Heimgegangene (Die Gartenlaube 1858/15)

Textdaten
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Autor: Hermann Marggraff
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Titel: Heimgegangene
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 206–207
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Heimgegangene.
Von Herm. Marggraff.
Friedrich List.


Friedrich List lernt’ ich zuerst im Jahre 1845 im Redactionsbureau der Allgemeinen Zeitung kennen, und zwar im Redactionszimmer des verstorbenen Mebold, eines der wackersten, tüchtigsten und dabei anspruchlosesten Männer, denen ich auf meinem Lebenswege begegnet bin. Als ich mich beiden Männern (List las in einer Zeitung, und Mebold schrieb an seinem französischen Artikel) so plötzlich gegenübersah, bedünkte es mich fast, wenn dieser Vergleich erlaubt ist, als sei ich in einen Löwenzwinger getreten; denn beide breitschulterige und breitantlitzige Männer hatten wirklich etwas in ihrer äußeren Erscheinung, was im Gegensatz zu der mehr leichtgliederigen Generation unserer Tage an die breitmassige Complexion des Löwen erinnern konnte. Dabei aber waren beide Männer die gutmüthigsten Naturen, die gewiß keinem Kinde etwas zu Leide gethan hatten. Bodenstedt, der im Jahre 1852 im „Deutschen Museum“ Erinnerungen an Friedrich List veröffentlichte, nennt ihn von „markiger Gestalt“ und „ausdrucksvollem, offenen, aller Verstellung unfähigem Gesicht.“ Und so war es auch.

Auf einem gemeinsamen Ausflug nach Donauwörth, in Gesellschaft Mebold’s und Levin Schücking’s, lernte ich dann List näher kennen; ich erinnere mich jedoch nur, daß seine Unterhaltung, ohne besonders zusammenhängend und fließend zu sein, doch belebend und belehrend war. Wenn es mir damals geahnt hätte, daß es mir je in den Sinn kommen würde, etwas über List zu schreiben, so würde ich mehr davon meinem Gedächtniß einzuprägen gesucht haben. Ich erinnere mich nur, daß List, als die Rede auf Leipzig kam, in Feuer und Flamme gerieth; er mochte Leipzig nicht leiden; er wähnte, hier unbillig und undankbar behandelt worden zu sein. Sonst war List ein sehr human gesinnter, nachsichtiger Mann, und selten oder nie habe ich über Personen aus seinem Munde ein hartes, absprechendes Urtheil gehört. Im Jahre 1846, vor seiner letzten Reise nach Baden, kam ich häufiger mit ihm zusammen, theils an gewissen Wochentagen beim Nachmittagskaffee in einem öffentlichen Local außerhalb der Stadt, theils in seiner, theils in meiner Wohnung. So rastlos thätig war der Mann, so wenig ließ es ihm im Bett Ruhe, daß er mich oft schon früh um fünf Uhr zu einem Spaziergange abholte, oder mich bat, ihn wegen einer Papierbestellung zu einem vor dem Thore wohnenden Papiermüller zu begleiten, der dann ebenfalls zu seiner nicht geringen Ueberraschung aus den Federn aufgestört wurde. Was ihn damals besonders beschäftigte, war der Plan, eine Nationalbuchhandlung zu begründen, die den Zweck haben sollte, die dafür thätigen Schriftsteller von den Buchhändlern unabhängig zu stellen und ihnen einen größeren Antheil am Gewinne zu sichern, als dies bei ihrer jetzigen Abhängigkeit von dem guten Willen und den Interessen der Verleger möglich ist. Die zu verlegenden Bücher sollten zu einem möglichst niedrigen Preise debitirt werden; doch dachte er dabei wohl zunächst nicht an Werke eigentlich literarischen Inhalts, sondern an populär-wissenschaftliche Schriften und überhaupt an solche, welche einer weiten Verbreitung im Volke fähig sind. Diesen Plan, bei dessen Ausführung er besonders auf meine Mitwirkung rechnete, besprach er wiederholt auf unsern Morgenspaziergängen mit größter Lebhaftigkeit. List hatte immer großartige Projecte im Kopfe und dachte sich, seiner sanguischen Natur gemäß, ihre Ausführung immer leichter, als sie war. Bei seinem Papierlieferanten hatte er ja Credit; Papier für den Druck war also da, und das Uebrige, meinte er, werde sich finden.

Als List im Sommer 1846 nach London reiste, um dort für gewisse nationalökonomische Pläne zu wirken und zu diesem Zweck mit Männern der Regierung zu verkehren, vertraute er mir, der sich bis dahin mit nationalökonomischen Fragen nur sehr wenig beschäftigt hatte, die interimistische Leitung seines „Deutschen Zollvereinsblattes“ an. List dachte niemals kleinlich; er wußte zwar, daß ich mich auf ganz andern Gebieten bewegt hatte; aber er war der Ansicht, daß ein sonst verständiger Mann, der Gewandtheit und einen offenen Blick besitze, fähig sein müsse, sich auch auf jedem ihm noch so fern liegenden Gebiete zurechtzufinden. Auch brauchte ich meine Thätigkeit nur auf die Ueberwachung des Blattes, auf Uebersetzungen aus auswärtigen Blättern, namentlich parlamentarischer Verhandlungen, und auf Herbeischaffung der nöthigen thatsächlichen Notizen zu beschränken. Dies konnte ich Wohl thun, ohne gegen mein mehr freihändlerisches Gewissen zu. verstoßen. Das Uebrige lieferte List von London aus. Interessant war es mir dabei, zu erfahren, wie List mit den Zahlen umsprang. Er rechnete immer nur nach 1/4, 1/3, 1/2, 3/4 Million; auf eine Ziffer von 10,000 oder 50,000 und selbst 100,000 mehr oder weniger kam es ihm dabei nicht an. So wirtschaftete er immer im großartigen Style.

Aus der Zeit seines Londoner Aufenthalts besitze ich von List noch mehrere, auf schmale Papierstreifen hingeworfene Briefe. Indem ich sie jedoch durchfliege, finde ich darin nichts, was für das große Publicum von Interesse sein könnte. Sie enthalten nur Fragen und Instructionen, die sich auf den geschäftlichen Theil der Redaction beziehen. Ich begegne aber auch darunter einem Blatt mit Reimversen, und es möchte manchem Leser neu und unerwartet sein, in Erfahrung zu bringen, daß List auch Verse gemacht habe. Sie sind freilich nur die Uebersetzung eines satirischen Gedichts, welches im „Punch“ nach dem Sturze des Peel’schen Ministeriums erschienen war. Hier nur eine Probe, die vielleicht auch jetzt noch deshalb von Interesse ist, weil die Namen Disraeli’s, der eben wieder zur Macht gelangt ist, und Lord John Russel’s, dessen Zeit vielleicht bald wieder kommen dürfte, darin figuriren. Die Stelle lautet:

Wer hat ihm (Peel) den Genickfang[1] versetzt?
„Ich,“ schreit Ben Isaak, „ich hab’ ihn zu Tode gehetzt;
Denn an dem Gallimathias, den ich gesprochen,
Ist ihm zuletzt das Herz gebrochen.“

(Herr Disraeli ist hier dargestellt, wie er auf’s Heftigste im Parlament gegen Peel declamirt.)

Wer aber nun setzt sich in die Stelle sein?
„Ich,“ schreit Lord John, „ich will hinein!“
Das will wohlverstanden eigentlich sagen:
„Säß’ ich nur erst fest drin, säß’ ich mit Behagen.“

(Abbildung, wie Lord John Rüssel von der Königin Audienz erhält.)

Schaut ’mal her, ihr Leut’, und seht,
Wie dem Lord John die neue Stelle steht.
Und wer kann bei dem Allem das Lachen noch halten?
„Ich!“ schreit der Punch u. s. w.

Schon vor seiner Abreise wollten diejenigen, die List schon von früher her kannten, eine auffallende Hast, Unruhe und in manchen Augenblicken eine gewisse Heiterkeit, die keine natürliche und gesunde zu sein schien, an ihm wahrgenommen haben. Nach seiner Rückkehr von London war eine Aenderung in seinem Wesen vorgegangen, die noch bedenklicher erschien. Nicht daß sich seine äußere und innere Unruhe gelegt hätte; aber Fragen und Angelegenheiten, die ihn sonst in Feuer und Leidenschaft zu versetzen pflegten, ließen ihn jetzt gleichmüthig; er war in gänzlich abgeschlagener und deprimirter Stimmung und in sich gebrochen. Seine Denkschriften und Vorstellungen waren, wie früher in Preußen, so nun auch in London ohne Erfolg geblieben. Der Absatz und der abnehmende Einfluß seines Blattes und die häufiger werdenden Angriffe auf sein System mochten ihm zeigen, daß, trotz der größeren Verbreitung seiner Methode in der Behandlung nationalökonomischer Fragen, seine Grundsätze an Terrain eher verloren als gewannen. Ernstliche Befürchtungen wegen der dauernden Existenz seines Blattes mochten in ihm aufsteigen. Er blickte rückwärts auf eine Reihe verfehlter Pläne und Projecte und vorwärts auf eine hoffnungslose Oede. Das Schicksal seiner Familie fing an, ihn zu bekümmern. Zwar hatten die süddeutschen Fabrikanten für ihn eine nach deutschen Verhältnissen nicht unansehnliche Summe aufgebracht, welche deponirt wurde; aber auch mit ihnen hatte es heftige Debatten gegeben, die ihn schon früher in eine exaltirte Stimmung versetzt hatten. Es war im Grunde eine nur kärgliche Abfindung für geleistete Dienste und Opfer, aber in Deutschland verbindet sich leider mit solchen Remunerationen für den Empfangenden von selbst ein drückendes Gefühl der Abhängigkeit.

Bei meinen Besuchen fand ich List oft noch um die Mittagszeit [207] im Bett, hochroth im Gesicht und unter der leichten Decke unruhig sich hin- und herwälzend. Er klagte über beängstigenden Blutandrang nach dem Kopfe. Die Angelegenheiten seines Blattes schienen ihn fortan wenig zu kümmern. Eingehenden Gesprächen über seinen Aufenthalt in London wich er aus. In diesen Tagen war es, wo ihn die schreckliche Vorstellung zu peinigen anfing, daß er wahnsinnig werden könne. „Lieber zehn Mal das Leben, als den Verstand verlieren,“ äußerte er. Noch am Tage vor seiner letzten Reise suchte er mich in meiner Wohnung auf, traf mich aber nicht und hinterließ mir nur, daß er im Begriff sei, eine Reise zu machen, zuvörderst nach München; wohin sie ihn weiter führen werde, wisse er selbst nicht.

Man weiß das Uebrige: List kehrte von dieser Reise nicht wieder nach Augsburg zurück. Sein tragischer Ausgang durch einen selbstmörderischen Pistolenschuß und Nicolaus Lenau’s Irrsinn waren ein schwerer Schlag für die in mancherlei oberflächlichen Illusionen sich wiegende höhere Gesellschaft und die solide Classe. Bisher hatte man in Deutschland solche traurige Lebensausgänge fast nur an solchen Männern der Oeffentlichkeit erlebt, welche nicht, wie Nicolaus Lenau, Angehörige und Lieblinge der Gesellschaft und nicht, wie List, praktische und solide Männer, sondern excentrische oder verlüderte Genies gewesen waren. Hätte List bis zum Jahre 1848 gewartet, so würden wir ihn ohne Zweifel in Frankfurt und in der Paulskirche thätig gesehen haben; die Enttäuschungen, denen er auch hier nicht entgangen wäre, hat er sich selbst erspart.

List’s Benehmen war äußerst gerade und einfach, fast amerikanisch unceremoniös. Bodenstedt erzählt, daß List eines Tages in die Gemächer des Fürsten von Oettingen-Wallerstein eingedrungen sei, ohne die Anmeldung durch den Portier abzuwarten und seine brennende Cigarre aus dem Munde zu thun. List habe sich dann lachend gegen den Fürsten über Bodenstedt beschwert, daß dieser seine Cigarre aus Artigkeit weggeworfen habe. Der Fürst benahm sich natürlich als grand seigneur, bot dem Begleiter List’s eine feine Cigarre an und ließ nicht eher nach, als bis Bodenstedt sie angenommen. Ich erinnere mich nicht mehr, ob es bei dieser Gelegenheit war, wo auf einen Dichter der neueren Schule die Rede kam, der sich im Widerspruch zu den in seinen früheren Poesieen ausgesprochenen Ansichten in einen geschmeidigen Hofmann verwandelt hatte, und List davon Anlaß nahm, den Satz durchzuführen, daß die Poeten von Alters her immer einen Herrn brauchten, „dem sie wie ein Hündchen aufwarten müßten.“ List setzte diese seine Ansicht an Beispielen von Horaz und den Troubadours bis zu den Dichtern in Weimar auseinander. Mit unserer Zeit würde List auch den Triumph erlebt haben, eine Reihe schlagender Beispiele zur Erhärtung seiner Ansicht aus der nächsten Gegenwart entnehmen zu können. Doch ihm ist wohl, und es ist ihm vielleicht nicht so ganz übel zu nehmen, daß er es verschmähte, mit uns weiter zu leben.




  1. List schreibt „Knikfang.“