Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Aphorismen (2)

Sonaten für Pianoforte Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Aphorismen (2)
1836 (Anfang)


Aphorismen.
(Von den Davidsbündlern.)[H 1]


Componistenvirtuosen.

Es ist im Allgemeinen nicht anzunehmen (und die Erfahrung spricht dagegen), daß der Componist seine Werke auch am schönsten und interessantesten darsellen müsse, namentlich die neusten zuletzt geschaffenen, die er noch nicht objectiv beherrscht. Der Mensch, dem die eigene physische Gestalt entgegen steht, erhält leichter im andern Herzen die idealische.

Euseb.

Richtig. Denn wollte der Componist, dem nach Vollendung des Werks Ruhe vonnöthen ist, seine Kräfte gleichzeitig auf äußere Darstellung fixiren, so würde, wie einem angestrengten, auf einem Punct haftenden Augenpaar, sein Blick nur matter werden, wenn sich nicht verwirren und erblinden. Es gibt Beispiele, daß in solcher erzwungenen Operation Componistenvirtuosen ihre Werke völlig entstellt haben.

Raro.




Das Sehen der Musik.

Bei der Kalkbrenner’schen vierstimmig-einhändigen Fuge fällt mir der verehrte Thibaut, der Dichter des Buchs: „Ueber Reinheit der Tonkunst“[H 2] ein, der mir einmal erzählte, daß in einem Concert in London, das Cramer[H 3] gegeben, eine vornehme, kunstverständige Lady sich gegen allen englischen Ton auf die Zehen gestellt, die Hand des Virtuosen starr angesehen, was natürlich die Nachbarinnen zur Seite und im Rücken, nach und nach die ganze Versammlung gleichfalls gethan, und endlich Th. in’s Ohr, aber mit Ekstase gesagt hätte: „Gott! welcher Triller! Triller! Und noch dazu mit dem vierten und fünften – und in beiden Händen zugleich!“ Das Publicum (schloß damals Th.) murmelte leise nach: „Gott! welcher Triller! Triller! und noch dazu etc.“

R–o.

Doch scheint dies das Publicum zu charakterisiren, das am Virtuosen, wie im Concert überhaupt, auch etwas sehen will.

Euseb.




Aber beim Himmel! Es wäre ein wahres Glück, wenn in der Künstlerwelt einmal ein Geschlecht der Bilfinger[H 4] aufwüchse, das bekanntlich an zwei garstigen Uebersingern litt; da wär’ es mit der ganzen Virtuosenwirthschaft vorbei. –

Florestan.




Das öffentliche Auswendigspielen.

Nennt es nun ein Wagstück, oder Charlatanerie, so wird das doch immer von großer Kraft des musikalischen Geistes zeugen. Wozu auch diesen Souffleurkasten? warum den Fußblock an die Sohle, wenn Flügel am Haupt sind? Wißt ihr nicht, daß ein noch so frei angeschlagener Accord von Noten gespielt, noch nicht ein halbmal so frei klingt, wie einer aus der Phantasie? O, ich will aus Eurer Seele antworten: allerdings kleb’ ich am Hergebrachten, denn ich bin ein Deutscher – erstaunen würde ich freilich in etwas, brächte plötzlich die Tänzerin ihre Touren, der Schauspieler oder Declamator seine Rollen aus der Tasche, um sicherer zu tanzen, spielen, declamiren; aber ich bin wirklich wie jener Philister, der, als einem Virtuosen die Noten vom Pult fielen, und dieser trotzdem ruhig weiter spielte, siegend ausrief: „Seht! seht! das ist eine große Kunst! – der kann’s auswendig!“

F–n.




Das Anlehnen.

Würde ohne Shakespeare Mendelssohns Sommernachtstraum geboren worden sein, obgleich Beethoven manchen (nur ohne Titel) geschrieben hat? Der Gedanke kann mich traurig machen.

F–n.

Ja – warum zeigen sich manche Charaktere erst selbständig, wenn sie sich an ein anderes Ich gelehnt haben, wie etwa der größere Shakespeare selbst, der bekanntlich die meisten Stoffe seiner Stücke aus älteren oder aus Novellen und dergl. hernahm?

E–s.

Eusebius spricht wahr. Manche Geister wirken erst, wenn sie sich bedingt fühlen, frei.

R–o.




Rossini.[H 5]

Allzu einseitig wäre es, alles Rossini’sche bei uns zu unterdrücken, wenn es nur einigermaßen im Verhältniß zur Aufmunterung deutscher Leistungen stünde. Rossini[H 6] ist der trefflichste Decorationsmaler, aber nehmet ihm die künstliche Beleuchtung und die verführende Theaterferne und sehet zu, was bleibt. Ueberhaupt wenn ich so von Berücksichtigung des Publicums, vom Tröster und Retter Rossini und seiner Schule reden höre, so zuckt mir’s in allen Fingerspitzen. Viel zu delicat geht man mit dem Publicum um, das sich auf seinem Geschmack ordentlich zu steifen anfängt, während es in früherer Zeit bescheiden von Ferne zuhorchte und glücklich war, etwas aufzuschnappen vom Künstler. Und sag’ ich das ohne Grund? Und geht man nicht in den „Fidelio“ der Schröder[H 7] wegen (in gewissem Sinn mit Recht) und in Oratorien aus purem blanken Mitleiden? Ja! erhält nicht der Stenograph Herz, der sein Herz[H 8] nur in seinen Fingern hat, – erhält dieser, sag’ ich, nicht für ein Heft Variationen vierhundert Thaler und Marschner[H 9] für den ganzen „Hans Heiling“ kaum mehr? Noch einmal – es zuckt mir in allen Fingerspitzen.

F–n.




Rossini’s Besuch bei Beethoven.

Der Schmetterling flog dem Adler in den Weg, dieser wich aber aus, um ihn nicht zu zerdrücken mit dem Flügelschlag.

E–s.




Italiänisch und Deutsch.

Seht den flatternden lieblichen Schmetterling, aber nehmt ihm seinen Farbenstaub, und seht, wie erbärmlich er herumfliegt und wenig beachtet wird, während von Riesengeschöpfen noch nach Jahrhunderten sich Skelette vorfinden, die sich mit Staunen die Nachkommen zeigen.

E–s.





Anmerkungen (H)

  1. [GJ] Diese Aphorismen hat Schumann größtentheils dem Davidsbündler-Aufsatz von 1833 entnommen und mit kleinen Abänderungen in der Zeitschrift unter der Aufschrift „Grobes und Feines“ zusammengestellt. Außer diesen finden sich noch einige Aphorismen (vielleicht ebenfalls Auszüge aus einem unbekannt gebliebenen Aufsatze), die als Mottos verwandt worden sind. Da sie keine Unterschrift tragen, so sind sie Schumann zuzuschreiben, der es mit seinen Quellenangaben genau nahm. I.323–324.
  2. [WS] Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840), deutscher Rechtsgelehrter. Seine Schrift Ueber Reinheit der Tonkunst erschien erstmals 1825 (1. Auflage: Google; 2. Auflage, erweitert, 1826 Google).
  3. [WS] Johann Baptist Cramer.
  4. [WS] unverständliche Anspielung.
  5. Die folgenden Bemerkungen scheinen einer früheren Zeit anzugehören. Jetzt ist schon manches anders geworden. A. d. R. [Anmerkung Schumanns in der Neuen Zeitschrift für Musik 1834.]
  6. [WS] Gioachino Rossini (1792–1868), italinischer Komponist, zur Zeit Schumanns Inbegriff des als seicht empfundenen italienischen Stil, dem musikalische Kunstfertigkeit mangelt.
  7. [WS] Wilhelmine Schröder-Devrient (1804–1860), deutsche Opernsängerin. Sie prägte 1822, 17-jährig, die Titelrolle der Leonore in Beethovens Oper Fidelio (1805 uraufgeführt). Vergleiche den romanhaften Bericht von Hans Michael Schletterer in der Allgemeinen Deutschen Biographie.
  8. [WS] Henri Herz (1806–1888), ein zu seiner Zeit außerordentlich erfolgreicher Pianist und Komponist. Schumanns Urteil über ihn als Zeitphänomen siehe S. 256–58.
  9. [WS] Heinrich Marschner.
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