Hermann Schulze-Delitzsch (Die Gartenlaube 1859/49)

Textdaten
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Titel: Hermann Schulze-Delitzsch
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 719-722
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Hermann Schulze-Delitzsch.

Das allgemeine Streben der Zeit, der Noth Linderung zu bringen, äußert sich insofern auf verschiedene Weise, als man bald nach dem Wohlthätigkeitsprincip, bald nach dem Grundsatz der Selbsthülfe handelt. Welche sittliche Wirkungen das eine und das andere System haben muß, wird jeder Menschenkenner sich selbst sagen. Das Wohlthätigkeitsprincip beruht auf einem Almosengeben und entmuthigt und entsittlicht, das Princip der Selbsthülfe wendet sich an das Ehrgefühl und hebt und stärkt.

Bei keinem der bedrängten Stände würde das Wohlthätigkeitsprincip, wenn es allgemein zur Anwendung käme, furchtbarere Verheerungen anstiften, als bei dem des kleinen Gewerbes. Leider ist unter seinen Mitgliedern, dieser breitesten Basis der Bürgerschaft, eine klare Einsicht in die Lage, in der sie sich befinden und über die sie fast alle klagen, nicht allgemein verbreitet. Die meisten suchen die Hülfe da, wo sie nicht zu finden ist, und fordern Polizeischutz und Zunftzwang. Daß sie leiden, ist gewiß genug, und diese Thatsache genügt den Männern des Wohlthätigkeitsprincips, die kleinen Handwerker im Lichte von verschämten Armen zu sehen. Es war einmal nahe daran, daß diese Auffassung die Oberhand gewann, und dann würde ein großer und achtbarer Stand tiefer gesunken sein, auf eine Stufe hinab, von der wieder loszukommen den Wenigsten gelingt. Da trat Hermann Schulze auf und ihm ist es fast ausschließlich zu verdanken, daß von dem falschen Wege in eine Bahn eingelenkt worden ist, auf der im Laufe weniger Jahre die größten und segensreichsten Fortschritte gemacht worden sind. Er ist der eigentliche Gründer jener Vorschußvereine und andern freien Genossenschaften, welche dem Kleingewerbe seinen vollen Antheil an allen Hülfsmitteln der industriellen und Handelsbewegung unserer Tage verschafft haben.

Hermann Schulze wurde am 29. August 1808 geboren. Sein Vater, der als preußischer Justizrath noch heute lebt, bekleidete damals in Delitzsch, einem Landstädtchen der Provinz Sachsen unfern von Leipzig, das Amt eines Bürgermeisters. In Delitzsch erhielt Schulze die erste Erziehung und ward dann nach Leipzig auf die Nicolaischule geschickt. Seine Universitätsstudien machte er theils in dieser Stadt, theils in Halle. Zweiundzwanzig Jahre alt, bestand er als Candidat der Rechte die erste Prüfung, nach der man ihn in Naumburg beim dortigen Oberlandesgericht als Auscultator beschäftigte. Seine Stellung ließ ihm Muße, sich mit der Geschichte, der Philosophie und der deutschen Literatur zu beschäftigen. In den Gerichtsferien wanderte er durch die Gebirge unsers Vaterlandes und besuchte auch den scandinavischen Norden. Die dichterische Frucht dieser Reisen ist sein 1838 erschienenes „Wanderbuch“ (Leipzig bei Brockhaus), eine Gedichtsammlung, die in unserer an Lyrikern fast überreichen Zeit Aufmerksamkeit und Theilnahme erregt hat.

In demselben Jahre, in dem er als Dichter vor die Welt trat, wurde er zum Assessor ernannt und bald darauf zum Kammergericht in Berlin versetzt. Die Hauptstadt behielt ihn indeß nicht lange. Er stand in Delitzsch im besten Andenken, und als 1841 dort das Amt des Patrimonialrichters erledigt wurde, wünschte man ihn zu haben. Indem er dem ehrenvollen Rufe folgte, stellte er dem Staate zwei Bedingungen, welche beide angenommen wurden: daß man ihn in den Listen nach seinem Dienstalter fortführe, und daß er jeder Zeit in den Staatsdienst zurücktreten könne.

Die collegialische Besetzung der Gerichte, die man neuerdings zur Regel zu machen liebt, hat ihre empfehlenswerthen Seiten, aber in einer wichtigen Beziehung ist der Einzelrichter doch bevorzugt. Er lernt die Welt nicht aus den Acten, sondern in den Menschen kennen, und wird seinerseits dem ganzen Gerichtsbezirke bekannt. Ist er der rechte Mann dazu, so wird sein Verhältniß zu der Bevölkerung ein patriarchalisches. Man vertraut ihm, man folgt ihm, wenn er kostspielige Processe durch einen verständigen Vergleich zu beenden räth, und bei ihm sucht man in vielen Verlegenheiten und Nöthen des alltäglichen Lebens Auskunft und Beistand. Ein solcher Einzelrichter wurde Schulze. Als gesuchter und verehrter Beirath von Bürgern und Bauern hatte er Gelegenheit, ganz andere Blicke in die Lebensverhältnisse zu thun, als der „grüne Tisch“ sie ihm jemals gestattet hätte. Jemehr er sah, wie viel unverschuldete Noth auf das Dasein Vieler drückt, um so eifriger wurde er in der Erfüllung seiner Pflicht, zu helfen, wo er immer konnte. Die Liebe, die er durch sein Wirken säete, hat sich später auf eine rührende Weise geäußert. Als er von der siegreichen Reaction vor Gericht gestellt wurde, um für seine Thätigkeit als Volksabgeordneter bestraft zu werden, da war unter den Zeugen aus seinem alten Gerichtsbezirk, die ihn belasten sollten, nicht einer, der ihm nicht das ehrendste Zeugniß ausgestellt hätte.

Schulze war sieben Jahre als Patrimonialrichter im Amt gewesen, als die Bewegung von 1848 kam. Für Delitzsch verstand es sich von selbst, daß man nur ihn als Abgeordneten nach Berlin schicken könne. In der Nationalversammlung schloß er sich den Centren an, die zwar eine Neugestaltung, aber keinen radicalen Bruch mit der Vergangenheit wollten. Er war seinen Parteigenossen nicht weiter bekannt, als durch sein Wanderbuch und durch verschiedene Aufsätze schöngeistigen und kunstgeschichtlichen Inhalts, die er nach einer Reise in Italien und Sicilien verschiedenen Zeitschriften übergeben hatte. Im nähern Umgange überzeugten sie sich, nach welcher Richtung seine Bestrebungen gingen, und ernannten ihn zum Vorsitzenden des Ausschusses, der zur Untersuchung des Nothstandes der Handwerker und Arbeiter niedergesetzt wurde.

Das Material, das diesem Ausschusse zuströmte, war ein massenhaftes. Aus allen Gegenden Preußens liefen etwa 1600 Bittschriften ein, die ohne Ausnahme die Lage des Kleingewerbes in düstern und nur zu wahren Farben schilderten. Etwas Anderes, als wie traurig es jetzt aussehe, ließ sich aus diesen Schriftstücken indessen nicht entnehmen. Die Hülfe, welche ihre Verfasser und Unterzeichner forderten, widersprach allen Grundbedingungen modernen Verkehrslebens. Die freie Concurrenz sollte beseitigt und jedes Handwerk mit einer neuen Zunftschranke umzogen werden, damit wieder jene verderblichen Verbietungs- und Bannrechte entständen, die dem Handwerk seinen goldenen Boden unter den Füßen fortgezogen [720] haben. Schulze wurde sich darüber klar, daß der entgegengesetzte Weg eingeschlagen werden müsse, wenn etwas erreicht werden solle. Auf diesem Wege glaubte sich eine andere Versammlung zu befinden, der Arbeitercongreß, der in jener Zeit neben der Nationalversammlung in Berlin tagte. In der That folgte dieser Congreß aber fremden Irrlichtern, eben jenen Socialisten, deren ausschweifende, alle Besitzenden abschreckende Theorien der französischen Republik den Untergang gebracht haben. Von einem solchen Extrem, das ohne Halt in ungemessene Weiten schweift, konnte Schulze eben so wenig etwas erwarten, als von dem andern Extrem der Zunftmeister, das nicht in die Zukunft hinaus, sondern in die Vergangenheit zurück wollte.

Hermann Schulze-Delitzsch.

Die feste Ueberzeugung, die Schulze gewann, daß jede Neugestaltung der Arbeiterverhältnisse das Privateigenthum, die Häuslichkeit des Familienlebens und die Freiheit des Verkehrs zu ihrer Grundlage haben müsse, war sein erster Gewinn. Es galt nun die Mittel zu finden, wie dem Aermern ein Wetteifer mit der von einer mächtigern Capitalkraft getragenen Arbeit zu ermöglichen sei. Schulze sagte sich, daß dem Kleingewerbe derselbe Hebel der Geldkraft, dem das Großgewerbe seine Erfolge zumeist verdankt, in die Hand gegeben werden müsse, und daß dies nur durch die Bildung von Vereinen erreicht werden könne. Die Vereinzelung sei es, die den Handwerker ohnmächtig mache und ihn abhalte, aus den reichen Quellen zu schöpfen, die sich der großen Industrie durch die ungemeine Verbesserung der Verkehrsmittel, durch den Aufschwung des Großhandels und durch die Banken längst erschlossen haben. Es komme nun darauf an, solche Genossenschaften zu bilden, die sich nicht wie die Zünfte gegen die Zeitströmung richteten, vielmehr im Gegentheil von ihrer vollen Fluth getragen würden.

Im November 1848 wurde die Nationalversammlung zersprengt und Wrangel’s Soldaten zerstreuten das gesammelte Material des Arbeiter-Ausschusses in alle Winde, Schulze’s Ideen waren der „rettenden That“ unerreichbar, und mit ihnen ging er nach seinem Heimathsorte, um sogleich Hand ans Werk zu legen. Delitzsch zählt nicht viel über 5000 Einwohner, deren Vermögensverhältnisse mit dem freundlichen Eindrucke, den das hinter Baumgängen versteckte, von fruchtbaren Ebenen umgebene Städtchen macht, im Allgemeinen nicht in Einklang stehen. Schulze wußte am besten, wie viel Armuth in Delitzsch verbreitet sei. Hatte er doch im Hungerjahre 1846 energisch gegen das Elend ankämpfen müssen, und war es doch nur seinen Maßregeln zu verdanken gewesen, daß keine oberschlesischen Zustände entstanden waren. Dem bewährten Helfer in der Noth folgten die kleinern Handwerker willig, als er ihnen seine Gedanken, so weit sie ihnen verständlich sein konnten, erörterte und zur Bildung von Vereinen aufforderte. Der erste derselben entstand in der Schuhmacher-Innung, indem 56 Meister zusammentraten, um auf gemeinschaftliche Rechnung Leder zu kaufen und den Vorrath nach Bedarf an die Einzelnen zu Großhandelspreisen, mit einem geringen Aufschlage für die Zinsen und Verwaltungskosten, abzugeben.

1849 wurde Schulze zum zweiten Male zum Abgeordneten gewählt. Die letzten politischen Ereignisse hatten ihn trotz aller Wuth der Reactionspartei und trotz der massenhaften Verfolgungen, die an der Tagesordnung waren, seiner politischen Mäßigung nicht untreu gemacht. Er sprach oft und mit Beifall; seiner Rede über die deutsche Frage vom 21. April versagte auch die Rechte ihren Beifall nicht. Nachdem diese Kammer ebenfalls aufgelöst worden war, stellte man ihn wegen seiner Theilnahme an dem Steuerverweigerungsbeschlusse von 1848 vor Gericht. Er vertheidigte sich glänzend, und die Geschworenen sprachen ihn frei. Er ging nun [721] nach Delitzsch zurück und traf bei den dortigen Vereinen solche Einrichtungen, daß sie auf eigenen Füßen gehen und seiner Leitung für die nächste Zeit entbehren könnten.

Familienvater und ohne ein nennenswerthes Vermögen, mußte er an seine Zukunft denken. Bei seiner Uebernahme des Patrimonialgerichts zu Delitzsch, dessen Auflösung inzwischen nach dem Gesetz von 1849 erfolgt war, hatte er sich den Rücktritt in den preußischen Staatsdienst vorbehalten, sodaß man ihm eine Stelle, wie sie ihm nach seinem Dienstalter zukam, nicht verweigern konnte. Man ernannte ihn zum Kreisrichter und schickte ihn nach dem preußischen Sibirien, worunter die polnisch-preußischen Gebietstheile zunächst der russischen Grenze zu verstehen sind. Eine Anstellung in diesen Gegenden, die sich durch keine Reize der Natur auszeichnen und von einer rohen, eine fremde Sprache redenden Bevölkerung bewohnt werden, ist einer Verbannung gleich zu achten, und das soll sie auch sein. Schulze kam als Richter am Kreisgericht nach Wreschen.

Sein Aufenthalt in dieser Stadt am äußersten Umkreise des Staats umfaßt einen Zeitraum von etwa anderthalb Jahren. Man wies ihm die unangenehmsten und schwierigsten Arbeiten zu, polnische Concursprocesse, die zum Theil aus dem vorigen Jahrhundert stammten und hauptsächlich deshalb verschleppt worden waren, weil sich Niemand an diese verworrenen Rechtsknäuel gewagt hatte. Schulze brachte diese Processe mit unsäglicher Arbeit wieder in Gang, mehrere sogar zur Entscheidung, sodaß die Gelder an die Kinder und Kindeskinder der ursprünglichen Gläubiger ausgezahlt werden konnten. Das Gericht sprach ihm dafür seinen Dank aus, ebenso die zunächst vorgesetzte Justizbehörde, und Schulze konnte um so eher erwarten, daß man ihm nach der Abwicklung des schwierigsten Theils seiner Geschäfte einige Erholung gönnen werde, als seine Gesundheit bei der Riesenarbeit gelitten hatte. Auf ein Zeugniß des Kreisarztes gestützt, bat er um die Erlaubniß, die ihm nach der preußischen Ferienordnung der Gerichte zustehende Ferienreise antreten zu dürfen. Der Justizminister Simons verweigerte sie und hielt seine bis dahin unerhörte Gewaltmaßregel aufrecht, obgleich der Direktor des Wreschener Kreisgerichts die ernstlichsten Gegenvorstellungen machte und Schulze’s Amtsgenossen einstimmig erklärten, „er habe für sie Alle gearbeitet und möge die ganzen Ferien zu seiner Erholung benutzen; sie würden ihn mit Freuden vertreten.“

Sich einer solchen Behandlung zu fügen, war Schulze nicht gemeint. Ohne sich an das Verbot zu kehren, reiste er von Wreschen ab und nahm den Weg über Berlin, wo er sich dem Minister persönlich vorstellte. Dieser erklärte ihm, „allenfalls“ solle ihm der Besuch eines schlesischen Bades gestattet werden, aber seine Heimath dürfe er nicht berühren. Er sollte also thatsächlich internirt werden. Er wurde zum zweiten Male ungehorsam, bereiste die Salzburger Alpen und ging dann geraden Wegs nach Delitzsch. Er hatte erwartet, daß man ihn in eine Disciplinaruntersuchung verwickeln würde, allein dieser Schritt war dem Justizminister zu kühn. Er sah voraus, daß Schulze sich kräftig vertheidigen und die Unterstützung des ganzen preußischen Richterstandes erhalten werde. Um dies zu vermeiden, ersann Herr Simons einen andern Ausweg, für den es in den Gesetzen allerdings so wenig einen Anhalt gab, wie für die Verweigerung der Ferienreise. Schulze wurde im Verordnungswege mitgetheilt, „daß ihm von jetzt an kein Urlaub mehr ertheilt und von seinem Gehalt der Betrag eines Monats gekürzt werden solle.“ Seine Antwort war eine Bitte um Entlassung, die man ihm ohne Weiteres ertheilte.

Aller andern Bande und Pflichten ledig, begab er sich nach Delitzsch mit dem Entschlusse, die Hebung der arbeitenden Classen fortan als die Aufgabe seines Lebens zu betrachten. Er wählte Delitzsch zu seinem Wohnorte, um zunächst die Keime, die er 1849 durch den bereits erwähnten Verein für Ankauf von Rohstoffen und 1850 durch die Gründung eines Vorschußvereins gelegt hatte, weiter zu entwickeln. Vielleicht ahnte er damals selbst nicht, daß das Jahr 1851, in dem er nach Delitzsch zurückkehrte, für Deutschland in volkswirthschaftlicher Beziehung Epoche machend werden solle. Die reißend schnellen Fortschritte seiner Gedanken in unserm sonst so langsamen Vaterlande sind ihm gewiß selbst überraschend gewesen.

Schulze hatte Erfahrungen gemacht, durch die er auf ein ganzes zusammenhängendes System von Handwerkervereinen hingeführt worden war. Die wichtigsten derselben sind die Rohstoff-, Consum- und Vorschußvereine. Ihrer Natur nach greifen sie, sich gegenseitig ergänzend und unterstützend, ineinander. Die ersten verschaffen dem Handwerker die Rohstoffe und Halbfabrikate, deren er bei seiner Arbeit bedarf, zu den billigsten Preisen; die Vorschußvereine sind seine Bank, in der er zu denselben Zinsen, die das Großgewerbe dem Bankier zu entrichten hat, sich mit Geld versehen kann; und die Consumvereine machen sein Leben billig, indem sie ihn mit den täglichen Bedürfnissen wohlfeil versehen. Alle drei Arten von Vereinen beruhen auf dem Grundsatze der Selbsthülfe. Der Handwerker, der sie benutzt, hat durch seine Mitgliedschaft und seine Einzahlungen ein Recht dazu erworben. Er braucht nicht zu bitten, er kann fordern.

Die Einrichtungen sind bei jeder Art ziemlich dieselben, namentlich hinsichtlich des Hauptpunktes, daß jeder Verein eine Sparcasse ist, in welcher der Arbeiter seine Erübrigungen bis zu den kleinsten Beträgen abwärts niederlegen kann. Bei den Vorschußvereinen, welche die Rohstoff- und Consumvereine weit überflügelt haben, wird nach folgenden Grundsätzen verfahren: Das Vermögen des Vereins, das zur Leistung der Vorschüsse dient, wird durch Anleihen und durch zinsfreie Darlehne von Ehrenmitgliedern, hauptsächlich aber durch die eigenen Beisteuern der eigentlichen Mitglieder gebildet. Die Beisteuern bestehen theils in eingezahlten Stammantheilen (Actien), theils in monatlichen Einzahlungen. Die letztern, bei denen man bis zu einem Silbergroschen heruntergeht, sollen einestheils die Geldmittel des Vereins erhöhen, anderntheils den Mitgliedern ein kleines Capital verschaffen und sie an’s Sparen gewöhnen. Bei der Aufnahme von Mitgliedern wird mit großer Vorsicht zu Werke gegangen. Hat man die Ueberzeugung, daß Jemandem durch Vorschüsse nicht mehr zu helfen ist, so weist man ihn zurück. Bei allen Geldverbindlichkeiten haften die Mitglieder Alle für Einen. Wer einen Vorschuß zu erhalten wünscht, hat in der Regel durch Wechsel oder durch Bürgschaft eine gewisse Sicherheit zu stellen. Die Zinsen, die er zu zahlen hat, schwanken in den einzelnen Vereinen zwischen acht bis zehn vom Hundert. Dieser Zinsfuß ist blos scheinbar ein hoher, denn abgesehen davon, daß der vereinzelt dastehende Handwerker bei Darlehnen, wenn er sie überhaupt erhält, weit höhere Zinsen bezahlen muß, erhält er im Verein, weil er an den Vortheilen des Cassengeschäfts Antheil nimmt, die gezahlten Zinsen theilweise zurückerstattet. Bis zu welcher Höhe der Verein Vorschüsse gewährt und in welchen Fristen er die Rückzahlung fordert, richtet sich nach den Verhältnissen des Orts. In Delitzsch hat jedes Mitglied auf Darlehne bis zu zweihundert Thalern Anspruch und es ist ihm eine dreimonatliche Frist gegönnt. Daß man bei unverschuldeter Verzögerung der Zahlung die größte Nachsicht übt, versteht sich bei dem rein humanen Zweck der Vorschußvereine von selbst.

Die Schwierigkeit, für Vereine, die aus lauter unbemittelten Mitgliedern bestanden, von vorn herein Credit zu finden, hatte Schulze bestimmt, sich insofern an die Wohlthätigkeit zu wenden, daß er unverzinsliche Darlehne annahm. Diese um des Zwecks willen gegebenen Gelder bildeten übrigens niemals den Hauptstock, und es zeigte sich auch bald, daß die feste Haltung der Vereine Vertrauen genug einflöße, um jene Beihülfe entbehrlich zu machen. In den Kreisen, deren Nutzen sie dienen wollten, bürgerten sich Schulze’s Schöpfungen schnell ein. Der Vorschußverein zu Delitzsch hatte im Jahre 1852 etwa 100 Mitglieder, deren Zahl im nächsten Jahre auf 175 und im Jahre 1855 auf 210 stieg. In dem letztgenannten Jahre war man so weit gekommen, daß das volle Viertel des Betriebscapitals in eigenem Vermögen des Vereins bestand, das durch das Guthaben der Mitglieder und den Reservefond repräsentirt wurde. Im nahen Eilenburg begann man Ende 1851 mit 396 Mitgliedern und zählte 1854 deren bereits 714, während die Einnahmen in derselben Zeit von 11,625 auf 44,271 Thaler stiegen. Durch diese Resultate ermuntert, gründeten andere Städte ebenfalls Vorschußvereine, in der Provinz Sachsen Halle, Eisleben und Bitterfeld, im Königreich Sachsen zuerst Meißen. Ueberall machte man die günstigsten Erfahrungen. Die Verluste, die aus der Nichtbezahlung erhaltener Vorschüsse erwuchsen, waren nirgends nennenswerth, und mit der Zunahme der Dividende wuchs der Reiz zum Beitritt wie zur Erhöhung der monatlichen Beiträge. In der That war der Gewinn beträchtlich genug, daß er das Sparen belohnte. Der Meißner Verein z. B. zahlte gleich im ersten Jahre 162/3 Procent Dividende.

[722] Einen gleichen Aufschwung nahmen die andern Vereine. So hatte der Leipziger Consumverein, der sich in den ersten Jahren langsam Eingang verschaffte, 1856 einen Umsatz von 9600 und 1859 in den Monaten März bis Oktober von 17,927 Thalern. Der Schuhmacherverein in Delitzsch kaufte 1857 für 11,068 Thaler Rohleder und verschaffte seinen Mitgliedern solche Vortheile, daß die Schuhmacher der benachbarten Orte Schulze baten, ihnen ähnliche Vereine einzurichten, weil sie ohne diese auf den Märkten neben ihren Gewerbsgenossen aus Delitzsch nicht bestehen könnten. Sie hatten richtig herausgerechnet, daß der wohlfeilere Einkauf von Leder bei jeder Schuhsohle eine Ersparniß von 21/2 Silbergroschen ausmache.

Nur an örtliche Verhältnisse und Bedürfnisse anknüpfend und mit den kleinsten Anfangen zufrieden, hatte Schulze eine Grundlage erlangt, auf der sich weiter schreiten ließ. Er begann auch jetzt wieder ganz klein, mit der Gründung eines Vereins Delitzscher Schuhmacher zum gemeinschaftlichen Verkauf der fertigen Waaren auf Jahrmärkten und Messen. Die Vereinsmitglieder übergaben ihre zum Marktverkauf bestimmten Schuhe und Stiefeln einem Beauftragten, der damit die Messen bezog und sie zu den Preisen, die jeder Meister festgesetzt hatte, und gegen eine angemessene Vergütung für seine Mühe verkaufte. Diese Provision betrug weit weniger, als der einzelne Meister früher, wo er noch selbst die Messen bezog, an Zeit und Geld hatte aufwenden müssen. Ueberdies machte der Verein die besten Geschäfte, da die Delitzscher Schuhbude bald in den besten Ruf kam. Der neue Verein wurde seinerseits zum Ausgangspunkte für Magazine der verschiedensten Handwerke. Die Schulze’schen Anstalten dieser Art sind nicht mit den Kleidermagazinen etc. zu verwechseln, die eigentlich Fabriken sind und eine Menge verkommener Meister von einem reicheren Gewerbsgenossen, der die Gefahr und den Nutzen allein hat, abhängig machen. Bei ihnen behält jeder Meister seine Kunden für sich und arbeitet blos dann, wenn seine eigenen Geschäfte stocken, für das gemeinschaftliche Lager.

Nachdem reiche Erfahrungen gewonnen worden waren, trat Schulze mit seinen Resultaten vor die Oeffentlichkeit. Seine drei Schriften: das Associationsbuch, die Vorschuß- und Creditvereine als Volksbanken (Leipzig bei Ernst Keil, 1859, zweite Auflage), und: die arbeitenden Classen und das Associationswesen (Leipzig bei Gustav Mayer), machten die wirksamste Propaganda. Durch sie kam das rechte Leben in die Sache, und Tausende erwärmten sich, die früher nur aus Unkenntniß theilnahmlos gewesen waren. Die Schulze’schen Vereine breiteten sich mit einer beispiellosen Geschwindigkeit von der Mitte Deutschlands nach dem Süden und Norden zugleich aus, ja einzelne entstanden sogar auf fremdem Boden, unter anderm zu Coni in Piemont. Gegenwärtig bestehen 150 Vorschußvereine, 60–80 Rohstoffvereine und 10–20 Consumvereine. Fünfundvierzig Vorschußvereine, die allein genauen Bericht erstatteten, gewährten im Jahre 1858 für 2,086,083 Thaler Vorschüsse, und man greift gewiß nicht zu hoch, wenn man den Gesammtumsatz der 150 Vereine für das Jahr 1859 auf 8–10 Millionen veranschlagt. So hat sich aus kleinen Vereinen unbemittelter Handwerker eine Geldkraft krystallisirt, auf die Rücksicht zu nehmen für die großen Banken mit der Zeit zur Nothwendigkeit werden wird. Die auf dem Wohlthätigkeitsprincip beruhenden Vorschußvereine anderer Gründer, von denen sich einige von 1847 und 1848 her erhalten haben, sind von den Schulze’schen weit überflügelt worden. In Colberg und Luckenwalde, Städten von 8000 und 9000 Einwohnen haben die nach dem Grundsatze der Selbsthülfe eingerichteten Creditcassen im Jahre 1858 für 63,318 und 90,882 Thaler Vorschüsse gewährt, während vierundachtzig Wohlthätigkeitsvereine des großen Berlin im Jahre 1857 es nur auf 68,761 Thaler gebracht haben. Kann es einen schlagenderen Beweis für die Vorzüge des Grundsatzes der Selbsthülfe geben?

1859 hatte Schulze die Freude, auf dem ersten Vereinstage der deutschen Vorschußvereine den Vorsitz führen zu können. Er sah jetzt das Gebäude, dessen Grundstein er gelegt, dessen Mauern er behutsam Stein um Stein zusammengefügt hatte, mit dem Dache gekrönt. Der Vereinstag war nach Dresden ausgeschrieben worden, aber Bedenken der sächsischen Regierung, die sich aus einer Bestimmung des sächsischen Vereinsgesetzes ableiteten, hatten eine Verlegung nach Weimar nöthig gemacht. Abgeordnete von neunundzwanzig Vereinen tauschten in den Tagen vom 14–16. Juni ihre Ansichten und Erfahrungen aus. Schulze gab einen neuen Beweis seiner Besonnenheit, indem er den Vorschlag der Errichtung einer Central-Handwerkerbank lebhaft bekämpfte. Der Gedanke hat etwas Glänzendes, aber noch sind die Stützen, die ihn tragen sollen, zu schwach, und es ist besser, die rechte Zeit abzuwarten, als von oben nach unten zu bauen. Dagegen faßte man den Beschluß, ein Centralbureau zu errichten, welches eine Verbindung der einzelnen Vereine anbahne und den Briefwechsel mit ihnen besorge. Die Leitung wurde Schulze übertragen und noch bestimmt, daß jeder Verein mit 1/2 Procent seines Reinertrags zu den Kosten beitrage.

Wir haben bisher der äußern Hindernisse, auf die Schulze stieß, nicht gedacht. Er hatte seine Vereine auf einen Boden gestellt, der mindestens politisch neutral genannt werden muß, obgleich eigentlich Jeder, der sich wie Schulze der um sich greifenden Noth entgegenstemmt und die arbeitenden Classen wilden utopischen Träumereien entreißt, um ihnen praktische und sittliche Ziele zu zeigen, im besten Sinne des Worts ein Conservativer ist. Dennoch ist er Verdächtigungen nicht entgangen, und nicht nur die rege Theilnahme, die er in neuester Zeit der nationalen Bewegung schenkt, sondern auch die Wirksamkeit, die er als Vorsitzender des volkswirthschaftlichen Congresses in Frankfurt a. M. entfaltet hat, wird gegen ihn ausgebeutet. Es ist, gelind gesagt, kleinlich, Dinge zusammenzuwerfen, die nichts mit einander zu thun haben. Die Schulze’schen Vereine sind besondere und hochwichtige Theile eines Ganzen, über das die deutschen Volkswirthe ihre Berathungen erstrecken und jene Vereine wie der Congreß bewegen sich auf einem Gebiete, auf dem alle Parteien ohne Ausnahme thätig sein sollten. Die nationale Bewegung liegt weit davon ab. Will Schulze sich an ihr betheiligen, so ist das eine rein persönliche Angelegenheit. Mit welchem Recht kann man ihm befehlen, der einzige Mensch in Deutschland zu sein, der keine eigene politische Meinung haben darf? Mißbrauchte er seine Vereine zu Gunsten jener Bewegung, wozu jeder Anlaß und sogar jede Möglichkeit fehlt, dann und erst dann dürfte man ihm Vorwürfe machen. Uebrigens beweist die Stellung, die er in jener Bewegung einnimmt, abermals, wie bedeutend er ist. Nachdem er der ersten Versammlung in Eisenach beigewohnt hatte, Wurde er in Coburg vom Herzog empfangen, der anerkennende und ermuthigende Worte an ihn richtete, und führte bei der zweiten Versammlung in Frankfurt a. M. den Vorsitz. Einen Auszug aus seiner damaligen Rede, die einen glänzenden Beweis seiner Vaterlandsliebe und Aufopferungsfähigkeit gibt, haben wir s. Z. in Nr. 40 mitgetheilt.

Die Zeitungen haben in neuester Zeit berichtet, daß Schulze zweimal um Anwaltstellen eingekommen und beide Male vom Minister Simons nicht einmal einer Antwort gewürdigt worden sei. Aus seinen Bewerbungen wird man ersehen haben, daß er kein vermögender Mann ist. Er wird so bald als möglich ein Amt oder Geschäft suchen müssen, und dann ist seine Kraft für seine Vereine verloren. Sollte sich nicht ein Mittel finden, ihn für diese zu erhalten, ohne daß er fortfahren müßte, wie in allen Jahren seit 1851, Opfer zu bringen, die seine Pflichten gegen seine heranwachsenden Kinder ihm nicht mehr erlauben? In England wäre ein Auskunftsmittel sogleich gefunden; dort ist es längst Sitte, daß ein verdienter Mann von denen, welchen er seine ganzen Kräfte darbringt, entschädigt wird. Es wäre schön und ein fruchtbringendes Beispiel für die Zukunft, wenn man die englische Sitte nachahmte. Das halbe Procent, das der Centralstelle bezahlt wird, gleicht eben die Bureaukosten aus. Erhöht man es auf zwei Procent vom Reingewinn jedes Vorschußvereins, so würde eine Summe von 500, höchstens 600 Thaler jährlich erreicht, zu der beizutragen keinem Vereine schwer fiele und die doch nur eine sehr bescheidene Vergütung für alle Arbeiten und Reisen Schulze’s wäre. Der Verein, der zuerst den Antrag auf eine für das Ganze kaum bemerkbare Entschädigung des hochverdienten Mannes stellte, würde sich ein Verdienst um das Vereinswesen überhaupt erwerben. Opfer, wie Schulze sie bisher gebracht, können von Niemand verlangt werden, der sie zu bringen nicht im Stande ist, und solche unmögliche Opfer muthet man dem Gründer der Vereine zu, wenn man verlangt, daß er seine Dienste ohne alle Vergütung fortsetze.