Hat er Talent?
[596] Hat er Talent? (Zu dem Bilde S. 585.) Hat er Talent ... oder
gehört er zu jenen Unglücklichen, welche durch falschen Trieb und allzu
eifrige Familienbewunderung auf den Irrweg der Kunst verlockt werden,
um dann statt der geträumten glänzenden Laufbahn Noth und Bitterkeit
einer verfehlteu Existenz zu finden? Wir wollen das nicht hoffen. Zwar
die Mutter im Trauerkleid, deren leidgewohnte Züge die Spuren früherer
Schönheit zeigen sie wird nicht unparteiischer als andere Witwen über
ihren „Einzigen“ urtheilen. Aber sie sieht aus wie eine verständige Frau,
und deshalb hängen ihre Augen voll Spannung an dem Gesicht des Meisters,
der mit gewissenhafter Sorgfalt die vorgelegten Blätter prüft. Sein
bescheidenes Atelier vermöchte sie wohl zu belehren, wie es mit dem durch
Kunst zu erwerbenden Reichthum oft genug aussieht, aber soweit denkt
sie nicht, für sie handelt es sich jetzt einzig darum, ob ihr geliebter August
seinen Herzenswunsch verwirklichen, ob sie sorgen und entbehren darf, um
dies möglich zu machen? Sehr künstlerisch veranlagt sieht er allerdings
nicht aus, der frische Junge mit den der Mutter so ähnlichen Zügen,
wie er in bescheidenem Selbstgefühl die Wirkung seines jüngsten und
besten Werkes, das die gesamte Hausgenossenschaft hoch bewundert hat,
auf den Künstler erwartet. Es ist die Kopie nach einem Kupferstich, etwas
Hervorragendes, wie August im stillen denkt – aber der sie in der Hand
hält, bleibt lange, lange still. Endlich richtet er den Kopf in die Höhe
und sagt: „Mein lieber Junge, das ist alles brav und ordentlich gemacht.
Aber zur Kunst, zur wirklichen und echten, gehört noch weit mehr. Da
darf einer nicht erst fragen: habe ich Talent? Da muß er gewiß wissen,
daß er gar nicht anders könne, als fortwährend zeichnen, den ganzen
Tag, und daß er steinunglücklich wäre, wenn er’s nicht dürfte. Und was
er macht, muß anders aussehen als Dein zahmer Jüngling hier, selbst
wenn es viel weniger geschickt aufgefaßt wäre. Du hast Talent, mein
Junge – zum Sonntagsnachmittags-Zeichnen. Dabei bleibe, und im
übrigen ergreife einen Beruf, der Dich ernährt und die Sorgen Deiner
Mutter vermindert, statt sie ins Ungemessene zu vermehren! Viel besser
ein einfacher Handwerker als ein mißrathener Künstler. Das sagt Dir einer,
der schon viele am Talent-Wahn hinsiechen und zuletzt traurig untergehen
sah.“ Ob wohl Mutter und Sohn diesen bitter klingenden, aber guten
Rath beherzigen werden? Bn.