Handwerk und Kleingewerbe

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Autor: Julius Pierstorff
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Titel: Handwerk und Kleingewerbe
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Zweiter Band: Die Aufgaben der Politik, Zwölftes Hauptstück: Urproduktion und Gewerbebetriebe, 62. Abschnitt, S. 420−425
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[420]
62. Abschnitt.


Handwerk und Kleingewerbe.
Von
Geh. Hofrat Dr. Julius Pierstorff,
o. Professor der Staatswissenschaften an der Universität Jena.


Literatur: Bearbeiten

Wernicke, J.: Kapitalismus und Mittelstandspolitik. Jena 1907.
Derselbe: Der Mittelstand und seine wirtschaftliche Lage. Leipzig 1909.
Pierstorff, Julius: Der moderne Mittelstand. Leipzig und Dresden 1911.
Sering: Die Verteilung des Grundbesitzes und die Abwanderung vom Lande. Berlin 1910.

Der Mittelstand und seine wirtschaftlichen und sozialen Interessen sind in Deutschland und einigen anderen Ländern des europäischen Kontinents nach Ablauf der liberalen Aera mehr als früher in den Vordergrund gerückt worden. Die Verschwommenheit und Dehnbarkeit des Begriffs, welche dabei hervortraten, machen vor allem eine klare Begriffsbestimmung erforderlich.

Zweifellos wird die Zugehörigkeit zum M. zunächst durch den Bezug eines Einkommens mittlerer Höhe bedingt unter Ausschluss der ganz grossen und ganz kleinen Einkommensklassen. Aber abgesehen von der Schwierigkeit einer festen Abgrenzung des mittleren Einkommens wird diese mechanische Bestimmung allein dem Standesbegriff nicht gerecht. Für diesen kommt ausserdem die Eigenart der wirtschaftlichen und sozialen Stellung in Betracht. Meistens fasst man in dem Begriff Mittelstand alle diejenigen Elemente zusammen, welche, gestützt auf eigenes Vermögen mittleren oder kleineren Umfanges, einen gelernten Erwerbsberuf in äusserlich selbständiger Stellung und in der Regel unter persönlicher Arbeitsbetätigung ausüben. Danach gehören zum Mittelstande: Bauern, Handwerker und andere selbständige Kleingewerbetreibende, mittlere und kleine Kaufleute und Händler, Privatbankiers mit lokalem Geschäftsbetrieb, Gast- und Schankwirte, auch wohl Kommissionäre und Agenten usw., Bisweilen wird ihm auch die Masse der Aerzte, Rechtsanwälte, Künstler usw. zugezählt. Nachdem in neuester Zeit die wachsende Ausdehnung der Staats- und Kommunalverwaltung sowie der Staats- und Kommunalbetriebe die Zahl der öffentlichen Beamten und die zunehmenden Konzentration des Industrie-, Handels- und Verkehrsbetriebes, die Zahl der Privatangestellten immer mehr hat anschwellen lassen, ist es Brauch geworden, die Masse der öffentlichen und privaten Beamten und Angestellten mit mittlerem Einkommen und in nicht leitenden Stellungen als neuen Mittelstand dem vorhin charakterisierten, an die Zustände früherer Jahrhunderte unmittelbar anknüpfenden Mittelstand, als dem älteren, gegenüber oder zur Seite zu stellen. Neuerdings endlich pflegt die sogenannte Mittelstandsbewegung den Begriff des Mittelstandes sogar auf den vorwiegend städtischen Kreis der Handwerker und Kleingewerbetreibenden und den mit mittlerem und kleinem Kapital betriebenen Detailhandel zu beschränken, eine Begriffsbeschränkung, die wissenschaftlich nicht gerechtfertigt werden kann. Das Vorhandensein eines numerisch starken Mittelstandes und einer mannigfachen Abstufung innerhalb desselben pflegt man sozial besonders hoch zu bewerten, weil er ein Hindernis darstellt für die Herausbildung eines schroffen und unvermittelten Gegensatzes zwischen Reichtum und Armut, zwischen einer Vermögensherrschaft weniger und einer proletarischen, weil ganz auf prekäres Lohneinkommen angewiesenen und darum wirtschaftlich und sozial abhängigen Volksmasse. Zugleich erblickt man in ihm ein Mittel, das bei Garantierung wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit dem Einzelnen ermöglicht, auf der sozialen Stufenleiter durch eigene Kraft emporzusteigen und dadurch den ganzen Gesellschaftskörper gesund zu erhalten. Nach dieser Anschauung erfüllt solche Aufgabe nur der sogenannte alte Mittelstand, weil nur in ihm Besitz und Arbeit innig verschmolzen und damit die notwendige Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Einzelnen gesichert erscheinen.

[421] Das eigentliche Fundament und den wichtigsten Bestandteil dieses Mittelstandes bildet der Bauernstand. Er entspricht auch dem altmittelständischem Ideal am vollkommensten, doch ist der von der Gutsuntertänigkeit befreite, wirtschaftlich ganz auf sich selbst gestellte Bauer in Zentraleuropa in der Hauptsache erst eine Schöpfung der grossen Agrarreformen des 19. und teilweise des 18. Jahrhunderts. Der Bauernwirtschaft, welcher bei uns, allgemein gesprochen, die Betriebe zwischen 2 und 100 ha zuzurechenen sind, gehören etwa 70% der landwirtschaftlich genutzten Fläche an, so dass sie durchaus den Schwerpunkt der deutschen Agrarverfassung bildet. Von jenen 70% entfallen je 10% auf die kleinbäuerlichen und je 30% auf die mittel- und die grossbäuerliche Wirtschaft, während weitere 25% dem Grossgrundbesitz zufallen und 5–6% der Parzellenwirtschaft. Dabei ist nicht ausser Acht zu lassen, dass je nach dem Intensitätsgrade des Landwirtschaftsbetriebes, wie nach klimatischen und Bodenverhältnissen der Umfang der einen bäuerlichen Betrieb bedingenden Bodenflächen, ferner auch das Mischungsverhältniss der Besitz- und Betriebsklassen in den verschiedenen Gegenden sich verschieden gestalten.

Wenn sich der Bauernstand in dem Umfange, in welchem er aus den grossen Agrarreformen hervorgegangen ist, trotz aller Verschiebungen im einzelnen, im allgemeinen bis zum heutigen Tage behauptet hat, so liegt die tiefere Ursache dieser Erscheinung im inneren Wesen der landwirtschaftlichen Produktion. Hier besitzt der Grossbetrieb keine solche spezifische Überlegenheit gegenüber dem kleinem Betriebe, wie es auf weiten Gebieten der Industrie und des Handels der Fall ist. Ein etwaiges Übergewicht des Grossbetriebes im Körnerbau wird aufgewogen durch die grösseren Erfolge des bäuerlichen Betriebes in der Viehzucht, für die er günstigere Bedingungen bietet. Je kleiner die Betriebe, desto stärker – vom Parzellenbetriebe abgesehen – die Viehhaltung. Überdies nimmt bei zunehmender Flächengrösse von einem gewissen Punkte an die Wirtschaftlichkeit des Einzelbetriebes überhaupt ab. Vor allem aber schliesst der Landwirtschaftsbetrieb eine Absatzkonkurrenz solcher Art aus, wie sie Gewerbe und Handel beherrscht. Da dort der Einzelbetrieb nur innerhalb der bewirtschafteten Bodenfläche die Möglichkeit gesteigerter Produktion in sich birgt, vermag keiner den anderen durch Über- bezw. Unterbietung in seiner Existenz zu bedrohen, indem er etwa ihm den Absatz entzieht und ihn mit seinen Betriebsmitteln lahmlegt. Unter diesen Umständen gereicht die bessere Schul- und Fachbildung, welche man der bäuerlichen Bevölkerung in wachsendem Masse angedeihen lässt, ihr zum besonderen Vorteil, indem sie ihr ermöglicht, ihre gesicherte wirtschaftliche Lage produktiv wirksamer auszunutzen. Zugleich brachte die grossartige Entwickelung des Genossenschaftswesens, seitdem es Raiffeisen gelungen war, es der Eigenart der ländlichen Verhältnisse besser anzupassen, dem bäuerlichen Betriebe eine gewaltige Stärkung. Im Vordergrunde steht das grossartige Netz von Spar- und Kreditvereinen, welche nicht nur dem Bauern den erforderlichen Personalkredit vermitteln, sondern auch dem Lande seine eigenen Kapitalien erhalten und andere zuführen. Dazu kommen die rapid sich verbreitenden Einkaufs- und Berufsgenossenschaften für gemeinsame, daher billigere und gegen Betrug Schutz gewährende Beschaffung von Dünger- und Futtermitteln, Saatgut, Maschinen und sonstige Betriebsmittel. Für die Bildung derartiger Genossenschaften bietet der Bauernstand einen ganz besonders günstigen Boden, da sein Bedarf kein individualisierter, sondern gleichmässiger Massenbedarf ist und seine Mitglieder eben eine geschäftliche Konkurrenz im üblichen Sinn nicht kennen, die ihrer Natur nach Genossenschaftsbildung letzterer Art zum mindesten erschwert, ja weithin ganz unmöglich macht. In anderer Richtung brachten die Genossenschaftsmolkereien einen bedeutenden Aufschwung, von denen es im Jahre 1909 nicht weniger als 3271 gab. Als Produktivgenossenschaften nur partiellen Charakters nehmen sie dem einzelnen landwirtschaftlichen Betriebe nicht die Selbständigkeit und verletzen kein anderes Mittelstandsinteresse; nur als Verwertungs- und Absatzstellen beschränken sie den selbständigen Handel ebenso wie es die Einkaufsgenossenschaften tun. In gleicher Richtung wirken Verwertungsgenossenschaften anderer Art, wie die Kornhäuser, Viehverwertungsgenossenschaften, Viehzentralen usw. Doch sind bei ihnen Wirksamkeit und Erfolge problematischer.

Die Erhaltung und möglichste Vermehrung des Bauernstandes bildet in der Regel, jedenfalls für Deutschland angesichts der zu grossen Ausdehnung des Grossgrundbesitzes im Osten, ein hervorragendes nationalwirtschaftliches Interesse. Denn Vorherrschaft des Grossgrundbesitzes entvölkert [422] das Land, während Vorherrschaft des Parzellenbetriebes die ländliche Bevölkerung verkümmern lässt. Bauerntum, insbesondere Mittel- und Kleinbauerntum, bewirkt dagegen nicht nur intensivere Bodenkultur und erleichtert die Lösung der schwierigen ländlichen Arbeiterfrage, sondern bietet auch dem Gewerbe und Handel in den Städten günstige Entwickelungsmöglichkeiten. Aus solchen Gründen ist eine kräftige und nachhaltige innere Kolonisation in den Gebieten vorherrschenden Grossgrundbesitzes, im Osten, geradezu eine Lebensfrage für Deutschland. Doch kann sie nur durch tiefgreifende Mitwirkung des Staates ausreichende Erfolge erzielen. Denn dieselben aus der Natur des landwirtschaftlichen Betriebes fliessenden Ursachen, welche dem Bauernstande die Selbstbehauptung erleichtern, erschweren ihm die selbsttätige Ausbreitung.

Ganz anders wie in der Landwirtschaft liegen die Verhältnisse im Gewerbe und Handel wegen der völlig abweichenden Natur ihrer wirtschaftlichen Grundlagen.

Auf dem Gebiete des Gewerbewesens führten im Lauf des 19. Jahrhunderts die Entwicklung des Maschinenwesens, auch der technischen Chemie und andere produktionstechnische Neuerungen, im Zusammenhange mit dem Aufkommen der Eisenbahnen und der Dampfschiffahrt eine völlige Revolution der Produktions- und Absatzverhältnisse herbei. Es entwickelte sich die moderne Grossindustrie mit weitgehender Arbeitsteilung, Maschinenverwendung und Spezialisierung mit Massenfabrikation, Betriebskonzentration und Fernabsatz. Hand in Hand damit ging die zunehmende Konzentration der Bevölkerung, vornehmlich in den Städten, Erweiterung und Durchbrechung der Lokalmärkte.

Wurden auf diese Weise der überlieferte, auf Lokalabsatz und Kundenproduktion basierte Handwerksbetrieb und die handwerksmässig betriebene Verlagsindustrie in ihren Grundlagen erschüttert und in wachsendem Umfange zurückgedrängt, so ging doch diese Umwälzung nicht so weit, das gesamte Handwerk zu vernichten. Vielmehr ist Grad und Art, in denen die einzelnen Berufs- und Produktionszweige von ihr berührt wurden, ausserordentlich verschieden. Während einige Zweige ganz verdrängt wurden oder im Begriffe stehen verdrängt zu werden, – bisweilen sogar nur durch Bedarfsänderungen – erfuhren andere nur eine Schmälerung oder Wandlung ihres Arbeitsgebietes. In manchen Zweigen auch geriet das Handwerk, namentlich in den Grossstädten, in Abhängigkeit vom Handel und vom Magazin, ohne dass dies überall durch die Produktionstechnik bedingt gewesen wäre. Andererseits hat es sich weithin in Konkurrenz mit der Grossindustrie und dem Magazin behauptet und in Qualitätsarbeit Ersatz gefunden oder sieh einem ihm verwandten Handelsbetrieb angegliedert, dem oft die Reparaturarbeiten eine starke Stütze bieten. Schliesslich hat es in den mittleren und kleineren Städten, sowie auf dem Lande, viel von dem wieder gewonnen, was es in den Grossstädten verlor.

Allen diesen Verlusten und Verschiebungen steht aber vor allem die Tatsache gegenüber, dass eine grosse Reihe wichtiger und bedeutender Handwerkszweige von den Wandlungen der modernen Zeit gar nicht oder nur unwesentlich berührt wurden, viele von ihnen infolge des Bevölkerungswachstums und des gestiegenen Wohlstandes sogar ausserordentlich emporgeblüht sind. Zu diesen Zweigen gehören die Nahrungsmittelgewerbe, insbesondere Fleischerei und Bäckerei, die Mehrzahl der Baugewerbe, die Ausrüstungs- und Wohnungsausstattungsgewerbe, die Buchdruckereien. Ausserdem sind ganz neue mittelständische Gewerbszweige entstanden, auf Grund neuen Bedarfs und neuer Technik, z. B. das Photographengewerbe, Installationsgewerbe usw. Einen allgemeinen Rückgang und eine allgemeine Notlage des Handwerks und des Kleingewerbes besteht sonach nicht. Produktionsverschiebungen aber hat es zu allen Zeiten gegeben, wenn auch keine der früheren an diese neueste der Grösse und dem Umfange nach heranreichten.

Da eine Rückbildung oder auch nur eine Sistierung des durch die moderne Technik der Produktion und des Verkehrs bedingten Umwandlungsprozesses ausgeschlossen ist, kann die Aufgabe einer gesunden Mittelstandspolitik auf dem Gebiete des Handwerks und des Kleingewerbes nur sein, die Anpassung an die veränderten Verhältnisse zu erleichtern und zu befördern. Dies ist weniger durch eine Belebung des Innungswesens, als durch staatliche und kommunale Ausbildung des Fortbildungs- und Fachschulwesens, das ja zugleich dem gesamten Gewerbewesen zugut kommt. Dabei ist mehr als sonst, das Augenmerk auf eine kaufmännische Schulung zu richten, weil technisches Können nur in Verbindung mit der nötigen geschäftlichen Umsicht dem Handwerk [423] und Kleingewerbe, wenn sonst die Bedingungen lebensfähiger Forschung für sie erfüllt sind, zu erfolgreicher Selbstbehauptung befähigt angesichts der höheren Anforderungen, welche die Gegenwart an die Geschäftstüchtigkeit stellt. Eine weitere Stütze bietet ein entwickeltes Genossenschaftswesen. Doch besitzen hier nur die Kreditgenossenschaften grössere und allgemeine Bedeutung, während den übrigen Genossenschaftsarten auf dem gewerblichen Gebiete im Unterschied vom landwirtschaftlichen, aus Ursachen, welche in der Natur der gewerblichen Produktion liegen, nur eine ganz beschränkte und nebensächliche Bedeutung zukommt, was durch die geringen äusseren Erfolge belegt wird.

Dem Zuge der gesamten gewerblichen Entwicklung entsprechend zeigen die meisten Handwerksbetriebe eine Tendenz zur Vergrösserung, indem die Zahl der Alleinbetriebe abnimmt, die Zahl der Gehilfenbetriebe, wie ihr Einzelumfang, wächst. Wie das ein Beweis innerer Kräftigung ist, so ist es zugleich ein Zeichen dafür, dass die Entwicklung sich von dem überlieferten mittelständischen Ideal langsam entfernt, wonach den Hilfskräften die spätere Selbständigkeit allgemein erreichbar sein soll.

Das dritte Hauptglied des alten Mittelstandes bilden die Kreise der mittleren und kleinen Kaufleute und Händler im Kleinhandel, der den unmittelbaren Absatz an den Verbraucher betreibt, wie im Grosshandel, der zwischen Produktion und Kleinhandel sich als Zwischenglied einschiebt.

Das oben charakterisierte Wesen der modernen Wirtschaftsentwicklung bringt es mit sich, dass der Handel eine früher nicht geahnte Ausbreitung erlangte. Beschäftigt er auch absolut weniger Personen als Landwirtschaft und Industrie, so überflügelte doch sein Wachstum bei weitem selbst die rapide Zunahme der industriellen Bevölkerung bei uns. Dabei darf man annehmen dass 9/10 der am Handel beteiligten Personen auf den Detailhandel entfallen. 1882–1907 wuchs in Deutschland die Zahl aller Handelsbetriebe von 617 000 auf 1 088 000, die der Hauptbetriebe allein von 453 000 auf 842 000. Die Betriebspersonen vermehrten sich von 838 000 auf 2 064 000, also um das 1½fache, während die Gesamtbevölkerung nur um etwa mehr als ⅓ zunahm. der Betriebe entfällt während der ganzen Periode auf die Allein-und Kleinbetriebe (1–5 Personen). Trotz stärkeren Wachstums der Mittel- und Grossbetriebe (6–50 und über 50 Personen) waren 1907 in jenen doch noch doppelt so viel Personen beschäftigt, als in diesen. Danach behauptet der Handel vorwiegend mittelständischen Charakter.

Immerhin bekundete sich auch im Handel, wie in Industrie und Gewerbe, mit seiner wachsenden Ausbreitung zugleich die Tendenz zur Erweiterung und Konzentration der Einzelbetriebe, weil auch hier der grössere Betrieb in der Regel billiger arbeitet und leistungsfähiger ist als der kleinere. Hand in Hand mit der Betriebserweiterung ging vielfach eine zunehmende Spezialisierung und die Ausschaltung von Zwischengliedern zwischen Produzenten und Detailverkäufern. Diese Ausschaltung nutzten vor allem die aufkommenden Basare und Grossmagazine aus, welche gangbare, leicht und sicher verkäufliche Artikel verschiedener Gattung in grossen Partien direkt von den Produzenten beziehen und zu mässigen Preisen ausbieten. Die geführten Qualitäten richten sich dabei nach den Bedürfnissen und der Zahlungsfähigkeit des Kundenkreises, auf den sie rechnen. Den Basaren reihen sich weiter die Warenhäuser an, welche zugleich durch die grosse Mannigfaltigkeit der geführten Waren charakterisiert sind, ihren Schwerpunkt aber meist in der Manufaktur- und Bekleidungsbranche sowie in der Konfektion haben.

Aber so mannigfaltig diese Betriebsgattungen sein und so sehr ihre Grenzlinien verschwimmen mögen, gemeinsam ist ihnen allen zumeist, dass sie Grossbetriebe sind. Mit ihrer rationellen und dadurch überlegenen Betriebsökonomie verbinden sie andere Vorteile, besonders denjenigen des schnellen Kapitalumsatzes, welcher ermöglicht, sich mit geringeren Einzelwaren zu begnügen. Denn sie alle befolgen mit Strenge den Grundsatz der Barzahlung, der überdies die kostspielige Führung von Kunden-Konti und Einziehung von Kundenschulden vollkommen ausschliesst. Die durch den Geschäftsumfang bedingte. Rationalität der Betriebsorganisation wirkt analog wie in der Industrie Maschine und Arbeitsteilung.

Wie durch diese kapitalistischen Grossbetriebe, wurde andererseits durch die Ausbreitung der auf nichtkapitalistischer Grundlage erwachsenden Konsumvereine der weiteren Ausbreitung des [424] Kleinbetriebes Schranken gezogen. Sie sind Käuferorganisationen, welche durch beauftragte Angestellte die Funktionen der Krämerei für Rechnung der Mitglieder besorgen lassen ohne Kaufzwang und gegen Barzahlung. Sie haben ihren Schwerpunkt im Bezug und Absatz von Nahrungsmitteln und Kolonialwaren des Massenverbrauchs, bei grösserem Geschäftsumfang oft auch mit anschliessender Eigenproduktion z. B. von Brot, Mehl etc. In ihnen ist der Gegensatz der Interessen zwischen Käufer und Verkäufer aufgehoben und eine rationelle Verkaufsorganisation und höchste Betriebsökonomie ermöglicht. Der Zusammenschluss der Einzelvereine zu Grosseinkaufsgenossenschaften bewirkt Ausschluss des Zwischenhandels en gros. Je grösser die Vereine werden, desto mehr kommen ihnen die Vorteile des Grossbetriebes zu gute.

Schliesslich gehört auch das Versandgeschäft zu denjenigen Mitteln, welche den Kleinhandelsbetrieb auszuschalten bezwecken. Teils wird es von den Produzenten selbst betrieben, teils ist es Grossmagazinen oder anderen Handelsgeschäften angegliedert, bisweilen auch selbständig organisiert. Doch hat es nur auf einigen wenigen Zweigen grössere Verbreitung. Es ist eine unvermeidliche Folge des modernen Verkehrs, der überall die Schranken der Lokalmärkte durchbricht.

Trotz all dieser Wandlungsprozesse bleibt dem lokalen Mittel- und Kleinbetriebe ein weites Feld der Betätigung. In der Nahrungsmittelversorgung ist ihm sogar in neuerer Zeit durch die moderne Städteentwicklung ein neues und reiches Gebiet erschlossen worden. Durch seine weite Verzweigung, sowie durch die Möglichkeit individualisierender Kundenbedienung bietet er Vorteile mannigfacher Art, die seine völlige Verdrängung ausschliessen. Andererseits leidet er vielfach unter irrationeller Verteilung der Geschäfte, unökonomischen Betriebsgrössen und Branchenüberfüllung, doch liegen in dieser Beziehung die Verhältnisse verschieden je nach Gegenden und Geschäftszweigen. Überfüllung, noch dazu unter Hinzudrängen ungeeigneter Elemente, zeigt sich namentlich in solchen Zweigen, die auch mit wenig Kapital und geringer Fachkenntnis betrieben werden können. Da freier Wettbewerb das Lebenselement des seiner Natur nach beweglichen Handels bleibt und bleiben muss, ist solchen Übelständen schwer zu steuern. Auch über die Berechtigung und Zweckmässigkeit der verschiedenen Handelsbetriebsformen kann in letzter Linie keine Theorie, sondern nur der im Wege der freien Konkurrenz erzielte Erfolg entscheiden, wenn nur der unlautere Wettbewerb nach praktischer Möglichkeit ausgeschaltet wird. Im übrigen sind allgemeinere Aneignung mancher im Grossbetrieb durchgeführten Geschäftsbräuche, wie Ausschluss oder wenigstens Beschränkung des Kundenkredits und Förderung der Barzahlung, richtiges Kalkulieren, grössere Kulanz, besseres Studium der Kundschafts-Bedürfnisse und gründliche Beurteilung der geschäftlichen Erfolgsbedingungen, wie überhaupt bessere kaufmännische Schulung, geeignete Mittel, die kleineren Betriebe im Kampf mit den grösseren lebensfähig zu erhalten. Von genossenschaftlichem Zusammenschluss, etwa behufs gemeinsamen Einkaufs, ist auf kaufmännischem Gebiet wenig zu erwarten, noch weniger von Sonderbesteuerung von Warenhäusern und Konsumvereinen, ganz abgesehen von der Ungerechtigkeit einer derartigen Bekämpfung legitimer Geschäftsbetriebe, in denen sich zumeist eine fortschreitende ökonomische Entwicklung verkörpert.

Auch auf anderen Gebieten als auf dem des Gewerbes und Handels ist der mittelständische Betrieb in seiner Ausbreitung gehemmt oder in seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit auf verschiedene Art beeinträchtigt worden im Zusammenhang mit der tiefgreifenden Umwälzung der ganzen Volkswirtschaft in der neueren Zeit. So hat beispielsweise die zunehmende Konzentrierung der Bierproduktion das Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe in wachsende Abhängigkeit von den Brauereien gebracht, soweit diese nicht gar selbst den Ausschank ausserhalb der Produktionsstätte zu organisieren übernahmen. In der Seeschiffahrt wie in der Binnenschiffahrt traten die Gross- und Gesellschaftsreedereien mehr und mehr in den Vordergrund, ebenso in der Seefischerei die Fischereigesellschaften. Die selbständigen Privatbankiers wurden in wachsendem Masse verdrängt infolge der notwendigen Konzentration des Bankbetriebes. Der tiefere Grund all dieser Erscheinungen aber ist meistens der, dass der Rahmen des mittelständischen Betriebes zu eng wurde für die wachsende Grösse der zu lösenden Aufgaben und der dazu erforderlichen Mittel.

Nach allem Ausgeführten ist das, was in dem Ausdruck Mittelstand zusammengefasst wird, kein innerlich einheitliches Wirtschaftsgebilde mit einheitlichen Interessen, vielmehr sind die [425] Existenzbedingungen und Existenzmöglichkeiten nach Klassen und Gruppen mehr oder weniger verschieden gestaltet. Mannigfach sind die Interessen der verschiedenen Teile durch kein inneres Band verknüpft, in vieler Hinsicht sogar stehen sie im Gegensatz zu einander, so namentlich auf dem Gebiet der Genossenschaftsbildung. Gewiss ist es gerechtfertigt, mittelständische Interessen zu schützen, wo sie ohne innere Notwendigkeit zu unterliegen drohen und es geschehen kann, ohne den Fortschritt der allgemeinen volkswirtschaftlichen Entwicklung zu hemmen oder wo gar das mittelständische Interesse mit dem allgemeinen volkswirtschaftlichen zusammenfällt, wie beispielsweise bei der Förderung der inneren Kolonisation. Aber wenn der Mittelstand und das Mittelstandsinteresse der innern Einheitlichkeit entbehrt, kann auch die Mittelstandspolitik, wo eine solche befolgt wird, nicht einheitlich sein in ihren Zielen und Mitteln. Wo sie aber sich zur Aufgabe macht, den notwendigen ökonomischen Fortschritt zu hemmen, verliert sie nicht nur ihre innere Berechtigung, sondern wird sie auch auf die Dauer sich als machtlos erweisen. Eine dankbarere Aufgabe erwächst ihr aus dem Emporkommen des neuen Mittelstandes, welcher mit der fortschreitenden Entwicklung des Grossbetriebes in der Privatwirtschaft, wie auch in Staat und Kommune, an Zahl und Bedeutsamkeit mehr und mehr zunimmt und bestimmt ist, den alten Mittelstand, soweit er verschwindet, zu ersetzen. Ihm gilt es durch Besserung und Befestigung seiner Rechtsstellung das Mass von Unabhängigkeit, dessen er als wertvoller Bestandteil des Staatsbürgertums bedarf, zu sichern und dieses in Einklang zu bringen mit den wirtschaftlichen Anforderungen der Betriebsführung.