Gefangennahme Thusneldas durch Germanicus
[20] Gefangennahme Thusneldas durch Germanicus. (Mit Illustration S. 4 und 5.) Unter allen Frauengestalten der deutschen Geschichte ist keine größer und edler als Thusnelda, die Tochter des Segest und Gattin Hermanns, des Cheruskers. Mit kurzen ehernen Worten schildert der römische Geschichtschreiber Tacitus im ersten Buche seiner „Annalen“ ihr tragisches Geschick. Thusnelda war von ihrem Vater verlobt worden; aber Hermann hatte sie dem Vaterhause und dem Verlobten entführt. Dies und politische Gegensätze begründeten jenen Haß zwischen Segest und Hermann, dem die Einheit der niederdeutschen Stämme, das Glück Hermanns und seiner Gattin und die Ehre des Segest zum Opfer fielen. Segest wollte den Römern die versprochene Treue halten, Hermann die Eindringlinge vom germanischen Boden vertreiben. Segest warnte die römischen Feldherren; Hermann schlug sie mit eisernem Arm. Während Cäsar Germanicus, der Römer Heerführer, von einem siegreichen Zuge ins Land der Chatten zurückkehrte, kamen Boten des Segest mit dessen Sohn Siegmund zu ihm und baten um seine Hilfe. Segest meldete, er sei von seinen Landsleuten belagert; Germanicus möge ihn entsetzen. Und Germanicus fand es der Mühe werth, dieser Bitte zu willfahren; er schlug die Belagerer und befreite den gefährdeten Segest. Da fand er edle Frauen, unter ihnen Hermanns Gattin, die Tochter des Segest, mehr dem Manne, als dem Vater geistesverwandt, welche von ihrem eigenen Vater bei einem Ueberfalle zur Gefangenen gemacht worden war. Zu keiner Thräne, zu keinem bittenden Worte sich erniedrigend, stand sie vor dem Römerfeldherrn.
So der römische Geschichtschreiber. Dunkel liegt es über jenen Tagen und die kargen Worte des Römers lassen manchen Zweifel aufkommen über die Frage, wie weit des Segestes Verschuldung ging. Eins nur scheint unanfechtbar: daß die edle Thusnelda ein Opfer ihrer Liebe und Treue ward.
Und so ward sie auch immer von Dichtern und Künstlern
aufgefaßt. So führt sie auch der Künstler auf unserem
Bilde, welches unter vielen Darstellungen desselben Vorganges
den ersten Platz einnimmt, vor Augen: schön wie eine Göttin
und in fürstlicher Würde steht sie vor dem Römerfeldherrn,
der gekommen ist, um sie gefangen zu nehmen, geführt von
ihrem eigenen Vater. Bewundernd schauen die Augen der
in Schlachten hart gewordenen Römer nach dem herrlichen
Weibe. Der alte Segestes ist dargestellt, wie ihn Tacitus
schildert: „mächtig von Gestalt und furchtlos im Bewußtsein
wohl bewahrter Bundesgenossenschaft.“ – Es ist bekannt, daß
die unglückliche Thusnelda als
Gefangene nach Italien abgeführt ward und daß sie zu Ravenna Hermanns
einzigen Sohn, den Thumelicus, gebar. Der Cheruskerfürst sah Weib und
Kind nie wieder. Aber wie er zum deutschen Volkshelden ward, dessen
Name durch alle Jahrhunderte fortlebt, so wurde Thusnelda – Thurishild
mag wohl ihr heimathlicher Name gewesen sein – zum glanzumwobenen
Vorbilde deutscher Frauengröße. M. H.