dienste des Erzvaters Abraham gestanden, und als dieser ihn einst zornig anfuhr, fiel dem armen Og vor Angst ein Zahn aus. Der fromme Erzvater, der einen praktischen Sinn hatte, ließ sich aus diesem Zahn einen Armsessel, oder wie Andere behaupten, eine Bettlade machen.

„Die Bibel sagt dies nicht,“ warf ich ein.

„Die Bibel sagt dies nicht, aber die Rabbiner sagen es.“

„Wie so wissen es die Rabbiner?“ fragte ich.

„Wenn sie es nicht wüßten, würden sie es gewiß nicht sagen,“ antwortete meine Großmutter.

Sehr häufig erzählte sie mir auch von Napoleon und führte ihn mir als Exempel an, wie weit es ein Mann, wenn auch von der niedrigsten Abkunft, durch Genie und Fleiß bringen kann. Sie sagte mir nämlich, daß Napoleon’s Vater ein armer Schuster gewesen, der für die Erziehung seines Sohnes nichts habe thun können, und der Sohn sei doch Kaiser geworden und habe die ganze Welt beherrscht. „Wenn es nun ein Schustersohn durch Entwicklung seiner geistigen Anlagen so weit bringen kann,“ setzte sie ernst hinzu, „wie weit kann es erst ein Mensch bringen, der zu seiner Familie die größten und berühmtesten Talmudisten zählt!“

„Kann der auch Kaiser werden?“ fragte ich.

„Nein, mein Sohn!“ erwiderte sie. „Wir leben im Exil und werden überall verfolgt. Aber Du weißt, es giebt viererlei Kronen: die Krone des Königthums, die Krone des Priesterthums, die Krone des Gesetzes und endlich die schönste und herrlichste aller Kronen – die Krone eines guten Rufs; diese Krone kannst Du Dir erwerben.“ –

Meine andere Großmutter gehörte zu den gelehrten Frauen. Sie war in der heiligen Schrift sehr bewandert und schrieb das Hebräische geläufig und ohne orthographische Schnitzer. Sie wechselte auch Briefe mit mehreren Rabbinern aus ihrer Verwandtschaft, und diese sagten ihr zum Ruhme nach, daß sie niemals einen hebräischen Bibelvers falsch citirt habe. Es war eine stattlich gewachsene lebhafte Frau mit einem frischen, sehr regelmäßigen Gesicht. Sie stammte von sehr reichen Eltern; ihr Gatte verlor indessen die beträchtliche Mitgift, die sie ihm gebracht. Diesen Verlust ertrug sie mit Ergebung. Ein großer ebenso unerwarteter als unüberwindlicher Schmerz war ihr für ihr späteres Alter vorbehalten. Einer ihrer Sohne, der sich in Berlin niedergelassen, ging nämlich dort mit Weib und Kindern zum Christenthum über. Als die Kunde von diesem Ereigniß zu den Ohren der armen Frau und ihres Gatten drang, hüllten sich beide in Trauer. Der Sohn war für sie todt. Sie sprachen seinen Namen nicht mehr aus; es wurde seiner nicht mehr gedacht. Bald darauf siedelte ihr jüngster und geliebtester Sohn ebenfalls nach Berlin über. Dieser hing zwar sehr fest am Judenthum, unterhielt indessen doch seine Beziehungen zu dem älteren getauften Bruder. Anderthalb Decennien später kann die Frau nicht die Sehnsucht unterdrücken, ihren jüngsten Sohn wiederzusehen. Sie unternimmt die Reise nach Berlin und wird mit offenen Armen von ihm empfangen. Der Convertit, der die Ankunft seiner Mutter vernimmt, aber nicht wagt, vor ihr Antlitz zu treten, umschweift jeden Tag stundenlang das Haus seines Bruders, um die Mutter, wenn sie ausgeht, zu sehen, ohne von ihr gesehen zu werden. Da er selbst sich ihr nicht zu nähern traut, hegt er den heißen Wunsch, ihr seine Kinder vorführen zu lassen, in der Ueberzeugung, der Anblick der unschuldigen Kinder werde die Großmutter rühren und wohl auch gegen ihn das mütterliche Herz milder stimmen. Er theilt diesen Wunsch seinem jüngeren Bruder mit, und dieser führt ihr auch wirklich eines Tages die Kinder vor, ohne ein Wort zu sagen. Die ehrwürdige Matrone sieht die Kleinen und fragt, wer sie seien? Ihr jüngster Sohn nennt ihr schüchtern den Vater dieser Kinder. Sie kämpft einen Augenblick; Thränen stehen in ihren Augen. Schon breitet sie die Arme aus, die Enkel an’s Herz zu drücken, als sie plötzlich mit einem lauten „Nimmermehr!“ sich von ihnen abwendet. Die armen Kinder wurden abgeführt, und es wurde dieser Scene nicht wieder vor ihr erwähnt.

Unter den jüngeren verheiratheten Frauen gab es, wie ich schon gesagt, Manche, die sich bereitwillig dem allgemeinen Culturleben anschlossen. Sie schrieben und lasen deutsch, und suchten auch andere Belehrung, als aus den jüdisch-deutschen, streng orthodoxen Büchern zu schöpfen war. Neben Lessing’s dramatischen Schriften, unter denen Nathan der Weise am beliebtesten war, wurden auch die Werke Schiller’s stark gelesen und viele seiner Gedichte, wie die Balladen und besonders die Glocke, sogar auswendig gelernt. Auch Romane wurden bereits, freilich mehr oder minder verstohlen, gelesen; man holte sich diese geistige Nahrung aus einer Leihbibliothek, an deren Spitze ein Jude stand. Seine Glaubensgenossinnen hielten ihn in ununterbrochener Thätigkeit. Alle Bücher wurden mit Heißhunger verschlungen, und es entstand durch die verworrene Lectüre eine Halbbildung, die ihre komischen Seiten hatte. Man schnappte hochtrabende Phrasen auf und wendete sie in der Unterhaltung oder in Briefen gerade da an, wo sie wie die Faust auf’s Auge paßten. Indessen gab es doch Mehrere, deren Lectüre von unterrichteten Freunden und von der eigenen Intelligenz geleitet wurde. Wie dem aber sei, Empfänglichkeit für geistige Cultur gab sich unter diesen jüngeren Frauen auf’s Entschiedenste kund.

Diesen plötzlich erwachten Sinn für allgemeine Bildung unter den Jüdinnen wird man leichter begreifen, wenn man den Blick nach Berlin richtet und sich den Beginn der jüdischen Aufklärungsepoche vergegenwärtigt, die dort von Mendelssohn hervorgerufen worden. Kaum hatte dieser Reformator sich eine angesehene Stellung in der deutschen Literatur erobert, als sein Haus einen Mittelpunkt für die hervorragendsten Männer im Reiche des Geistes bildete. Juden und Christen fanden hier einen neutralen Boden, wo kein religiöses Vorurtheil galt und keines sich geltend machen wollte. Man sprach hier über die höchsten Interessen der Menschheit, und das Schöne und Gute, die Kalokagathia, war der unerschöpfliche Stoff der Unterhaltung. Dieser Unterhaltung wohnten nicht nur die Töchter des Hausherrn, sondern auch deren Freundinnen häufig bei. Sobald der jüdische Philosoph die Augen geschlossen, bildeten diese Damen ihrerseits Kreise, zu denen sich alle Größen der Literatur, der Kunst, der Wissenschaft, ja selbst fürstliche Personen drängten. Man langweilte sich in den Palästen, und man suchte Geist und Witz im Hause der schönen Henriette Herz, der hochgebildeten Dorothea Veit, der gemüthvollen Rahel Lewin. Selbst Alexander von Humboldt nannte sein Familienschloß Tegel „Schloß Langeweile“. Er und sein Bruder Wilhelm lernten von Henriette Herz die jüdische Currentschrift, in welcher sie, ohne verrathen zu werden und das Zetergeschrei der Ihrigen zu erregen, aufrichtig bekennen durften, daß man sich in Gesellschaft jüdischer Damen besser unterhalte, als auf dem Schlosse der Väter.

Freilich war auch in diesen Kreisen nicht Alles pures Gold. Die Christen jüdelten, die Juden, oder vielmehr die Jüdinnen, christelten in denselben viel zu viel. Keiner der Männer, die sich bei den genannten Damen einfanden, hat für die Befreiung der Juden aus der langen Schmach und Unterdrückung eine Lanze gebrochen. Sie waren keine Freunde der Juden, sondern nur Freunde der schönen Jüdinnen, und es mischte sich in diesen Umgang ein muckerthümliches Element, dem man unter dem Titel „Tugendbund“ einen Schein der Heiligkeit verleihen wollte. Die Meisten von ihnen hatten keine Ueberzeugung, weder eine politische, noch eine religiöse, und ihre laxe Moral wirkte höchst nachtheilig auf die Gemüther jener Frauen, die in äußerster Sittenstrenge erzogen waren. So kam es denn, daß die ältere Tochter Mendelssohn’s, Dorothea, ihrem biedern Gatten entlief und zwei Kinder verließ, um sich dem lüderlichen, selbstsüchtigen, gesinnungslosen Friedrich Schlegel anzuschließen. Sie ging erst zur protestantischen, dann zur katholischen Kirche über und drückte ihre Lippen auf den Pantoffel Sr. Heiligkeit. Ihre Schwester Henriette begnügte sich damit, katholisch zu werden. Henriette Herz, die Seelenbraut Schleiermacher’s, verließ ebenfalls den Glauben ihrer Väter, ebenso Rahel, welcher das Judenthum widerstrebte.

Wenn nun auch die genannten Damen zum Christenthum übergingen, so geschah dies doch erst nach dem Tod ihrer Eltern; so lange diese lebten, schonten sie deren strenge Orthodoxie. In [397] meiner Vaterstadt war, bei dem engen patriarchalischen Familienleben und dem vollständigen Abschließen nach außen, diese Schonung noch größer; die jüngern Frauen beobachteten dieselbe sogar in Kleinigkeiten, um nicht die strenggläubigen Matronen zu verletzen. Sie kleideten sich zwar wie Christinnen, weil in Bezug auf die weibliche Kleidertracht der Talmud glücklicherweise keine Vorschrift von sich gegeben; keine jüngere Frau würde sich aber damals erlaubt haben, eine stark ausgeschnittene Haube zu tragen, oder sich gar entblößten Hauptes sehen zu lassen, da einer talmudischen Vorschrift zufolge die verheirathete Jüdin ihr Haar selbst vor ihrem Gatten sorgfältig verbergen muß.




  1. Eine Probe aus dem in einigen Tagen erscheinenden Buche von Ludwig Kalisch: „Bilder aus meiner Knabenzeit“, welches äußerst interessante und, wie aus obiger Skizze hervorgeht, auch sehr liebenswürdig geschriebene Schilderungen aus dem altjüdischen Leben enthält.
    D. Red.