Im Gottesländchen/Wieder im Abautale

Landeinwärts Im Gottesländchen
von Edgar Baumann
Usmaiten
{{{ANMERKUNG}}}
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Wieder im Abautale.

Kandau. In der Nähe von Amt-Kandau trennten wir uns, und ich stieg einen hohen grünen, an den Seiten steil abfallenden Berg hinan, dessen abgerundete dreieckige Form unschwer einen heidnischen „pilskalns“ [1] erkennen ließ. Auf [72] dem niedrigeren Teil der Bergkuppe wogte ein goldenes Ährenfeld, auf dem erhöhten Ende standen ein paar Bänke, die zum Sitzen und ruhigen Anschauen der Gegend einluden. Zwischen hohen Espen hindurch hatte man die Aussicht einerseits auf den hochgelegenen Teil von Kandau, dessen Kirchturm und rotgedachte weiße Häuser, auf hügelige Felder und die benachbarten Höhen, andererseits auf das schöne, hier ungefähr eine Werst breite, tiefe Abautal, das jenseits vom dunklen Fichtenwalde begrenzt wurde. Unten führte gleich einem weißen Bande die Landstraße vorüber, längs der sich bis zum parallel fließenden windungsreichen Flusse grüne Wiesen und reifende Kornfelder erstreckten, um drüben bis an den Wald auf den jenseitigen Höhen hinanzureichen. Diese ebenen Wiesen und goldenen Felder glichen schönen, harmonisch gewirkten Decken und Tep­pichen, welche die Natur ausgebreitet hatte. Am Flußufer, wo Schilf wuchs, weideten Pferde und Rinder, die sich wie Kinderspielzeug auf sammetnem Teppich ausnahmen. Weit reichte der Blick über das Tal hinweg. Dort lagen kleine, dunkle [73] Häuser, dort Gehöfte mit rotgedachten und weißgetünchten Gebäuden, während sich am Horizonte überall bewaldete Höhen hinzogen. Wie ein Silberband schlängelte sich die Abau, stellenweise romantische Uferpartien bildend, durch das Tal, um sich jenseit Kandau in nebelhafter Ferne zu verlieren. Drüben sah man die Ruine einer gewesenen, angeblich aus Herzog Jakobs[2] Zeiten stammenden Brennerei. Dort lag auch am Abauufer dem Städtchen gegenüber die Häusergruppe, welche Neu-Kandau genannt wird, von der über die mit vier stattlichen Bogen versehene Brücke der Weg in gerader Richtung nach Alt-Kandau herüberführte. — Die Espen rauschten im Winde, das Korn wogte hin und her, die Wolken wanderten am Himmel, die Schwalben flogen über dem Tale. Ruhe und Frieden lag über den lachenden, saatenreichen Fluren gebreitet. — Längs dem Rande eines kleinen, tiefen Seitentales ging es hinauf nach Amt-Kandau, von wo bald darauf zwei muntere Braune Herrn B., D. und mich zum zweiten Male den Weg nach Livenhof bei Zabeln führten. Hinter Kandau lag rechts am Wege ein riesiger Felsblock, der Königsstein, welcher der Sage nach vom Teufel hierhergetragen wurde.

Zabeln. Hinter dem Hohenbergschen Kruge näher­ten wir uns im Tale Zabeln, das, von den rot-goldenen Strahlen der untergehenden Sonne lieblich beschienen, am Fuße der Berge dalag. Rechts stand das stattliche Gemeindehaus am Wege. Dann ging es über gepflasterte, mit Juden angefüllte Straßen in das Städtchen hinein, dort nach rechts bergan und darauf nach Livenhof. — 18. Juli. Sonntag. Am Nachmittage zog ein Gewitter herauf. Dunkle, bläulich-graue Wolkenmassen näherten sich drohend unter Wetterleuchten, um bald die Anhöhe, [74] auf der Livenhof lag, von allen Seiten zu umgeben. Ein fürchterlicher Windstoß ging durch die Wälder und Gärten, so daß die Bäume sich bis zur Erde neigten, und ein wolkenbruchartiger Regen mit krachenden Blitzen bald nah, bald fern, folgte ihm. Es war ein grausiges, zugleich großartig-schönes Schauspiel. Der alte Pährkuon erinnerte seine abtrünnigen Kinder mit achtunggebietender Majestät, daß er noch hier zu Lande das Scepter führe. Nach dem Gewitter unternahm ich gegen Abend einen Spaziergang in den nahen, dufterfüllten Wald hinter morastigem Wiesenlande. Dort erhoben sich schlanke Tannen und säuselnde Birken, zu deren mittleren Höhe zahlreiche großblättrige Nußsträucher hinanreichten. Auch Wachholder wuchs in ihrem Schatten, während im Waldesgrase viele reife Erdbeeren zum Pflücken einluden. Von winzigen Birken hübsch umrahmt, ruhten dort im grünen Moose auch ein paar Felsblöcke. Am Himmel zogen graue Wölkchen hin. Nur leise rauschte das Laub in den Wipfeln der Bäume. Die Abendstille im Walde weckte sanfte, friedliche Gefühle in der Menschenbrust. — Am 19. Juli galt mein Besuch dem nahen Zabeln. Wie schon bemerkt, erhoben sich bei dem Städtchen zwei größere Berge, zwischen denen der Weg landeinwärts führte. Der Kirchhofsberg (Kapellenberg) war der niedrigere von ihnen. Dennoch lagen dort die Gräber im Schatten von Fichten und einigen Laubbäumen recht hoch. Oben zog sich um den Friedhof ein von kleinem Gesträuche eingefaßter Weg, zu dem ein anderer von unten hinaufführte. Vom noch höheren, benachbarten Schloßberge hatte man einen reizenden Anblick. Unten am Fuße der beiden Berge, an die sich rechts und links andere die hohe Talwand bildende schlossen, lag das kleine Städtchen mit seinen steinernen Häusern, deren braunrote Dächer recht verwittert aussahen und aus denen die Synagoge, vor allen die lutherische Kirche mit ihrem Turm hervorragten. Ringsum wurde es von grünen Wiesen und goldenem Korne [75] eingefaßt. In seiner nächsten Nähe floß die Abau vorüber, nach rechts an Breite zunehmend und sich in Krümmungen im dunklen Laube der Haine, die des Menschen Hand stehen gelassen, verlierend. Auch die Bergabhänge, die überall von Wiesen umfaßt und zerteilt wurden, waren dort rechts noch an manchen Stellen mit Laubwald bedeckt, was der Gegend ein romantisches Aussehen verlieh. Über den Fluß führte beim Städtchen eine hölzerne Brücke, wo der Weg nach Goldingen hinüberging, um jenseits in schräger Richtung den Abhang hinanzusteigen und oben hinter wogendem Korne zu verschwinden. Zu Seiten dieses Weges lagen auf den jenseitigen Höhen die Güter Brink- und Fircks-Pedwahlen mit einer Brauerei und einem großen Park, wohin die Zabelner Sonntags Ausflüge unternehmen sollen. Der Schloßberg hatte die Form der schon früher bei Talsen und Kandau gesehenen: stumpf-dreieckig mit einer Erhöhung au der einen Seite. Auf dem niedrigeren Teile wogte im Winde ein Haferfeld. Von diesem Berge erzählte die Sage folgendes: In alten Zeiten lebte im Schlosse hier oben ein wunderschönes Edelfräulein. Viele Freier hoch und edel kamen, um ihre Hand zu werben. Doch keinem gelang es, die Probe zu bestehen, die das Fräulein ihnen auferlegte: zu Pferde den steilen Berg von der Talseite hinaufzureiten; alle stürzten rücklings in den Burggraben hinab, wo sie ertranken. Da nahte einst ein kühner fremdländischer Fürst, der mit einem Satze seines mutigen Rosses oben war. Für den Schluß der Sage gibt es zwei Versionen: nach der einen soll der Fremde, oben angekommen, das Herz des harten Edelfräuleins verschmäht und diese sich aus Verzweiflung in den Burggraben hinabgestürzt haben; nach der andern aber, habe das Pferd des Fremden oben Feuer und Schwefel gespieen, worauf das Schloß mit Mann und Maus in die Erde versunken sei, wo es sich noch jetzt befinde. Als Beweis für die Richtigkeit der letzteren Version führte man an, daß einmal [76] von oben an einem Seile ein Knabe in eine Öffnung des Berges hinabgelassen worden, der tief-tief unten auf einen Balken gestoßen sei. Mag es nun damit seine Richtigkeit haben oder nicht: jedenfalls umkleidet die Sage den aussichtsreichen Punkt mit dem Dufte der Poesie. — Das Innere der Zabelnschen lutherischen Kirche machte einen vornehmen Ein­druck. Gleich beim Eintritt fiel mir das wundervolle Altarbild, 1860 von einem Baron Wolf gemalt, auf. Es stellte Christus am Kreuze mit der trauernden Maria zu seinen Füßen dar. So mild und überirdisch ruhig war der Gesichts­ausdruck des Heilandes, in tiefem Schmerze kniete die Gottesmutter am Kreuzesstamme: unwillkürlich wurde das Gemüt religiös ergriffen und eine weihevolle Stimmung durchzog die Seele. Beim Altare standen an den Wänden schöne polierte Chorstühle, das Geschenk einer reichen Gönnerin. Bemerkenswert war auch die neue, große, melodisch klingende Orgel. Eine Flöte soll allein gegen 300 Rubel gekostet haben. Von den Glocken trug die kleinere folgende Inschrift mit altmodischen Buchstaben: „Oriemini cum расе — anno Domini MCCCCI.[3] Von der andern Glocke wurde folgendes erzählt. Sie sei vor Jahren irgendwo ausgegraben worden. Als man ihren Ton versucht, habe sie „Ssabileh, Ssabileh“ geklungen, was auf deutsch „nach“ oder „in Zabeln“ bedeutet (es ist der Lokativ). Da habe man gewußt, daß sie aus Zabeln stamme und dort hingehöre. Unter dem Fußboden der Kirche lagen alte, vermauerte Särge. Vor Zeiten soll ein Gang unter der Erde von der Kirche zu einem nahen Kloster oder Schlosse, das jetzt schon lange nicht mehr vorhanden sei, geführt haben. — Bei der 4 Werst hinter Zabeln gelegenen, mit Gebüsch bewachsenen Zigeunerinsel befand sich in der Abau ein kleiner Wasserfall. Die Uferwände [77] waren dort aus Kalkstein. Auf ebenem, festem Kalkboden (Fliesen) kam das Wasser angezogen, verdoppelte allmählich seinen Lauf und schoß dann in Silberstrahlen den einen Fuß hohen Felsenabsatz hinab, um unten schäumend und wirbelnd weiterzueilen und sich nur langsam zu beruhigen. Der Blick vom unteren Ende der Insel, wo die Abau von hohen, mit Tannen bedeckten Ufern begrenzt wurde, war schön. An einer Stelle lag bei der Insel im Flusse ein großer Felsblock, der im Laufe der Zeit vom Wasser, wohl hauptsächlich während des Eisganges, oben kunstvoll ausgehöhlt worden war. — In der kleinen Vorstadt Neu-Zabeln sollen recht viele Rechtgläubige wohnen, die einmal monatlich ein Geistlicher besuche, der dann im stattlichen Gebäude des Friedensgerichts Gottesdienst halte. Dort lag auch eine größere, einem Juden gehörige Gerberei. Am Anfang des 19. Jahrhunderts soll es in Zabeln nur zwei Juden, einen Fleischer und einen Grabengräber, die Abraham und Moses hießen, gegeben haben. Jetzt war das jüdische Element im Städtchen vorherrschend. In Zabeln, wo bloß 4 Straßen zu finden waren, existierten gegen 28 Schenken! Vor der Tür eines größeren Geschäfts (Hosiassohn) stand als Wegepfosten eine alte Kanone. Originell war die Ausstattung einiger Ladenfenster. So hingen in einem Fenster nur ein Paar Tragbänder, was andeuten sollte, daß sich dort ein Modewarengeschäft befinde. — Am Abend gab es in Livenhof im nahen Bache eine Krebspartie. — Am 20. Juli führte mich mein Weg nach Rönnen weiter. Als wir auf der Höhe jenseit der Abau zwischen Brink-Pedwahlen und dem Pastorate hindurchfuhren, hatten wir einen überaus schönen Anblick von Zabeln. Am Fuße des grünen Schloß- und Friedhofsberges lag, lieblich angeschmiegt, drüben das Städtchen, aus dessen Häusergruppe sich stolz, vom Laube einiger Bäume umgeben, die Kirche hervorhob. Vorüber floß die Abau, die wir soeben passiert hatten, und diesseits zog sich [78] der Weg gleich einem weißen Bande schräg die grünen Abhänge herauf. Durch goldene Kornfelder fuhren wir zum Kronsgute Walgalen, wo wir beim Arrendator dieses Gutes und der Güter Krons-Rönnen und[WS 1] Neuhof einkehrten. Im Obstgarten standen hier große herrlich rauschende Espen. Auf einem früheren „Käsehäuschen“, jetzt Viehstalle, befand sich eine Wetterfahne, welche die Jahreszahl 1761 aufwies. Gegen Abend erreichten wir das 12 Werst weiter gelegene Gut Krons-Rönnen.

Rönnen. 21. Juli. Vor dem Herrenhause lagen auf einer Wiese Mauerreste. An dieser Stelle hatte sich früher die Gemeindeverwaltung befunden. Ein altes Männlein soll erzählt haben, daß hier 1818 die Freilassung der Bauern bekannt gemacht worden sei. Sogleich hätten an jenem Tage alle ihre Arbeit eingestellt und Freudentränen vergossen. Es muß ein erhebender Augenblick gewesen sein, gleich demjenigen, den[WS 2] die russischen Bauern im Februar 1861 erlebt haben. — Am Vormittage machten wir einen Spaziergang zum 1 1/2 Werst entfernten Gute Brink-Rönnen bei der Abau, wo sich auch diesseits das eigentliche Rönnen mit der Kirche und dem Pastorate befand. An der Landstraße standen kleine Pfosten, auf denen die Namen der Wirte verzeichnet waren, welche die einzelnen Strecken instand zu halten hatten. Mehrere wiesen einen mythisch klingenden Namen auf, wie z. B. Sperrwell („versetze dem Teufel eins mit dem Fuße“), Laima (die alte Glücksgöttin) und Pährkuons (der Donnergott). Bei Rönnen wird Gips gebrochen und gemahlen. Hier soll eine der älte­sten Papiermühlen Kurlands gestanden haben. Auf einem Hügel am Wege lag ein großer neuerbauter Krug. Wir setzten mit einer Fähre über den Fluß, um weiterhin beim Hotel „Halt an zum Abautale“ links zum Gute, das von einem großen Garten umgeben auf den Bergabhängen[4] lag, [79] abzubiegen. Eine Allee führte zum Parke. Das Herrenhaus mit dem altmodischen Äußern mochte noch aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammen. Von der Schloßterrasse hatte man eine weite Aussicht auf den Park und das schöne Abautal mit der Kirche und den Gebäuden drüben bis zum Walde hin, der das Tal begrenzte. Im Garten wurden auch Wein und Aprikosen gezogen. Im 17. Jahrhundert soll hier ein Jagdschloß Herzog Jakobs gestanden haben, aus welcher Zeit noch die Überreste der großen in Form eines Vierecks um das Schloß sich hinziehenden Mauer stammen mochten. Nachher soll der Herzog dieses Schloß gegen Usmaiten eingetauscht haben und seitdem Rönnen ein Privatgut sein. Bei einer Laube oder, besser gesagt, einem Schutzdache standen sehr alte Bäume. Eine Eiche war gewiß ihre fünfhundert Jahre alt. Der Park zog sich ins Tal hinab. Unten lag ein großer verwachsener Teich mit einer Insel. — Später zeigte mir der Küster das gefällige Innere der Kirche. Am Sonntage vorher hatte der Blitz den Kirchenturm stark beschädigt. Noch jetzt sah man die Spuren davon, denn an einer Stelle war oben unter dem Dache das Sparrenwerk ganz zersplissen und unten von der großen hölzernen Eingangstür ein Stück herausgerissen worden. Die Kirche ist auf des letzten kurländischen Herzogs Peter Biron Initiative an dieser Stelle 1785 errichtet worden und hat 1880 ihren schönen Turm erhalten. Dort hing oben eine Glocke, die wohl noch in der älteren Kirche gehangen haben wird, da ihre Inschrift besagte, daß „Catharina Becker, Wittibte Frau Pastor“ sie „anno 1725“ gestiftet habe. — Von der Kirche führte mich der Küster zur größten Sehenswürdigkeit Rönnens, dem Waldate Wasserfall beim Pastorate. Wir gingen längs einem Kornfelde, und nichts ließ mich die Nähe des Falles ahnen, bis ich plötzlich am Rande einer Felsenwand, wo tief unten in einer Schlucht der Wasserfall tosend rauschte, über­rascht [80] stehen blieb. Der Waldatebach stürzte dort, sich in zwei Arme teilend, gleichzeitig an zwei Stellen ungefähr 4 Fuß hinab. Überall war das Ufer mit dichtem Gebüsch bedeckt. Auf dem Grunde des untiefen Baches sah man reines Steingeröll, das von dem schnell dahineilenden, in der Tageshelle flimmernden Wasser beständig gewaschen wurde. Längs der kleinen Insel, die zu beiden Seiten vom Wasser umrauscht wurde, ging ich von unten nahe an den Fall heran. Dort machte er einen geradezu großartigen Eindruck. Unter betäubendem Rauschen stürzten die Wassermassen, zum Teil in feinen Staub zersprühend, den Felsenabsatz hinab, um beim Fallen auf vorragende Steine stoßend, in kristallene Strahlen zu zerspritzen und sich darauf unten schäumend von neuem in fließendes Wasser zu verwandeln. Oberhalb des Falles lagen im Bache zwei riesige Felsblöcke. Ringsum erblickte man eine reiche Pflanzenwelt: Vergißmeinnicht, rote Blumen, großblättrige Gewächse fielen uns in die Augen, und überall, in einer jeden Felsenritze, wo nur ein wenig Erdreich vorhanden war, hatten sich kleine Kolonien von üppig wuchernden Pflanzen eingenistet. Bei dem tosenden Falle waren im schattigen Gebüsche mit Bänken versehene Gänge angelegt worden. Von oben leuchtete das blaue, sich in der beweglichen, von Stein zu[WS 3] Stein springenden Flut spiegelnde Himmelslicht in die Schlucht herein. An die hohen, unten aus Sandstein, oben aus Kalkstein und Lehm bestehenden Felsenwände lehnten sich mächtige, die Flut überschattende Laubbäume. Eine alte, gleich den anderen Bäumen moosbedeckte Buche wurzelte in der Felsenwand und bog sich schräg über den Fall. In ihrer Krone war ein Balkon errichtet, den wir bestiegen. Durch das Laub hindurch sah man, wie die wirbelnde Flut sich überstürzend dahineilte und mehr nach vorne zu unter dem Blätter­dache der sich im Winde rauschend gegeneinanderneigenden Ufersträucher und Bäume verlor. Links erhob sich die hohe, steile [81] Felsenwand, rechts die gebüschreiche Insel. Im Frühlinge beim Mondenscheine, wenn die Nachtigallen schlagen, muß es wohl hier in der Schlucht beim Falle herrlich sein! Gegen 30 Fuß fällt der Bach allmählich ab, bis er die Abau im Talgrunde erreicht hat. — Mit Honig und Wein nahm der Küster den Gast bei sich auf. Seine Frau war schon lange tot, aber aus Treue und Liebe zu ihr pflegte er noch ihre Blumen, die Fensterbrett und Veranda schmückten. Unter ande­rem zeigte er mir einen schönen Oleander und eine Asklepie, deren Blütenbüschel wie reines Zuckerkonfekt aussahen. Er besaß 8 Bienenstöcke. Die Bienenzucht soll, wie er erzählte, in Kurland sehr verbreitet sein; so z. B. besitze ein Lehrer in Katzdangen mehrere hundert Stöcke. — Hinter einem Gehöfte und dem Waldatebach lag im Gebüsch, von einem Graben umzogen, am Ufer der Abau der Rönnensche Pilskalns. Er hatte die Form der schon von mir erwähnten Schloßberge, nur war er bedeutend niedriger. Hier finden, wie der Küster sagte, zuweilen Grünfeste statt. Früher dagegen seien hier die Missionsfeste gefeiert worden, die sehr besucht gewesen und bei denen viele Reden gehalten worden seien. Dabei habe es nicht an Hinweisen daraus gefehlt, daß auch hier vorzeiten die jetzt in anderen fernen Ländern ihr christliches Werk treibende Mission gewirkt habe, daß gerade hier auf diesem Berge heidnische Fürsten gelebt hätten und die alten Götter angebetet worden seien. Hoch waren beim Pilskalns die Abauufer. Oft möge früher bei den wilden Kämpfen zwischen Kuren und deutschen Rittern die Flut von Blut gerötet gewesen sein, wovon sich noch ein Nachklang in alten Volkssagen erhalten hat. Gerade hier in der Nähe bei Weggen, in der Mitte zwischen Rönnen und Zabeln, sollen die Eingeborenen einmal die Deutschen besiegt und 700 von ihnen getötet haben. Jetzt waren die Zeiten friedlicher geworden, und Ruhe herrschte im Abautale.

Zur Marienhöhle. Am Abend fuhren wir zu [82] Boot flußaufwärts. Die Abau war auch hier noch ein schö­ner windungsreicher Fluß. Überall wurde das hohe Ufer von Gebüsch bedeckt, das bis zur Flut herabreichte. Wir waren ein gutes Stück hinaufgefahren, da meinte der Bootsmann, daß es bis zur bekannten Marienhöhle nur noch 3 Werst seien. Kurz entschlossen bat ich, mich aussteigen zu lassen, da ich durchaus diesen merkwürdigen Ort aufsuchen wollte. Während die anderen mit dem Boote zurückfuhren, begab ich mich längs dem rechten Ufer der Abau zu den „Mahrjas Kambari“ (Marien Kammern). Lange hatte ich zu gehen, denn aus den 3 Werst wurden, wie es schien, doppelt so viel. Es hatte tagüber oft geregnet, jetzt brach die Sonne durch und beschien das liebliche Tal, über ihm einen doppelten Regenbogen bildend. Ein romantischer Reiz schien auf der Gegend zu liegen, wozu die Volkssage nicht wenig beitragen mochte. Hier sollte es gewesen sein, wo einst auf einem großen Fichtenbaume am hohen Ufer ein Drache gewohnt und Feuer in die Umge­gend gespieen habe, wodurch das fruchtbare Wiesenland in­mitten der Wälder, die früher das Tal bedeckt hätten, ent­standen sei. An einer Stelle auf dem Grunde des Flusses sei ein feuriges Rad zu sehen. Als nämlich (1727) Prinz Moritz von Sachsen über die Abau nach Usmaiten geflohen, sei seiner von sechs Pferden gezogenen Kutsche beim Passieren des Flusses ein Rad entfallen, das noch jetzt dort unten feurig leuchte. Längs Feldern und dem nassen Gebüsch, welches das Ufer säumte, ging ich rasch dahin. Bald erkundigte ich mich bei kornmähenden Landleuten, bald in einem Gesinde, wo mir ein lieblicher flachshaariger Knabe entgegenkam, nach dem weiteren Wege. Einmal lief ein Hase über den Pfad. Zuletzt erfuhr ich im Gesinde Strehlen, daß die folgende zum Flusse hinabreichende Waldspitze in nächster Nähe der Marien­höhle liege. Über nasse Wiesen und durch düsteres Gesträuch gelangte ich dorthin, suchte lange im Ufergebüsch, fand aber [83] kein Anzeichen von einer Felsenwand oder einer Höhle. Schon dunkelte es. Da begab ich mich zum nahen Staps-Gesinde, wo die Leute gerade zu Abend aßen. Der Wirt gab mir einen Hüterjungen mit. Schnell ging der barfüßige Knabe durch dick und dünn, bald über eine Wiese, bald durch Gestrüpp und düstern Wald. Er hieß Jahniht (Hänschen) und war zur Zeit „Schafhirtchen“. Oft werde, so sagte er, die Marienhöhle besucht; noch heute sei der Rönnensche Förster Baron Behr dagewesen. Die meisten Besucher kämen über Kalitzen. Am Rande des düstern Waldes schaute ich plötzlich hinunter in eine dunkle Schlucht, wo sich helle Felsenwände unterscheiden ließen. Ein kleiner mit Stufen versehener Pfad führte uns hinab. Unten standen sich zu seiten eines vertrockneten Bächleins, das hier früher einen 7 Fuß hohen Fall gebildet haben soll, zwei weiße Sandsteinfelsen gegenüber, in denen größere dunkle Öffnungen zu sehen waren. Hier nun soll vor Zeiten die heilige Mahrja (Marie) mit ihrer Nixenschar gelebt haben. Folgende Sagen geben uns davon Kunde: „Man erzählt, daß in alter Zeit an den Abenden auf Freitag aus den Marienhöhlen starker Rauch aufgestiegen sei und oftmals die Leute vom Tahleji-Gesinde (zum Pastorat Rönnen gehörig) gehört hätten, wie die „heiligen Jungfrauen“ in den Höhlen Wäsche geklopft.“ (Treuland.)[5] „In der Marienhöhle wohnt eine Jungfrau mit ihren Mägden; deutlich hört man sie in stillen Nächten spinnen. Naht sich aber der Höhle ein Sterblicher, so verschwinden die geheimnisvollen Frauen. Wer in der Höhle gräbt und mit der Schaufel auf einen harten Gegenstand trifft, muß stark zustoßen, dann hat er eine der [84] Nixen auf den Kopf getroffen und dadurch getötet.“ (Biene­mann.) Dichtes Laub umgab und bedeckte überall die Schlucht, die zu dieser Stunde in geheimnisvolle Dämmerung gehüllt war. Eine Unmenge von Inschriften waren in die Sandwände eingekratzt. Nach meines kleinen Führers Worten hatte der Wirtssohn Schanno sogar die Jahreszahl 1410 unter dem Moose gefunden. Als ich in eine der Höhlen hineintrat, flog eine Schar Fledermäuse heraus. Es wurde einem recht unheimlich zumute, und die Sagen der Vorzeit schienen aus den Höhlen und dem düstern Laubgrunde hervorzulauschen. Die Tiefe der Schlucht schätzte ich auf ungefähr 20 Fuß.

Nun schied ich vom kleinen Jahniht und ging in den Wald hinein, wo mir Wacholder und anderes Dickicht gespensterhaft entgegenragte, das ich durchwandern mußte, um einen kleinen Fahrweg zu erreichen. Lange ging ich diesen entlang. Ringsum Wald, nichts als Wald. Kein Laut, kein Anzeichen von Menschennähe. Der Weg führte an einer morastigen Lichtung vorüber, wo über den jenseitigen Baumkronen noch der letzte Tagesschimmer leuchtete. Dort fing es schon an sich geheimnisvoll zu regen und zu bewegen; der Nebel stieg, verschiedene märchenhafte Formen annehmend, in die Höhe. Mir war es, als ob jetzt dort die Waldesmutter umherwandele und mir winke. Darum beschleunigte ich meine Schritte. Endlich kam ich bei einem Gesinde heraus. Hier wäre ich auf einem schlüpfrigen über einen Bach führenden Stege beinahe ausgeglitten. Wieder ging es durch Wald und wieder Wald. Als ich auf eine Lichtung hinauskam, funkelten mir die Sterne verschwommen entgegen, während sich rechts die unsicheren Umrisse von Gebäuden zeigten. Hier wehte ein frischer Wind, und nach der dumpfen Luft im Walde konnte man freier aufatmen. Nochmals führte der Weg in Wald hinein. Überaus unangenehm war es, so ganz allein im Finstern, wo man kaum den Weg unterscheiden konnte, zu [85] wandern. Da plötzlich — ein Schauer überläuft dich — sieh, dort flimmert und leuchtet es im dunklen Gestrüpp auf und dort wieder! Es waren Johanniswürmchen. Vor Mitternacht kam ich bei Brink-Rönnen heraus, setzte über die Abau und gelangte bei Mondschein nach Krons-Rönnen, wo bereits alles zur Ruhe gegangen war. Zum Glück fand ich eine Heubodentür offen, verkroch mich dort oben in das Heu und schlief nach dem aufregenden und ermüdenden Gange bald fest ein.

  1. Über diese in baltischen Landen zahlreichen Schloßberge („pilskalni“) sagt der dim. Volksschulinspektor Treuland (Brihwsemnieks) in seinen 1887 in russischer Sprache herausgegebenen „Lettischen Ortssagen“ an einer Stelle folgendes, das von allgemeinerem Interesse ist: Die Schloßberge waren zur heidnischen Zeit mit Befestigungen versehen und haben den Bewohnern der Umgegend als Zufluchtsort bei feindlichen Überfällen gedient. Man nimmt an, daß sie zum Teil damals auch Opferstätten gewesen seien und daß auf ihnen oder in ihrer Nähe die Priester des Pährkuon (des alten lettisch-litauischen Donnergottes) ihren Wohnsitz gehabt haben. Gegenüber diesen „Schloßbergen“ der baltischen Eingeborenen erbauten gewöhnlich die deutschen Eroberer ihre Ritterburgen, deren Ruinen gleichfalls noch an so vielen Stellen in den baltischen Provinzen zu sehen sind. Mit diesen Schloßbergen ist fast überall in Lettland die Sage verknüpft, daß auf ihnen entweder ein Schloß der Eingeborenen oder ein Heiligtum gestanden habe. Infolge eines Zaubers sei das Schloß oder das Heiligtum in die Erde versunken. Noch vor einigen Jahren, sagt man, sei der „Rauchfang“ des Schlosses zu sehen gewesen. Knaben hätten zuweilen in diese Öff­nung Steinchen geworfen, die hinabfallend einen dumpfen Widerhall erzeugt hätten. Einmal habe man auch in das unterirdische Schloß einen Menschen hinuntergelassen, aber bis man ihn wieder herausgezogen, hätte er die Sprache verloren. Aus dieser Öffnung des versunkenen Schlosses seien auch um die Mittagszeit, am Abend und um Mitternacht kleine, hübsche Jungfrauen hervorgekommen, die vom Volke „heilige Jungfrauen“ genannt werden. Die alten Schlösser der Eingeborenen sollen sich wieder einst aus der Erde erheben. Das werde dann geschehen, wenn der rechte Mann das rechte Wort spreche, wodurch der Zauber gelöst würde.
  2. Wenn man in Kurland reist, sieht man so recht, welch ein tätiger, unternehmender Geist dieser Herzog gewesen ist: obgleich schon über zweihundert Jahre seit seinem Tode verflossen sind, ruft uns doch noch so vieles seine Regierungszeit ins Gedächtnis.
  3. „Laßt uns mit Frieden beten — im Jahre des Herrn 1401.“
  4. Die Bodenerhebungen in dieser Gegend sind Teile des niedrigen Erdrückens, der sich von Sessilen (bei Frauenburg) über Rönnen nach Popen hinzieht.
  5. Da nach einer andern Sage im großen Walde zwischen Zabeln, Rönnen und Usmaiten in alten Zeiten Räuber gehaust haben, so wäre es möglich, daß hier in dieser Schlucht einer von ihren Schlupfwinkeln gewesen ist, welcher Umstand den Anlaß zu der poetischen Sage gegeben haben könnte. Edg. B.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: uud
  2. Vorlage: deu
  3. Vorlage: zn