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kein Anzeichen von einer Felsenwand oder einer Höhle. Schon dunkelte es. Da begab ich mich zum nahen Staps-Gesinde, wo die Leute gerade zu Abend aßen. Der Wirt gab mir einen Hüterjungen mit. Schnell ging der barfüßige Knabe durch dick und dünn, bald über eine Wiese, bald durch Gestrüpp und düstern Wald. Er hieß Jahniht (Hänschen) und war zur Zeit „Schafhirtchen“. Oft werde, so sagte er, die Marienhöhle besucht; noch heute sei der Rönnensche Förster Baron Behr dagewesen. Die meisten Besucher kämen über Kalitzen. Am Rande des düstern Waldes schaute ich plötzlich hinunter in eine dunkle Schlucht, wo sich helle Felsenwände unterscheiden ließen. Ein kleiner mit Stufen versehener Pfad führte uns hinab. Unten standen sich zu seiten eines vertrockneten Bächleins, das hier früher einen 7 Fuß hohen Fall gebildet haben soll, zwei weiße Sandsteinfelsen gegenüber, in denen größere dunkle Öffnungen zu sehen waren. Hier nun soll vor Zeiten die heilige Mahrja (Marie) mit ihrer Nixenschar gelebt haben. Folgende Sagen geben uns davon Kunde: „Man erzählt, daß in alter Zeit an den Abenden auf Freitag aus den Marienhöhlen starker Rauch aufgestiegen sei und oftmals die Leute vom Tahleji-Gesinde (zum Pastorat Rönnen gehörig) gehört hätten, wie die „heiligen Jungfrauen“ in den Höhlen Wäsche geklopft.“ (Treuland.)[1] „In der Marienhöhle wohnt eine Jungfrau mit ihren Mägden; deutlich hört man sie in stillen Nächten spinnen. Naht sich aber der Höhle ein Sterblicher, so verschwinden die geheimnisvollen Frauen. Wer in der Höhle gräbt und mit der Schaufel auf einen harten Gegenstand trifft, muß stark zustoßen, dann hat er eine der

  1. Da nach einer andern Sage im großen Walde zwischen Zabeln, Rönnen und Usmaiten in alten Zeiten Räuber gehaust haben, so wäre es möglich, daß hier in dieser Schlucht einer von ihren Schlupfwinkeln gewesen ist, welcher Umstand den Anlaß zu der poetischen Sage gegeben haben könnte. Edg. B.
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Edgar Baumann: Im Gottesländchen. In Kommission bei Kluge und Ströhm [et al.], Reval [et al.] 1904, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:BaumannImGottesl%C3%A4ndchen.pdf/91&oldid=- (Version vom 14.2.2021)