Im Gottesländchen/Usmaiten
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22. Juli. Am Nachmittage unternahm ich eine Wanderung zum 12 Werst entfernten Usmaitenschen See, der jenseit der Abau im Gebiete der großen Wälder liegt, die sich von der Windau nach Dondangen hinziehen. Bei Brink-Rönnen stieg ich vom Tale aufwärts und erreichte hinter einer freien Fläche einen großen Fichtenwald. Nun blieb das liebliche Abautal, das von weitem wie mit einem lichten Nebel überflort erschien, hinter mir. Als der Weg sich teilte, schlug ich den mehr befahrenen ein. Im Fichtenwalde kreuzte bei einer Lichtung ein stiller einem Moore zufließender Bach den Weg. Dann kam ein Tannenwald, wo wiederum ein Bächlein dahineilte. Der Boden war hier sandig und torfreich. An einigen Stellen ruhten im Waldesdunkel kleine Seen. Weiterhin zog sich wieder ein Fichtenwald hin, der sehr an den Dünenwald am Strande erinnerte, denn im kargen Sandboden wuchsen Strandnelken, rote Dünenblümlein und recht viel Wacholder. (An diesem Gesträuch waren die Wälder hier sehr reich, und mit Wehmut gedachte ich eines lieben Heimgegangenen, der gerne in Walde umhergestreift war, sich Wacholderstämmcheu zu Spazierstöcken aussuchend und mit einem Handbeilchen zurichtend. Hier hätte er eine reiche Ausbeute finden können.) Wieder blinkte links ein lieblicher kleiner Waldsee, worauf der Weg bald in einen [86] schönen düstern Tannenwald hineinführte. Eichkätzchen liefen hurtig über den Weg. Von einem Manne aus Moordangen, der große Ballen führte, brachte ich in Erfahrung, daß dies der Weg zur Rönnenschen Forstei und nicht der nach Usmaiten sei. Bald gelangte ich auf eine große Lichtung, wo, von grünem Laube umgeben, an einem länglichen Waldsee die Forstei lag. Bei einem Bauernhause fiel mir hier das bemalte geschnitzte Bild eines wütenden Männerhauptes auf. Feurig leuchteten die Augen unter den buschigen Brauen hervor, und das reiche schwarze Kopfhaar, das mit einem großen zerzausten Barte das Gesicht umrahmte, war oben zusammengeflochten. Ein alter Mann sagte mir, es sei hier in der Nähe ausgegraben worden. Ich konnte mir seinen Zweck nicht erklären. Sollte es vielleicht ein Götzenbild, das Antlitz des alten Höllengottes Pickuolis sein? Aber dann hätten sich die Farben nicht so frisch erhalten. Schöner hoher Hopfen wurde bei diesem Hause gezogen. Gegenüber dem stattlichen braunen Herrenhause schaukelte sich bei einer Badehütte im Uferschilfe ein Boot. In stillen Abendstunden muß es sich auf diesem Waldsee gut träumen lassen! Im Walde hinter der Forstei, wo ich nach links abbog, gab es viele saftige Schwarzbeeren. Ein Platzregen überraschte hier den Wanderer. Stark duftete nach dem Regen der Porst im Walde. Über eine öde Fläche und durch jungen Nadelwald gelangte ich nach Moordangen, einer Glashütte und einer Anstellung inmitten einer sandreichen Gegend. Die Werkführer und auch viele Arbeiter waren hier Preußen. Sie bildeten eine deutsche Kolonie im Lande. In der Glashütte standen bei den feurigen Öfen weiße Männer in Holzpantoffeln und gaben der glühenden flüssigen Masse die nötige Form, meist die von Bier- und andern Flaschen. Ringsumher lagen ganze Berge von schon fertigen Glasgefäßen aufgestapelt. Nun ging es weiter nach Usmaiten. Lange hatte ich noch durch schönen, von der Abendsonne traulich beschienenen [87] Wald zu wandern, wo an einigen Stellen Vieh weidete, bis mich schließlich ein grüner, von Wacholder und Fichten begrenzter Waldespfad zum Dörfchen Usmaiten am Usmaitenschen See hinausführte.
Ich suchte den Sänger der hölzernen, auf einer kleinen Anhöhe mit Seeufer gelegenen Kirche auf und ließ mir deren Inneres zeigen. Sie stammte aus dem Jahre 1703 und war sehr baufällig, ihre Einrichtung altertümlich. An der Decke und den Wänden sah man Spuren von Ölgemälden. Lustig in Blau gekleidete, schwebende Engel bliesen Posaunen und trugen in der Hand breite Bänder mit der Aufschrift: „Heilig, heilig ist der Herr!“ in altmodischer gotischer Schrift. Das Altarbild mit der Unterschrift: „Amor meus crucifixus“[1] war primitivster Art. Der Altar und die Kanzel waren reich mit altem Holzwerk verziert. Die Kanzel schmückten die Gestalten der zwölf Apostel; Moses, die Gesetzestafeln in der Hand, trug sie mit seinem Kopfe. Unten im Gewölbe vor dem Altare wurden mir die halbvermoderten Leichname zweier unbekannter Personen, vielleicht ehemaliger Besitzer oder „Disponenten“ von Usmaiten, gezeigt. An der Seite eines riesigen Mannes ruhte eine kleine weibliche Gestatt, an der sich noch Spuren von Kleidung (Spitzen, Seidengaze) unterscheiden ließen. Der Sänger leuchtete mir in der dunklen Kammer mit einem Lichte. Angesichts der Leichen wurde es mir so trübe, so unangenehm zumute. Der Anblick dieser verwesten unförmlichen Körper erinnerte daran, daß alles, auch die Herrlichkeit dieser Erden, vergänglich ist und zu Moder und Staub werden muß. Mit diesem niederdrückenden Gedanken verließ ich das Grabgewölbe und die dem Einsturze nahe hölzerne Kirche. Jeden 3. Sonntag soll der Pastor aus Rönnen herüberkommen, um die Predigt zu halten. Bei der [88] Kirche befand sich der Kirchhof. Auf einer alten Fichte sollen sich hier einst Störche ein Nest gebaut haben; als gerade die Jungen dringewesen, sei ein Sturm gekommen und habe die Baumkrone mit dem Neste abgebrochen. — Von der Kirche ging ich zum Schloßberge, einem mit kleinen Fichten und Wacholder bewachsenen Berge an einer Ausbuchtung des Sees. An der Uferseite war er ungefähr 40—50 Fuß hoch und recht steil. Dort oben konnte man auf den herrlichen See mit seinen dunklen bewaldeten Inseln und Ufern hinausschauen. Zwischen die Inseln fiel der Blick auf die schon im Abendnebel verschwimmenden weiten jenseitigen Ufer. Die Sonne, dem Untergange nahe, war als eine große Feuerkugel hinter einer Wolke sichtbar, verbreitete von dort aus ringsum einen blaß-rosa Schimmer und färbte die Wolkenränder am Himmel rosig-golden. Es war ein schöner Sonnenuntergang. Im Abendscheine, vom Winde, der kleine Wellen an das Ufer sandte, frisch bewegt, lag weit-weit vor mir der silberne See. Anheimelnd rauschte der Wind in den kleinen Bäumen auf dem Berge, der steil vor mir abfiel und unten nur durch einen Streifen Landes von der Flut getrennt wurde. Über dem See am lichten Abendhimmel schwirrten auch hier wieder in weiten Kreisen Schwalben. Der heidnische Fürst, der einst hier sein Heim gehabt, muß sich wahrlich als Herrscher der ganzen Umgegend vorgekommen sein. Wie eine Sage berichtet, ist das Schloß, das hier gestanden, eines Tages in die Erde versunken. Der Usmaitensche See gehört zu den „von Gott herabgelassenen“. Über seine Entstehung erzählt die Sage folgendes: „Einmal vor alten Zeiten gerade um die Mittagsstunde kamen mit dumpfem Getöse schwarze Gewitterwolken heraufgezogen, und es erhob sich ein furchtbarer Sturm. Die Leute dachten, es nahe sich jetzt in der Luft ein ganzes Meer. Sie fragten einander: „Was sollen wir tun?“ Da ging ein kleiner siebenjähriger Knabe auf den Hof hinaus und [89] sagte: „Usma kommt!" [2]. Er hatte den richtigen Namen des Sees genannt: sofort ließ sich dieser auf die Erde herab und nahm die Stelle ein, wo er sich jetzt befindet." (Treuland.) — Im Ssalmgrieschgesinde unweit der Kirche fand ich ein Obdach beim Sänger. Für die Nacht bat er, mit einer Schlafstätte auf dem Heuboden, wo sich auch seine Leute still und sittsam zur Ruhe begaben, vorlieb nehmen zu wollen.
23. Juli. Um die 4. Morgenstunde standen die Leute auf, um an die eilende Feldarbeit zu gehen, da gerade Korn gemäht wurde. Beim Morgensonnenscheine fuhr ich mit dem Sänger in einem Fischerboote über den See zum Moritzholme, der ungefähr 6 Werst von der Kirche entfernt lag. Der See hatte meist flache, bewaldete Ufer. Er ist bis 12 Werst lang, bis 6 Werst breit und erreicht stellenweise eine Tiefe von 12 Faden; sein Grund ist sandig. Oft fallen die Ufer im Wasser steil ab, und sehr ungleich sind die Untiefen, wo Schilf und Rohr wächst, verteilt. Der See, einer der größten Kurlands, hat einen Umkreis von 35 Werst. Sein einziger Abfluß ist die Anger. In ihm liegen 4 Inseln: der große Fischholm, überall mit Fichtenwald bedeckt, die große und kleine Ellerninsel (lett. Alksnike), die mit Ellern bewachsen sind, und der Moritzholm. Außer dem Schloßberge am unteren Ende des Sees liegt noch rechts am anderen Ende im Uferwalde der Kikieserkalns („Guckberg“), von wo aus vor ein paar Jahren die Gegend gemessen worden ist. Während wir über den See fuhren, war er nur wenig bewegt. Im Herbste sollen hier auch große Stürme vorkommen. Aufgewühlt seien dann seine Fluten, weißer Schaum bedecke die Oberfläche und haushoch wogten die Wellen hin und her, so daß niemand hinauszufahren wage. Dann höre man am Morgen meilenweit im Umkreise das in den Uferwäldern mächtig widerhallende Getöse. [90] Noch hatte die Morgensonne den Nebel nicht verscheucht, der Ufer und Wald umfing; daher erschien noch alles in der Ferne weiß und verschwommen. Auf der Flut zeigte sich kein Leben. Freie Jagd und Fischerei sollen die Zahl der Wildenten und Fische sehr verringert haben. Die Ufer und Inseln strecken mehrere Ausläufer (der Lette sagt „Hörner", raggi) in den See hinaus. So passierten wir, über die große freie Mitte (lett. liela ährta) fahrend, das Schilfhorn, einen Ausläufer des Fichtenhornes auf dem Fischholme. Diese Insel lag uns zur Linken. Dort sah man auf der Wenterdanga (Netzwiese) am Ufer eine Vorrichtung zur Gewinnung von reinem Sande für die Glashütte in Osoln. Zwischen dieser und der kleinen Ellerninsel hindurchfahrend, näherten wir uns jenseit derselben dem sich poetisch aus der Flut erhebenden, von Laubbäumen beschatteten Moritzholme, lett. Moritzkalwa genannt. (Sonst heißt Insel im Lettischen „Ssalla“, nicht „Kalwa“.) — Diese Insel hat vor Jahren in der Geschichte Kurlands eine gewisse Rolle gespielt. Daher sei es uns erlaubt, die betreffende Stelle aus Cruses Geschichte Kurlands anzuführen. Nach dem Tode des Herzogs Friedrich Wilhelm, der eine russische Großfürstin zur Gemahlin hatte und mit dem der Mannesstamm des Kettlerschen Hauses erlosch, wurde Prinz Moritz von Sachsen zum Herzoge von Kurland erwählt. Die russische Regierung erkannte jedoch die Wahl nicht an und entsandte zur Entscheidung der kurländischen Frage eine Kommission nach Mitau. „Der Graf Moritz hatte bei Ankunft der Kommission Mitau (September 1727) verlassen, war aber noch in Kurland geblieben, bis er, die Unwirksamkeit des Widerstandes erkennend, der Übermacht wich, ohne seine Rechte aufzugeben. Es waren die russischen Truppen unter Bibikow und Lasy, die ihn verfolgten. Da ihn niemand mehr aufzunehmen wagte, zog er sich mit einem kleinen Gefolge auf eine Insel des Usmaitenschen Sees zurück, die seitdem den Namen Moritzholm führt. [91] Hier wurde er von den russischen Truppen umsetzt. Allgemein glaubte man, er werde der Gefangenschaft nicht entgehen, als man erfuhr, er habe sich in Windau eingeschifft. Ob er wirklich die Aufmerksamkeit seiner Verfolger getäuscht oder diese geheime Anweisung gehabt haben, ihn entkommen zu lassen, oder ob sie selbst ihn lieber entkommen lassen als gefangen nehmen wollten, mag unentschieden bleiben. Wer die Lage der Insel kennt, möchte geneigt sein, sich für das Letztere zu erklären.“ Schräg gegenüber auf dem Festlande lag das Kanonenhorn (lettisch Dischgabbalrags), wo unten im See eine Kanone liegen soll. Einigemal hätten sich dort die Netze der Fischer verwickelt. (Auch von vergrabenen Schätzen spricht man hier: einer liege auf dem Moritzholme, ein anderer im Walde zwischen Usmaiten und Rönnen vergraben.) Sehr gut machte sich von der Insel aus der Blick auf das Kanonenhorn und die jenseit desselben in einer Bucht hintereinanderliegenden Guodel- und Ssaminjhörner. Der aus zwei größeren zusammenhängenden Hälften bestehende Moritzholm war mit schönem, dichtem Laubgehölz bewachsen. Alle Baumarten Kurlands sollen hier vorkommen. Tatsächlich fanden wir dort eine Menge der verschiedenartigsten Bäume. Auch mächtige alte Eichen gab es da, die nicht nur den Grafen Moritz, sondern noch ältere Generationen gesehen haben mußten. Die Insel war unbewohnt. Nur an Festtagen finden dort Grünfeste statt. Jenseit der Insel lag drüben das Gut Krons-Usmaiten. Hier war es am leichtesten, von einem Ausläufer des Holmes auf das Ufer des Festlandes zu erreichen, denn Pferde können an dieser Stelle leicht durchgeschwemmt werden. Der Sänger meinte: „Von diesem Horne ist der Moritz-Prinz zum Gute Usmaiten hinübergeflohen" (lettisch: pahrspehris pahr). Einsam stand an dieser Spitze der Insel eine Eiche, als ob sie ein Zeichen dafür wäre. Drei Viertelstunden hatte die Fahrt bis zur Insel gedauert, ebenso lange sahen wir uns diese an; nun [92] ging es wieder zurück. — Es war eine schöne Fahrt. Die Wellen glitzerten so frisch im Sonnenscheine. Ein angenehmer Wind kam von Osten. Die Uferwälder standen schweigend da. Wo die Bäume ein wenig zurücktraten, lagerte noch im Waldesschatten der Morgennebel. Aber schon wurde mit dem Höhersteigen der Sonne die Luft klarer, und alles trat reiner und schöner hervor. Die großen schweren Wolken vom Tage vorher waren jetzt in eine Menge kleiner lichter Wolkenballen aufgelöst, die wie riesige Schneeflocken am hellblauen Himmel hinzogen. Wir kehrten zum Ssalmgriesch-Gesinde zurück. Mein Wirt wollte mich ohne Frühstück (lettisch: launags) nicht fortlassen. Die mir vorgesetzte Kartoffelsuppe (eigentlich Gemüsesuppe) schmeckte vortrefflich. Als ich mich nach den Verhältnissen auf dem Lande erkundigte, meinte der Wirt, daß es hier den Bauern leidlich gehe. Mir erschienen die Leute noch recht wenig von der Kultur beleckt, friedlich, arbeitsam und sittenrein. Ihre Tageseinteilung ist im Sommer folgende: um 4 Uhr wird aufgestanden, um 7 ist Frühstück, um 12 Mittag, um 5 ein Imbiß (lettisch: palaunags), nach dem Abendessen geht man um 10 Uhr schlafen; um die Mittags zeit hält man gewöhnlich auch ein Schläfchen. Im Winter werden an den langen Abenden meist Hausarbeiten verrichtet — auch einen großen Webstuhl bemerkte ich im Wohnzimmer des Sängers — wobei man sich unterhält, etwas erzählt oder vorliest. — Nach dem Frühstücke verließ ich Usmaiten mit der alten Kirche am lieblichen See und begab mich durch schönen Urwald, wo im Schatten von Fichten und Tannen stille Waldbäche dahinflossen, heimwärts. Unterwegs hatte ich Gelegenheit, eigentümliche rote Heuschrecken zu beobachten.