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von oben an einem Seile ein Knabe in eine Öffnung des Berges hinabgelassen worden, der tief-tief unten auf einen Balken gestoßen sei. Mag es nun damit seine Richtigkeit haben oder nicht: jedenfalls umkleidet die Sage den aussichtsreichen Punkt mit dem Dufte der Poesie. — Das Innere der Zabelnschen lutherischen Kirche machte einen vornehmen Ein­druck. Gleich beim Eintritt fiel mir das wundervolle Altarbild, 1860 von einem Baron Wolf gemalt, auf. Es stellte Christus am Kreuze mit der trauernden Maria zu seinen Füßen dar. So mild und überirdisch ruhig war der Gesichts­ausdruck des Heilandes, in tiefem Schmerze kniete die Gottesmutter am Kreuzesstamme: unwillkürlich wurde das Gemüt religiös ergriffen und eine weihevolle Stimmung durchzog die Seele. Beim Altare standen an den Wänden schöne polierte Chorstühle, das Geschenk einer reichen Gönnerin. Bemerkenswert war auch die neue, große, melodisch klingende Orgel. Eine Flöte soll allein gegen 300 Rubel gekostet haben. Von den Glocken trug die kleinere folgende Inschrift mit altmodischen Buchstaben: „Oriemini cum расе — anno Domini MCCCCI.[1] Von der andern Glocke wurde folgendes erzählt. Sie sei vor Jahren irgendwo ausgegraben worden. Als man ihren Ton versucht, habe sie „Ssabileh, Ssabileh“ geklungen, was auf deutsch „nach“ oder „in Zabeln“ bedeutet (es ist der Lokativ). Da habe man gewußt, daß sie aus Zabeln stamme und dort hingehöre. Unter dem Fußboden der Kirche lagen alte, vermauerte Särge. Vor Zeiten soll ein Gang unter der Erde von der Kirche zu einem nahen Kloster oder Schlosse, das jetzt schon lange nicht mehr vorhanden sei, geführt haben. — Bei der 4 Werst hinter Zabeln gelegenen, mit Gebüsch bewachsenen Zigeunerinsel befand sich in der Abau ein kleiner Wasserfall. Die Uferwände

  1. „Laßt uns mit Frieden beten — im Jahre des Herrn 1401.“
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Edgar Baumann: Im Gottesländchen. In Kommission bei Kluge und Ströhm [et al.], Reval [et al.] 1904, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:BaumannImGottesl%C3%A4ndchen.pdf/84&oldid=- (Version vom 12.12.2020)