Hans von Bülow und Anton Rubinstein
[275] Hans von Bülow und Anton Rubinstein. In den geistreichen Studien über Musik, welche Heinrich Ehrlich unter dem Titel „Aus allen Tonarten“ (Berlin, Brachvogel u. Ranft) veröffentlicht hat und in denen biographische Studien, humoristische Artikel, ästhetische Aufsätze sich ablösen, alle mit Kenntniß und treffender Schärfe abgefaßt, findet sich auch ein Vergleich zwischen den beiden genialsten Klavierspielern der Gegenwart. Rubinstein wird als ein echtes Kind der russischen Gesellschaft bezeichnet, Bülow als ein richtiger deutscher hyperidealistischer Künstler. Dieser, aus altadeliger Familie, hatte sich zuerst juristischen Studien gewidmet; Leidenschaft für Musik, glühende Verehrung Wagners bestimmten den Zwanzigjährigen, seine ausgezeichnete musikalische Begabung zum Lebensberufe auszubilden; mit eisernem Fleiße, mit unvergleichlicher Energie und Ausdauer erklomm er die Höhen einer in ihrer Art einzigen Meisterschaft. Seine Wiedergabe der letzten fünf Sonaten Beethovens, die er fast ohne Unterbrechung nach einander aus dem Gedächtnisse zu Gehör brachte, war nicht allein, wie die Beethoven-Abende Rubinsteins, eine erfreuliche Kraftäußerung mit einigen glänzenden Momenten, mit Wetterleuchten des Genies, sondern eine ganze hochkünstlerische Wiedergabe, eine wahrhafte Entsiegelung dieser sibyllinischen Bücher. Rubinstein, der Sohn sehr einfacher israelitischer moldauischer Bürgersleute, war schon als neunjähriges Wunderkind in Europa berühmt; fast mühelos wandelte er den Weg zur Meisterschaft; denn die Natur hat ihn mit den reichsten Gaben nach allen Richtungen hin ausgestattet, und trotz der Ungleichheiten in seinem Vortrage hat er die Bewunderung, ja das Entzücken selbst der strengeren Beurtheiler erregt, schon wegen des herrlichen, vollen, aller Färbungen fähigen Anschlags, des dämonischen Feuers, des Schwunges der Auffassung.
Bülow hat bekanntlich oft genug von sich sprechen gemacht durch seine Rücksichtslosigkeiten und oft sehr frappanten beißenden Bemerkungen, mit denen er gelegentlich selbst das Publikum seiner Konzerte nicht verschonte. Auch sein Kokettiren mit den Tschechen in Prag hat ihm geschadet. Ehrlich nimmt ihn in Schutz; er hebt, vielleicht im Hinblick auf diese Prager Vorgänge, mit besonderem Nachdruck hervor: Bülow ist ein Deutscher, ein schrullenhafter, aus allen Gleisen fahrender, manchmal bis zur Thorheit querköpfiger, aber echter Deutscher. Persönlichkeiten wie er können sich nur in Deutschland entwickeln. Bülow hat um seiner Interessen willen fast nie jemand angegriffen; doch wenn einer, den er hoch ehrte, nach seiner Ansicht nicht laut genug anerkannt oder gar beleidigt wurde, da schlug er um sich, ohne Rücksicht auf Recht oder Unrecht.
Wir bringen hier noch auszugsweise den Schluß der interessanten Parallele. „Das Verhalten Bülows und Rubinsteins bei ihrem öffentlichen Auftreten erschien mir immer wie ein psychologisches Räthsel. Rubinstein, der fast ohne künstlerische Vorbereitung spielt und sich ganz den momentanen Neigungen überläßt, sieht aus wie ein ganz in Musik Versunkener; nicht bloß das Auge der Frauen betrachtet diesen merkwürdigen Kopf und die poetisch ausdrucksvollen Züge mit Interesse; er behandelt manchmal die weihevollsten Werke der Tonkunst willkürlich unpoetisch, sieht aber begeistert aus. Bülow dagegen, der immer ganz ernsthaft mit weihevoller Sammlung an die Lösung seiner Aufgabe geht, blickt manchmal um sich und hinab ins Publikum, als dächte er gar nicht an die Musik und wollte mit irgend jemand Streit beginnen. Rubinstein ist ein vielseitiger, genialer, allgemein gefeierter Künstler; das große Publikum erträgt seine Fehler gern, selbst wo dieselben den wichtigsten höchsten Kunstgesetzen widersprechen, will sie gar nicht erörtert wissen. Bülow ist eine nicht so reiche, aber durchaus geistvolle tiefe Künstlernatur; alle seine Fehler sind die eines Mannes, der persönliche Beliebtheit nicht anstreben kann; wie hochkünstlerisch müssen nun seine Leistungen sein, auf welch künstlerisch sittlichem Boden müssen sie stehen, daß man seine Fehler ganz übersieht.“
Es bleibt erfreulich, daß auch nach dem Tode des großen Meisters Liszt noch zwei bedeutende Klavierspieler im Stande sind, die Begeisterung des Publikums für ihre Kunst und auch für das von Richard Wagner so gering geachtete Klavier wach zu halten. Auch fehlt es nicht an anderen gediegenen ältern Meistern und hochstrebenden Jüngern, welche diesem so leicht in die flache Alltagsdudelei versinkenden, so oft mißhandelten Instrument die höhere Weihe sichern.