Wohnungsnoth der Arbeiterinnen
[19] Wohnungsnoth der Arbeiterinnen. Arbeiterwohnungen bilden längst eine der brennendsten socialen Fragen und hier und dort sind bereits segensreiche Anfänge zur Lösung derselben gemacht worden. In erster Linie wurde jedoch dabei nur an die verheiratheten oder ledigen männlichen Arbeiter gedacht; die Arbeiterinnen oder Fabrikmädchen sind dabei, von sehr geringen und durchaus vereinzelten Ausnahmen abgesehen, unberücksichtigt geblieben; und doch ist die Wohnungsnoth derselben dringender als die irgend einer anderen Arbeiterklasse. Die Lohnstatistik weist uns nach, daß ein sehr großer Theil der Arbeiterinnen unserer Großstädte Löhne erhält, welche nicht hinreichen, die nothwendigsten Bedürfnisse des Lebens zu befriedigen, und ebenso steht es fest, daß die Mehrzahl der unverheiratheten Arbeiterinnen sich nicht in der Lage befindet, im elterlichen Hause oder bei Verwandten Wohnung zu nehmen, sondern genöthigt ist, bei fremden Leuten ein Unterkommen zu suchen. Dadurch kommt es, daß gerade die Arbeiterinnen von allen Schattenseiten der Arbeiterwohnungen am empfindlichsten getroffen werden.
Es ist hier nicht der Ort, auf die bedenklichen Unzuträglichkeiten hinzuweisen, welche das Schlafstellenwesen in gesundheitlicher und sittlicher Beziehung mit sich bringt. In einer Broschüre „Die Lage der Arbeiterinnen in den deutschen Großstädten“ von Dr. Kuno Frankenstein (Leipzig, Duncker und Humblot) sind die Ergebnisse verschiedenartiger Nachforschungen zu einem wahrhaft düsteren und abschreckenden Bilde zusammengestellt und jene Broschüre veranlaßt uns, auch für die Bestrebungen einzutreten, welche geeignet sind, jener Wohnungsnoth abzuhelfen.
Am besten ist die Arbeiterin geborgen, wenn sie einen engeren Anschluß an eine solide Arbeiterfamilie findet; aber bei der in den ärmeren Klassen bestehenden Wohnungsnoth ist dieses Mittel nur in den wenigsten Fällen zu erreichen, und daraus folgt auch, daß für die Arbeiterinnen besondere Logirhäuser geschaffen werden sollten. Dieselben gehören keineswegs in das Reich der Utopien. Aehnliche Anstalten sind für unverheirathete Arbeiter bereits ins Leben gerufen worden und haben sich trefflich bewährt. Als Beispiel wollen wir nur das vom Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation im Jahre 1873 errichtete für 1500 unverheirathete Arbeiter ausreichende Kost- und Logirhaus in der Nähe der Kolonie Stahlhausen anführen. In diesem erhält der Arbeiter für den sehr mäßigen Preis von 80 Pfg. im Winter und 75 Pfg. im Sommer täglich Wohnung nebst einem guten Mittag- und Abendessen.
Das Logirhaus liefert den Arbeitern sogar Bettwäsche nebst Handtücher und das Essen ist wirklich gut zu nennen; denn das Mittagessen besteht aus einer kräftigen Suppe, Gemüse und Fleisch, je nach der Jahreszeit, und das Abendbrot aus warmen Kartoffeln mit Sauce und Braten oder einem andern Stücke Fleisch. Die Portionen sind sehr reichlich; außerdem kann aber ohne Mehrkosten von dem betreffenden Arbeiter noch nachverlangt werden. Brot und Kaffee sind im Hause zu Einkaufspreisen, außerdem aber heißes Kaffeewasser unentgeltlich zu haben.
Sollte es nicht möglich sein, ähnliche Kost- und Logirhäuser für die Arbeiterinnen zu errichten? Die Frage ist ohne Zweifel zu bejahen. Man sollte nur den Anfang machen und für die allgemeine Frauenfrage wird die Gründung eines ersten solchen Hauses im größeren Maßstabe viel wichtiger sein als die Erlangung so manchen Rechtes, nach dem sich viele Frauen so sehr sehnen. Ein Daheim für einige wenige Arbeiterinnen, wie es hier und dort vielleicht zu finden ist, genügt der großen Noth gegenüber keineswegs. Die Hilfe muß eine weitreichende werden; und wir glauben, diese Hilfe wird kein Almosen sein. Frauen sind zum Wirthschaften geboren, und ein Logirhaus für Arbeiterinnen wird mit geringeren Kosten zu erhalten sein, als die Logirhäuser für Arbeiter. So wird es sich eigentlich nur um ein Gründungskapital handeln, das zu beschaffen sein wird.
Und welchen unermeßlichen Nutzen würden solche Logirhäuser in moralischer und wirthschaftlicher Beziehung bringen! In richtigen Händen, unter sorgsamer sachverständiger Leitung könnten dieselben zu wahren Pflanzstätten der Zucht und besonders für jüngere Arbeiterinnen zu Erziehungsanstalten und Fortbildungsschulen fürs praktische Leben werden.