Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Neue Sonaten für das Pianoforte

Symphonie von H. Berlioz Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Neue Sonaten für das Pianoforte
Kritische Umschau (1)


Neue Sonaten für das Pianoforte.
C. Löwe, der Frühling, eine Tondichtung in Sonatenform (in G).
W. 47.


Vom Frühling sollte schon an und für sich in jeder Musik etwas zu finden sein; diesmal legt der phantasievolle Sänger ein besonderes Opfer auf seinem Altare nieder. Zwar hätte man von Löwe[H 1] eher eine Wintersonate erwartet, in der ich schon im voraus (käme er dem Wunsche nach) den Schnee unter den Wägen höre und die Nachtvögel um den Thurmknopf;[H 2] aber auch dem Frühling hat er seine Zeichen abgelauscht, wenn auch nicht wie Beethoven, dessen sechste Symphonie[H 3] sich zu andern idyllischen Compositionen wie das Leben eines großen Mannes zu dessen Biographieen verhält, so doch wie ein Dichter mit klarem, offenem Auge; und das erfreut schon einmal in einer Zeit und in einer Kunst, die sich immer faustischer in sich hinein- und dem frischen Lebensgenusse finstre Mystik vorzieht. Wer also Nachtscenen und Nordlichter erwartet, irrt sich; aber dafür sieht er eine angrünende Wiese, hier und da eine Knospe mit einem Schmetterling. Dies über die Musik als Dichtung. Als Composition selbst kann man sie weder neu noch tief erfunden nennen; Melodieen und Harmonieen schließen sich natürlich, oft simpel aneinander; das Ganze ist vielleicht zu flüchtig empfangen und geboren. Der Componist verstehe uns recht! Beethoven singt in seiner Pastoralsymphonie so einfache Themas, wie sie irgend ein kindlicher Sinn erfinden kann; sicher aber schrieb er nicht alles auf, was ihm die erste Begeisterung eingab, sondern wählte unter vielem. Und das ist’s, was wir dieser, wie mehreren andern Compositionen von Löwe vorwerfen, daß sie mit der leisesten Stimme oft rechte Ansprüche machen, und daß uns zugemuthet wird, Gewöhnliches, hundertmal Dagewesenes, weil es ein bedeutender Komponist wiederholt, der Güte der Hauptsache halber so mit hin zu nehmen. Wir zweifeln, ob eines von den lebenden Talenten, die Löwen ebenbürtig gegenüberstehen, manches Einzelne in der Sonate hätte drucken lassen. Will man auch Stellen wie das erste Thema des ersten Satzes, den Anfang des zweiten Theiles desselben Satzes u. m. a., durch die einfache Anlage und durch das Terrain, auf dem das Ganze spielt und gemalt ist, entschuldigen, so muß doch, wie wir schon oft gesagt, in der Malerei so viel Musik enthalten sein, daß diese für sich gilt und das Ohr vom Auge nichts zu entlehnen hat. Daher finden wir den zweiten Satz, als den musikalisch selbständigsten, am gelungensten und daher z. B. die Einleitung am wenigsten gerathen. –

Wie dem sei, so empfehlen wir die Sonate namentlich Lehrern nachdrücklich, daß sie sie jüngere Schüler spielen lassen, denen die durchweg klare und natürliche Empfindung wohlgefällig und bildend sein muß.




Sonate (in A) von Franz Graf von Pocci, Frühlingssonate (in C) von demselben.[H 4]


Hätte mir Jemand den Titel zugehalten, so würde ich auf eine Componistin gerathen und vielleicht so geurtheilt haben: Wie du heißen magst, Adele – Zuleika, ich liebe dich vorweg, wie alle, die Sonaten schreiben! Hörtest du nur auch immer so auf, wie du anfängst, so z. B. in der Frühlingssonate, wo einen auf der ersten Seite ordentlich Märzveilchen anduften … Aber während dein schwärmerisches Auge am Mondhimmel herumschweift oder dein Herz im Jean Paul,[H 5] so fällt dir das Rosaband ein, das deine Freundin so wohl kleidet; auch verwechselst du noch häufig das „daß“ mit dem „das“, so nett deine Handschrift übrigens aussieht, – mit einem Worte, du bist ein gutes siebzehnjähriges Kind mit viel Liebe und Eitelkeit, viel Innigkeit und Eigensinn. Mit Worten wie „Tonica“, „Dominante“ oder gar „Contrapunct“ erschreck’ ich dich gar nicht, denn du würdest mir lachend in’s Wort fallen und sagen: „ich hab' es nun einmal so gemacht und kann nicht anders“, und man müßte dir dennoch gut sein. Wär’ ich aber dein Lehrer und klug, so gäb’ ich dir oft von Bach oder Beethoven in die Hände (von Weber, den du so sehr liebst, gar nichts), damit sich Gehör und Gesicht schärfe, damit dein zartes Fühlen festes Ufer bekomme und dein Gedanke Sicherheit und Gestalt. Und dann wüßt’ ich nicht, was dir selbst eine „neuste“ Zeitschrift für Musik anhaben könnte, das sich nicht aus „lieb und schön“ reimte.
Eusebius.
Wie schlau mein Eusebius d’rum herum geht! Warum nicht ganz offen: „der Herr Graf hat sehr viel Talent, aber wenig studirt.“
Florestan.




Sonate von F. Lachner.
W. 39.


Man würde erstaunen über den Ernst und die Tiefe, wenn obige Sonate[H 6] von einem Franzosen oder gar Italiener componirt wäre. Es giebt eben noch keine Weltkunst und ebendaher keine Kritik, die nicht ihren Maßstab nach dem Standpunkte der Bildung, auf dem die verschiedenen Nationen stehen, und nach deren Charakter richtete. Lachner ist ein Deutscher; ein deutsches geradegehendes Wort wird ihm recht sein.

Wir wissen nicht, ob wir uns freuen oder betrüben sollen, daß wir außer dieser Sonate, vielen Liedern und einer Symphonie, die wir einmal gehört, nichts weiter von Lachners Compositionen kennen. Er ist einer der schwierigsten Charaktere für die Kritik, nicht deshalb, weil er so dunkeltief dächte, daß ihm gar nicht beizukommen, sondern der Schlangenglätte halber, mit der er überall, will man ihn festhalten, aus der Hand entschlüpft. Hat er etwas Fades gesprochen, so macht er es kurz darauf durch ein herrlich Wort gut; ärgert man sich an einem Spohr’schen oder Franz Schubert’schen Anklange, so kommt bald etwas ihm allein Gehöriges; hält man jetzt alles für Trug und Schein, so giebt er sich einen Augenblick später offen und unverhohlen. Man findet in dieser Sonate, was man will; – Melodie, Form, Rhythmus (in dem er jedoch am schwächsten erfindet), Fluß, Klarheit, Leichtigkeit, Correctheit, und dennoch rührt nichts, faßt nichts, dringt nichts tiefer als bis in das Ohr. Wir glaubten, die Schuld läge an unserer eigenen Stimmung und legten, um den späterm Eindruck mit dem ersten zu vergleichen, die Sonate geflissentlich lange Zeit bei Seite, fragten auch Andere um ihre Meinung; dasselbe Resultat, dieselbe Antwort. Die Sache darf nicht leicht genommen werden. Auf L. sind schöne Hoffnungen gegründet worden. Eine nachsichtige Kritik sah ihm seines Talentes halber vieles nach. Es wird Zeit, daß er streng über sich wache, um sich nicht noch unklarer in sich hinein zu verwickeln. Es giebt nämlich gewisse Halbgenies, die mit einer ungemeinen Lebhaftigkeit und Empfänglichkeit alles Außerordentliche, sei es Gutes oder Uebles, in sich aufnehmen und wie ihr Eigenthum verarbeiten. Sie haben einen Geniusflügel und einen andern von Wachsfedern. In guter Stunde, in der Erregung trägt wohl jener den andern mit in die Höhe; aber im Normalzustande der Ruhe schleppt der wächserne lahm hinter dem andern her. Oft möchte man solch hartes Urtheil über ähnliche Charaktere zurücknehmen, – denn es glückt ihnen mancher Wurf; – oft ihnen gänzlich vom Schaffen abrathen, weil sie selbst nicht wissen, wie arg sie sich und Andere täuschen. Sie leben in immerwährender Spannung, in einer steten Krisis, in der man sie auch ruhig lassen und sie sich selbst aus ihr herausarbeiten lassen sollte, weil sie ein Wort des Tadels noch hartnäckiger, ein Wort des Lobes jedoch leicht übermüthig macht. Da sie aber meist Ruhmsucht und nicht genug Gewalt über sich besitzen, der Welt gegenüber mit ihren Werken zurückzuhalten, so kann dieser natürlich das Unausgebildete und Zweideutige ihres Wesens nicht entgehen. Eben deshalb, weil in solchen Charakteren und Compositionen noch kein System und Styl beim Namen genannt werden kann, täuscht man sich auch oft in ihnen und über ihre Zukunft und sagt vielleicht Schlimmeres voraus, als geschieht. Das letzte wünschen wir in Bezug auf L. von ganzem Herzen und begeben uns von selbst aller divinatorischen Kritik. Nehme er dieses Wort, das mehr eine ganze Classe, und Lachner nur theilweise trifft, als den Ausspruch Vieler an, die über seine künstlerischen Anlagen durchaus einverstanden, das Nebengefühl nicht unterdrücken können, daß von ihm Höheres zu erwarten stände, wenn er den Beifall des großen Haufens dem schwerer wiegenden Lobe seiner Kunstgenossen aufopfern wollte. –




Anmerkungen (H)

  1. [WS] Carl Loewe, Le Printemps G-Dur op. 47 – Eine Tondichtung in Sonatenform (1824) für Klavier, sie wurde im April 1835 bei Schlesinger in Berlin verlegt. Siehe auch Schumanns Text Aus den Büchern der Davidsbündler, Kapitel 2.
  2. [WS] Thurmknopf: „knopf, knauf auf der spitze des thurmes, zugleich den fusz der wetterfahne oder des thurmkreuzes bildend“, Grimm, Deutsches Wörterbuch.
  3. [WS] 6. Sinfonie F-Dur op. 68, die Pastorale (1807–1808).
  4. [WS] Franz von Pocci, 1807–1876, deutscher Zeichner, Radierer, Schriftsteller, Pianist und Komponist. 1833 komponierte er die Klaviersonate a-moll: Sonate fantastique / Pour le Piano-Forte / composée et dédicée / à Son Excellence / Madame la Comtesse H. de Rechreme / née Barenne de Pellioreul / par / François Comte de Pocci. / […] Leipsic, chez Breitkopf & Härtel. [Plattennummer] 5455.MDZ München Oktober 1833 erschienen.
    Seine 1834 komponierte Klaviersonate G-Dur erschien im August 1834: Frühlings-Sonate / für das Pianoforte / componirt und / Fräulein Delphine von Schauroth / verehrungsvollst zugeeignet / von / Franz Graf von Pocci. / […] Leipzig, bei Breitkopf & Härtel. [Plattennummer] 5524. MDZ München
  5. [WS] Jean Paul Friedrich Richter ist erklärtermaßen der Lieblingsdichter Schumanns.
  6. [WS] Franz Lachner, Sonate für Klavier zu vier Händen F-Dur op. 39 (ca. 1832): Grande Sonate / pour le / Pianoforte à quatre mains / composée et dedicée / à son ami / Mensieur / C. M. de Bocklet / par François Lachner. / Oeuvre 39. […] Vienne, / chez A. Diabelli et Comp. Graben, No. 1133. D. et. C. No. 5140. MDZ München 1834 erschienen.
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