Ein Schneesturm auf den Hohen Heiligenbluther Tauern

Textdaten
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Autor: Gustav Rasch
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Titel: Ein Schneesturm auf den Hohen Heiligenbluther Tauern
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 716–719
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Schneesturm auf dem Hohen Heiligenbluter Tauern.

Von Gustav Rasch.

Ein Tanz der Gebirgsbewohner in einem Tauernhause, Musik und Schnaderhüpfle im obersten Felsenkessel eines Queralpenthals im Anblick der Welt des Erstarrtseins, in welche die untergehende Sonne mit ihren letzten Strahlen hineinleuchtet, jauchzendes Leben in der Nähe des ewigen Schweigens und hinabstürzender Lawinen, welch’ eine Welt von Poesie für ein junges Mädchenherz oder – für einen alpenschwärmenden Stritzow! Ich war so unglücklich, eine solche Nacht voll Poesie im Fuscher Tauernhaus zu erleben, als ich am andern Morgen die nördliche Tauernkette über das Hohe Thor übersteigen wollte. Eine Tasse Thee in einem wohnlich und bequem eingerichteten Wirthshauszimmer, eine gute Havannahcigarre, und die schweigendste Prosa wäre mir lieber gewesen. Das Getrampel der dickbenagelten Gebirgsschuhe auf dem hölzernen Fußboden, das Gejauchze der Burschen und Madels nach einem neuen, schön gelungenen Schnaderhüpfle, die zu einem neuen Walzer einsetzende Musik dauerten die halbe Nacht hindurch und nahmen mir den Schlaf, und als ich endlich einschlief, jauchzten, jodelten und sangen alle diese poetischen Gestalten so lange in meinen Träumen fort, bis mich die tiefe und ernste Stimme des Rederers, des bekannten Tauernführers, aus meinem Halbschlafe weckte und mich aufforderte, schleunigst aufzustehen, da das helle Wetter wahrscheinlich nur einige Stunden anhalten würde und wir bis zum Umschlag desselben das Hohe Thor erstiegen haben müßten.

Der Uebergang über die nördliche Tauernkette über das Hohe Thor des Bluter Tauern durch das Fuscher Thal ist allen andern Uebergängen vorzuziehen. Bei dem Uebergang durch die Rauris geht die Aussicht vom Fuscher Thörl, eine der großartigsten in den östlichen Alpen, verloren, und der Ersatz, den der Uebergang von Gastein über den Rauriser Goldberg bietet, ist ebenfalls mit dieser Aussicht nicht zu vergleichen; der Uebergang durch die Pfandlscharte [717] gibt diesen Blick nur in einer Seitenansicht, während sich freilich auf der andern Seite eine Aussicht auf die Pasterze und auf die Glocknergruppe öffnet, welche man übrigens noch schöner hat, wenn man am andern Tage eine Gletscherreise über die Pasterze von Heiligenblut aus unternimmt. Der Erzherzog Johann von Oesterreich, ein Mann, der nach Schaubach’s und Hoppe’s Tode unter allen jetzt lebenden Menschen die deutschen Alpen wohl am besten kennt und zu würdigen weiß, war ganz meiner Ansicht und hatte mir in einer diesen Gegenstand berührenden Unterhaltung in Wildbad unter allen andern Uebergängen den Uebergang über das Hohe Thor angerathen. Ich war deshalb bis nach Bruck zum Eingange des Fuscher Thals gefahren, und von dort aus zum Fuscher Tauernhaus Tags zuvor hinaufgestiegen. Es hat bereits eine Meereshöhe von 3657 Fuß und steht am Eingange des obersten Thalkessels des Fuscher Thals, seines sogenannten Naßfeldes, einer zwei Stunden langen, grünen, mit Matten, Felsblöcken und Sennhütten bedeckten, kleinen Hochebene, von steilen, nach unten noch bewaldeten Felsen umschlossen. Den Hintergrund bildet eine tiefbeschneite Felsenkette, eine Reihe prächtiger Hochgipfel, zwischen denen vielfach zerklüftete Gletscher sich hinabsenken. Der untere Theil der Fusch bildet eins der schönsten Seitenthäler der Salzach und ist ganz verschieden von den andern Querthälern, welche sich auf das Salzachthal öffnen. Seinen Eingang bildet kein verwildertes Hochgebirgsbild, keine düstere Thalenge, in der eine wilde Ache braust, wie die Oeffnung des Rauriser Thals, kein langgestreckter, hinansteigender Paß mit einem nächtlichen Abgrund zur Seite des an die Felsen hinanklimmenden Weges, wie das Gasteinerthal; sondern das Thal öffnet sich weit, sanft, fast eben ansteigend, auf der mit grünen Matten und grasreichen Wiesen bedeckten Thalsohle, zwischen denen die Ache ruhig hindurchgleitet, braune Sennhütten, weiße Häuser und weidende Heerden. Das Urgebirge steigt zu beiden Seiten hoch hinan, aber es ist vom Scheitel bis zur Sohle bewaldet; nirgends treten die braunen Felsen hervor, nur der Hintergrund hat durch die hie und da heraustretenden, schneegefleckten Felskuppen eine etwas ernstere Färbung. Erst in der Mitte, wo das Weichselbacherthal links hereinzieht, beginnt die Steigung, die Thalwände treten enger zusammen, und man hört das Brausen der Ache in der Tiefe, während die dichte Waldung, welche den ganzen Thalgrund einnimmt, ihre weißschäumenden Stürze verbirgt. Dann erhebt plötzlich der Sonnenwelleck sein schönes, weißes Haupt über einen grünen, das Thal in der Quere durchschneidenden Sattel, und mit jedem Schritt, den man nun bis zum Fuscher Tauernhaus aufwärts steigt, tritt die Tauernkette, welche den Hintergrund des Naßfeldes bildet, immer imposanter und majestätischer hervor.

Es war kaum fünf Uhr, als der Rederer und ich dieser wunderbar großartigen Kette entgegenschritten. Die Sonne war noch nicht über die hohen Thalwände hinaufgestiegen; nur der matte Schimmer des erwachenden Morgens lag über den Schneefeldern und Gletscherabstürzen ausgebreitet. Das Firmament war ohne einen Wolken- oder Nebelstreif; dennoch schritt der Führer tüchtig darauf los, mich mehrmals zur Eile anspornend. Der Rederer ist der zuverlässigste Führer für diesen Theil der nördlichen Tauernkette; Niemand kennt hier das Wetter, den Wind und die Hochsteige so genau, wie er; ich enthielt mich deshalb jeder Opposition, obschon ich in der That nicht begriff, warum und woher eine Wetterveränderung heute so schnell eintreten solle. Wir waren mit Mundvorräthen, Wein und Wachholderbranntwein auf einen ganzen Tag versehen, da der Uebergang selbst bei günstigem Wetter neun bis zehn Stunden in Anspruch nimmt; außerdem trug Rederer ein Seil, Steigeisen und eine Gemsbüchse als Ausrüstung für eine von mir projectirte Gletschertour des folgenden Tages auf dem Rücken. Wir sahen aus, als wenn wir unsere Tour nach Heiligenblut direct über die Eisfelder des Globen oder des Brennkogl nehmen wollten, und ein Senner, der uns entgegenkam, nahm deshalb Gelegenheit, uns wegen einer möglichen Witterungsänderung einen derartigen Versuch durchaus abzurathen. Nachdem wir eine Stunde gegangen waren, stiegen wir links an der Thalwand hinan. Ein uralter, sehr schmaler Saumweg führt von hier in immer sich wiederholenden, ziemlich geschickt angelegten Windungen in vier starken Stunden zum Fuscher Thörl, einem Einschnitt in dem Seitenrücken, welcher die Thäler Fusch und Rauris trennt, hinan. Durch diesen Einschnitt hat man zu steigen, um über den Fuscher Tauern in den westlichen Seitenwinkel der Rauris zu kommen, in den sog. Seidlwinkel, eine öde Steinwüste, durch welche man in wiederum zwei sehr mühsamen Stunden auf das Hohe Thor, einen ähnlichen Einschnitt des Bluter Tauern, gelangt. Hat man das Hohe Thor erreicht, so ist jede Schwierigkeit des Weges überwunden und man steigt dann in drei Stunden ziemlich bequem nach Heiligenblut hinab. Bis hierher hoffte Rederer vor einem Umschlag des Wetters mit mir zu gelangen. Indeß war mit dem Rederer selbst bei schlechtem Wetter der Uebergang recht gut zu wagen; selbst im stärksten Nebelwetter hatte er den Pfad noch nie verfehlt, obschon ich Niemandem rathen möchte, mit einem andern Führer dies Wagestück zu unternehmen. Erst im verflossenen Frühjahr hatte der Seidlwinkel wieder sieben Opfer gefordert. Bauern aus Heiligenblut und aus der Rauris hatten bei Nebelwetter den Uebergang versucht, hatten die Scharte des Hohen Thores nicht ausfindig machen können, und waren nach stundenlangem Umherirren in der Steinwüste und auf den Trümmermeeren erfroren.

Der Saumpfad, den wir hinanstiegen, war so tief ausgetreten, daß wir nur mit halbem Leibe aus der engen Gasse hervorragten, und zog sich nirgends sehr steil hinan. Dennoch wäre mir selbst bei weit größerer Steilheit der Weg bei der bei jedem neuen Aufstieg sich immer großartiger entfaltenden Aussicht auf die Hochgebirgskette, welche den letzten Kessel des Fuscher Thals umschließt, nicht schwer geworden. Jeder Alpenreisende weiß, daß, wenn man eine Thalwand hinansteigt, sich die gegenüberliegende Thalwand für das Auge immer höher erhebt, je höher man selbst steigt, natürlicherweise, wenn sie selbst die höhere ist. Es ist dies eine Täuschung der Sinne, aber eine Täuschung, welche zu den großartigen Aussichten bei einem Jochübergange sehr viel beiträgt. Alle mir gegenüber sich erhebenden Gipfel hatten eine Höhe über 10,000', alle waren also mit ewigem Schnee bedeckt, und jeder Gipfel sandte einen oder mehrere riesige Gletscher hinab. Ich sah, es war eine der großartigsten Aussichten, welche ich jemals in den Alpen gehabt hatte, welche sich vor meinen Blicken allmählich entfaltete. Nach zwei Stunden Steigens hatten wir die Hälfte des Aufstieges erreicht. Eine wunderbar klare Quelle rieselte aus dem Gestein hervor; es war der Petersbrunnen. Das Bild des Apostels Petrus, durch eine starke Holzblende gegen die Witterung geschützt, hat ihr den Namen gegeben. Wir standen bereits hoch genug, um über die Thalwände des Salzachthals, des Längenthals, auf welches das Fuscher Thal mündet, hinwegsehen zu können. Die Kalkalpen, das Steinerne Meer, der Watzmann, das Tauerngebirge erhoben nordwärts ihre Zacken, Spitzen und Risse. Die Sonne war jetzt vollständig über der Thalwand, an der wir hinanklimmten, hinaufstiegen und beleuchtete die uns gegenüberliegende Kette des Urgebirges und die thalauswärts sich erhebenden Kalkzinnen. Noch konnte ich keine Spur einer Wetterveränderung wahrnehmen. Nach wenigen Minuten Rastens trieb Rederer indeß wieder zur Eile, und wir stiegen eilig in das sogenannte obere Naßfeld des Fuscher Thals hinan. Der Wald war hier gänzlich verschwunden, selbst das Krummholz hatte aufgehört, nur ein spärlicher Graswuchs bedeckte den mit Geröll, Steinen und Felsentrümmern bedeckten Boden. Ein Kreuz bezeichnete uns die Höhe des Aufstiegs. Fast ohne uns umzusehen, stiegen wir in kaum zwei Stunden hinan. Kurz vor der Höhe traten neben der Pyramide des Sonnenwellecks zwei schlanke weiße Spitzen, durch eine Scharte von einander getrennt, hervor: es war der Großglockner.

Was soll ich von der Aussicht sagen, welche sich oben in ihrer ganzen imposanten Größe jetzt eröffnete? Pinsel und Palette des Malers würden nicht im Stande sein, sie wiederzugeben, was vermögen also die schwarzen Buchstaben! Weder vom Wormserjoch, noch vom Gornergrat, weder vom Gipfel des Faulhorn, noch am Montblanc baut sich dem verwunderten Auge ein so imposantes Schnee- und Gletscheramphitheater in so grandiosen Umrissen und in solcher Nähe auf. Die berühmt gewordene Aussicht von der Wengernalp ist gegen diese Aussicht unbedeutend zu nennen. Nur die Breite des hintern Kessels des Fuscher Thals trennte mich von wenigstens funfzehn der bedeutendsten Hochgipfel in den Alpen, zwischen denen über zehn kolossale Gletscher und Eismeere in lichtgrünen Stufen hinabstiegen. Die Reihe dieser Schneeriesen begann zunächst am Fuscher Tauern die runde Kuppel des Brennkogl und der weiße Rücken des Globen, an den sich der Gipfel des Spielmann lehnte. Die zwischen ihm und dem Bärenkopf sich klüftende Pfandlscharte bedeckt ein grünfunkelnder Eisstrom, an dessen anderer Seite die schöngeformte Pyramide des Sonnenwellecks sich erhob und sich an den schneeumhüllten Fuschkahrkopf lehnte. Wie ein plötzlich [718] zu Eis gewordener Wasserfall stürzte neben ihm die riesige Fuschkahrkees herab. Dann erhob sich der Breitkopf, durch einen vielfach zerklüfteten Gletscher von dem kolossalen Würfel der Hohen Docke getrennt, auf welche eine Reihe Schneeriesen, der Hohe Gang, die Glocknerin, der Bratschenkopf, das Wiesbachhorn, die Teufelsmühle, der kleine Wiesbach und der Hohe Tönn, durch riesige Gletscher von einander getrennt und auf weißen Firnmeeren stehend, folgten.

Fast eine Stunde saß ich hier, im Anschauen dieses grandiosen Hochgebirgebildes ganz verloren, und horchte auf den Donner der Lawinen, welche sich an den Schneegipfeln und auf den Schneefeldern unter den Strahlen der Sonne loslösten und auf die Gletscher hinunterstürzten. Ich bemerkte nicht, daß sich die Kalkzinnen des Steinernen Meeres und des Watzmanns allmählich mit leichten, grauen Wölkchen umhüllten, und überhörte den Wind, welcher von Minute zu Minute heftiger wurde. Rederer mahnte fortwährend zum Aufbruch. Als ich immer noch keine Anstalt machte, meinen Platz zu verlassen, rief er endlich, ganz verdrießlich werdend, aus:

„Steigen Sie doch die paar Schritte bis zum Kreuz hinan, Sie werden sich dann bald überzeugen, was uns bevorsteht!“

Wir hatten nämlich einige Fuß unter dem Gipfel Halt gemacht, um vor dem Luftzüge auf der Höhe des Joches besser geschützt zu sein. Ich stieg hinauf und sah in den jenseitigen Felsenkessel hinunter. Oben brauste der Wind mit enormer Heftigkeit. Die Aussicht war in eine öde Steinwüste, in ein wildes Trümmermeer. Links sah ich in die obere Hälfte des Rauriserthals. Gegenüber erhob sich ein großes Eisfeld, der Weißenbacher Kees. Rechts von demselben zog der Felsenkamm der Tauernkette, mit weiten Schneefeldern bedeckt, zum Brennkogl hinan. Der ganze Kamm war bereits mit Wolken umhüllt; die Felsenspitze des Ritterkopfes war schon in Nebeln verschwunden und kaum noch erkennbar. Der Wind tobte an den Wänden und Felsenriffen aus dem Rauriser Thal herauf, als wenn er sich gefangen fühlte und einen Ausweg suchte.

„Sehen Sie dort die Scharte rechts am Kamm?“ fragte mich Rederer, mit der Hand mir die Richtung andeutend. „Das ist das Hohe Thor, da müssen wir hinüber. Hätten Sie einen andern Führer, so wäre es das Beste, wieder umzukehren, denn gleich werden Sie die Scharte nicht mehr sehen.“

Jetzt erkannte ich das heranziehende Wetter und begriff die Gefahr. Im Nebel den Weg aus dieser Steinwüste zu finden, war nur so lange ohne Schwierigkeit, als man an der Scharte des Hohen Thors die Richtung erkennen konnte. Noch einige Secunden, und sie war vom Nebel umhüllt. Ich sah Rederer etwas zweifelnd an.

„Glauben Sie bestimmt, mich hinüber zu bringen, Rederer?“ fragte ich.

Der starke, große Mann sah mich mit seinem ruhigen Blick fest an. „Sind Sie müde, Herr?“ fragte er.

„Nicht im mindesten,“ erwiderte ich.

„Dann vorwärts,“ rief er, „ich habe den Weg noch nie verfehlt.“ Und so schnell wie möglich kletterten wir in die Steinwüste hinunter.

Wer nie im Hochgebirge ein Nebelwetter oder einen Schneesturm erlebte, hat von der Heftigkeit und der Schnelligkeit des Eintretens desselben keinen Begriff. In wenigen Minuten ist man so in Nebel eingehüllt, daß man den neben sich Stehenden nicht mehr sieht, ja daß man sogar seine eigene Gestalt kaum erkennen kann. Einer meiner Freunde, der praktische Arzt Dr. Keesbacher in Venedig, gerieth bei dem Uebergang von Murwinkel in das Großarlthal in ein solches Nebelwetter und war gezwungen, eine ganze Stunde lang auf demselben Fleck stehen zu bleiben, weil er bei jedem Schritt in einen Abgrund zu stützen fürchtete, so wenig konnte er die Situation in der nächsten Nähe erkennen. Er wagte ebensowenig sich niederzulegen, weil er nicht wußte, ob er nicht auf einer hohlen Platte stände, welche bei der geringsten Bewegung nachgeben könne. Wenn ich nicht irre, passirte es Herrn v. Simony, dem Saussüre des Dachsteingebirges, bei seiner Ersteigung des Traunsteins, daß er bei einem so plötzlich eintretenden Nebel drei Stunden an ein und derselben Stelle stehen mußte. Wie der Nebel sich verzog, sah er, daß er auf einer über den See hinaushängenden Platte stand, von der die geringste Bewegung ihn in die Tiefe gestürzt hätte. Dergleichen haben wir hier nicht zu fürchten; aber das Verlieren des Weges war fast ebenso gefährlich; denn mit dem Nebelwetter pflegt gewöhnlich eine empfindliche Kälte und in Folge derselben ein Schneefall einzutreten, und das Wetter konnte den ganzen Tag anhalten. Wir befanden uns in einer Meereshöhe von über siebentausend Fuß. Im vergangenen Frühjahr waren, wie ich schon erwähnte, bei diesem Uebergang sieben Menschen umgekommen; ihre Leichen lagen entfernt von einander, da, wo Jeden seine Kräfte verlassen hatten und wo er hingesunken war. Als wir die Tiefe des Felsenkessels erreicht hatten, war der Nebel so dicht geworden, daß wir die nächste Umgebung nicht mehr erkannten. Rederer ging nur einen Schritt vor mir; trotzdem erschien mir seine große, kräftige Gestalt nur in dämmernden Umrissen. Ich faßte den Strick, den er über der Schulter trug, um ganz in seiner Nähe zu bleiben. Der Wind trat immer heftiger auf. Es ist ein ganz eigenthümliches Zischen und Schlagen, mit dem er sich an den Felsenrissen bricht. Der Weg war außerordentlich mühsam und führte fortwährend über Geröll und Felsblöcke, bald hinauf-, bald hinabsteigend. Die Schneestangen, mit denen er bis auf das Hohe Thor bezeichnet ist, waren erst dann sichtbar, wenn wir gerade vor ihnen standen. Rederer schien ihn mit einem gewissen Instinct herauszufühlen. Um uns fortwährend zu vergewissern, daß wir nicht irrten, berührten wir jede Schneestange, an der wir vorbeikamen, mit der Hand. Ich stolperte mehrmals und fühlte an der Berührung mit dem Fuße, daß die Gegenstände, an welche ich stieß, keine Steintrümmer waren. Ich rief Rederer zu, was denn das sei, ob wir auch auf dem richtigen Wege wären?

„Daran fühle ich, daß wir auf dem richtigen Wege sind,“ erwiderte er. „Das sind die Gebeine der hier gefallenen Pferde, welche vor mehr als hundert Jahren umgekommen sind, als noch ein Saumpfad über das Hohe Thor führte.“

In dieser Situation von Gebeinen Verstorbener zu hören, wenn es auch nur Thiere waren, war gerade keine angenehme Neuigkeit. Um mich zu vergewissern, daß dem so war, blieb ich stehen, bückte mich und hob einen Gegenstand auf, an dem ich gerade neuerdings gestolpert war. Ich hielt einen Kinnbackenknochen eines Pferdes in der Hand, in dem noch alle Zähne befindlich waren.

Nachdem wir so ungefähr zwei Stunden fortgeschritten waren, machten wir einen kurzen Halt, ruhten stehend aus und stärkten uns durch einige starke Züge aus der Flasche, welche ich im Tauernhaus mit Wachholderbranntwein hatte füllen lassen. Rederer wiederholte mir mit der größten Bestimmtheit, daß wir auf dem richtigen Wege seien und in einer Stunde auf der Höhe des Hohen Thors stehen müßten. Der Nebel wurde jetzt empfindlich kalt, und der Wind wurde schneidend. So schnell wie möglich stiegen wir weiter hinan, obschon der Weg immer steiler und beschwerlicher wurde. Noch fühlte ich nicht die geringste Müdigkeit. Nun fielen einzelne Schneeflocken und nach wenigen Minuten war aus dem Nebel ein dichtes Schneewetter geworden. In dem scharfen, eisigen Winde krystallisirten sich die einzelnen Schneeflocken zu Eis und berührten das Gesicht in einer höchst empfindlichen Weise. Der Wind schien mit jeder Minute an Heftigkeit zuzunehmen. Dazu wurde das Gehen im Schnee immer schwieriger.

„Jetzt kann ich nicht mehr irren,“ rief Rederer, an einer neuen, auf Steintrümmern befestigten Schneestange ankommend, „die Stange habe ich erst vor vier Wochen hier eingesteckt. Es ist gut, daß uns das Schneewetter nicht eine Stunde früher getroffen hat, sonst wäre es schlimmer gewesen.“

Ich begriff, was er meinte. In dem Schnee konnte er nicht mit dem Fuße fühlen, ob er auf die Knochen der hier gefallenen Pferde trat.

Immer steiler ging es nun hinan, immer schneidender wurde Kälte und Wind; schon an der immer dünner werdenden Luft empfand ich, daß wir zu bedeutender Höhe emporstiegen. Dann hörte ich Rederer vor mir rufen: „Wir stehen auf dem Hohen Thor.“

Ich stieg die zwei Schritt, die ich hinter ihm geblieben war, hinan. Rederer stand neben einem Pfahl, auf dem in einer hölzernen Blende ein Christusbild befestigt war. Das Kreuz, welches früher dort stand, haben die Stürme und Schneewetter zerbrochen und hinunter gestürzt. Es herrschte hier oben eine eisige Temperatur. Das Hohe Thor hat eine Meereshöhe von 8058'. Als ich ganz nahe an das Bild hinantrat, berührte ich mit dem Fuß einen Körper. Ich blickte mich herab, um zu untersuchen, was es war, und erstaunte, als ich eine junge Bäuerin neben der [719] Steinerhöhung, in der der Pfahl befestigt war, ausgestreckt fand. Ich rief Rederer und wir richteten sie auf. Sie athmete, war also nicht todt, sondern nur in dem Zustand der Erschlaffung und Abgespanntheit, welcher dem Tode des Erfrierens vorhergeht. Rederer hielt sie in seinen Armen aufrecht, ich öffnete ihr den Mund und steckte ihr die Oeffnung meiner Feldflasche hinein. Sie schluckte mechanisch, und nach einigen Zügen aus der Flasche öffnete sie die halbgeschlossenen Augen und sah uns verwundert an. Sie war noch unfähig zu sprechen, und gab nur einige unverständliche Laute von sich. Wie wir später von ihr erfuhren, war sie aus dem Rauriser Thal gekommen und wollte über das Hohe Thor nach Heiligenblut, um eine Verwandte zu besuchen. Der Nebel und das Schneewetter hatten sie überrascht; sie war glücklich bis zu der Scharte des Hohen Thors gekommen, war aber dort ganz erschöpft und in einem Zustand der Apathie neben dem Christusbild hingesunken. Wären wir nicht zufällig des Weges gekommen, oder wären, ohne sie zu bemerken, wieder gegangen, so würde sie eingeschlafen und erfroren sein. Ganz an derselben Stelle hatte dies Schicksal im Frühjahr ein junges Mädchen aus der Fusch getroffen. Ihr Begleiter, ein kräftiger, junger Bauernbursche, hatte sich noch eine Stunde weit hinabgeschleppt und war sodann desselben Todes gestorben. Rederer zog seinen dicken Lodenrock aus, und wir hüllten das Mädchen in denselben ein, um sie einigermaßen zu erwärmen. Sie trank noch einmal aus der Flasche und war nach einigen Minuten so weit gestärkt, daß es ihr möglich wurde, von uns Beiden gestützt, die steile Höhe hinabzusteigen. Die Heftigkeit des Wetters hatte während dieser Zeit etwas nachgelassen. Der Wind hatte sich gedreht und zerriß die Nebelmassen, welche das Möllthal einhüllten. So schnell, wie es mit dem Mädchen möglich war, eilten wir abwärts, in der Richtung nach Heiligenblut zu. Nach einer Stunde wurde, des Mädchens wegen, nochmals Halt gemacht und einige Minuten stehend ausgeruht. Sie war jetzt gänzlich wieder zu sich gekommen und bereits im Stande, mit einer geringen Unterstützung allein zu gehen. Ihre Rettung glaubte sie dem wunderthätigen Bilde zu verdanken, in dessen Nähe sie hingesunken war. Noch zwei Stunden Hinabsteigens, und wir sahen die Kirche und das Widdum von Heiligenblut, von hohen, grünen Lärchbäumen umschattet, gerade unter uns liegen.