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Kleinbetriebes Schranken gezogen. Sie sind Käuferorganisationen, welche durch beauftragte Angestellte die Funktionen der Krämerei für Rechnung der Mitglieder besorgen lassen ohne Kaufzwang und gegen Barzahlung. Sie haben ihren Schwerpunkt im Bezug und Absatz von Nahrungsmitteln und Kolonialwaren des Massenverbrauchs, bei grösserem Geschäftsumfang oft auch mit anschliessender Eigenproduktion z. B. von Brot, Mehl etc. In ihnen ist der Gegensatz der Interessen zwischen Käufer und Verkäufer aufgehoben und eine rationelle Verkaufsorganisation und höchste Betriebsökonomie ermöglicht. Der Zusammenschluss der Einzelvereine zu Grosseinkaufsgenossenschaften bewirkt Ausschluss des Zwischenhandels en gros. Je grösser die Vereine werden, desto mehr kommen ihnen die Vorteile des Grossbetriebes zu gute.

Schliesslich gehört auch das Versandgeschäft zu denjenigen Mitteln, welche den Kleinhandelsbetrieb auszuschalten bezwecken. Teils wird es von den Produzenten selbst betrieben, teils ist es Grossmagazinen oder anderen Handelsgeschäften angegliedert, bisweilen auch selbständig organisiert. Doch hat es nur auf einigen wenigen Zweigen grössere Verbreitung. Es ist eine unvermeidliche Folge des modernen Verkehrs, der überall die Schranken der Lokalmärkte durchbricht.

Trotz all dieser Wandlungsprozesse bleibt dem lokalen Mittel- und Kleinbetriebe ein weites Feld der Betätigung. In der Nahrungsmittelversorgung ist ihm sogar in neuerer Zeit durch die moderne Städteentwicklung ein neues und reiches Gebiet erschlossen worden. Durch seine weite Verzweigung, sowie durch die Möglichkeit individualisierender Kundenbedienung bietet er Vorteile mannigfacher Art, die seine völlige Verdrängung ausschliessen. Andererseits leidet er vielfach unter irrationeller Verteilung der Geschäfte, unökonomischen Betriebsgrössen und Branchenüberfüllung, doch liegen in dieser Beziehung die Verhältnisse verschieden je nach Gegenden und Geschäftszweigen. Überfüllung, noch dazu unter Hinzudrängen ungeeigneter Elemente, zeigt sich namentlich in solchen Zweigen, die auch mit wenig Kapital und geringer Fachkenntnis betrieben werden können. Da freier Wettbewerb das Lebenselement des seiner Natur nach beweglichen Handels bleibt und bleiben muss, ist solchen Übelständen schwer zu steuern. Auch über die Berechtigung und Zweckmässigkeit der verschiedenen Handelsbetriebsformen kann in letzter Linie keine Theorie, sondern nur der im Wege der freien Konkurrenz erzielte Erfolg entscheiden, wenn nur der unlautere Wettbewerb nach praktischer Möglichkeit ausgeschaltet wird. Im übrigen sind allgemeinere Aneignung mancher im Grossbetrieb durchgeführten Geschäftsbräuche, wie Ausschluss oder wenigstens Beschränkung des Kundenkredits und Förderung der Barzahlung, richtiges Kalkulieren, grössere Kulanz, besseres Studium der Kundschafts-Bedürfnisse und gründliche Beurteilung der geschäftlichen Erfolgsbedingungen, wie überhaupt bessere kaufmännische Schulung, geeignete Mittel, die kleineren Betriebe im Kampf mit den grösseren lebensfähig zu erhalten. Von genossenschaftlichem Zusammenschluss, etwa behufs gemeinsamen Einkaufs, ist auf kaufmännischem Gebiet wenig zu erwarten, noch weniger von Sonderbesteuerung von Warenhäusern und Konsumvereinen, ganz abgesehen von der Ungerechtigkeit einer derartigen Bekämpfung legitimer Geschäftsbetriebe, in denen sich zumeist eine fortschreitende ökonomische Entwicklung verkörpert.

Auch auf anderen Gebieten als auf dem des Gewerbes und Handels ist der mittelständische Betrieb in seiner Ausbreitung gehemmt oder in seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit auf verschiedene Art beeinträchtigt worden im Zusammenhang mit der tiefgreifenden Umwälzung der ganzen Volkswirtschaft in der neueren Zeit. So hat beispielsweise die zunehmende Konzentrierung der Bierproduktion das Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe in wachsende Abhängigkeit von den Brauereien gebracht, soweit diese nicht gar selbst den Ausschank ausserhalb der Produktionsstätte zu organisieren übernahmen. In der Seeschiffahrt wie in der Binnenschiffahrt traten die Gross- und Gesellschaftsreedereien mehr und mehr in den Vordergrund, ebenso in der Seefischerei die Fischereigesellschaften. Die selbständigen Privatbankiers wurden in wachsendem Masse verdrängt infolge der notwendigen Konzentration des Bankbetriebes. Der tiefere Grund all dieser Erscheinungen aber ist meistens der, dass der Rahmen des mittelständischen Betriebes zu eng wurde für die wachsende Grösse der zu lösenden Aufgaben und der dazu erforderlichen Mittel.

Nach allem Ausgeführten ist das, was in dem Ausdruck Mittelstand zusammengefasst wird, kein innerlich einheitliches Wirtschaftsgebilde mit einheitlichen Interessen, vielmehr sind die

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/440&oldid=- (Version vom 1.11.2021)