Garnison- und Parade-Bilder/Die Militairprüfung

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Autor: unbekannt
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Titel: Garnison- und Parade-Bilder/Die Militairprüfung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 21, 22, S. 331, 334-336, 350-352
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Garnison- und Parade-Bilder.
Nr. 4. Die Militairprüfung.

An einem köstlichen Septembermorgen zogen zwanzig junge Leute, die sämmtlichen Avantageure der zweiten Abtheilung siebenter Artillerie-Brigade, von Düsseldorf aus der fernen Hauptstadt Westphalens, dem frommen Münster zu, wo wir eines Mittwochs in soldatischer Haltung einrückten. Der älteste Camerad meldete unser Eintreffen dem Präses der Examinations-Commission, Hauptmann Mühler, und brachte uns mit den Quartierbillets den Befehl, um 4 Uhr des Nachmittags auf dem Schloßplatze zum Appell zu erscheinen. Die Anwesenheit des „Alten“, wie der Oberst v. Tuchsen[1] in cameradschaftlichen Kreisen allgemein genannt wurde, war in bestimmte Aussicht gestellt, und darum wurde uns Pünktlichkeit und Propreté dringend zur Pflicht gemacht.

Mit dem vierten Glockenschlage dieses Nachmittages traten wir, wie befohlen, auf dem geräumigen Schloßplatze zusammen. Der Feldwebel der Compagnie, welcher wir für die Dauer des Tentamens attachirt waren, stellte uns auf. Mit den Aspiranten der ersten Abtheilung standen zweiundvierzig junge Männer in der Front, von denen ein Jeder den Marschallsstab in der Tasche zu tragen meinte.

Der schon genannte Hauptmann Mühler, dem der Ruf ungemeiner Gutmüthigkeit voranging, erschien gleich darauf vor unseren Reihen. Die äußere Erscheinung des Capitains imponirte sehr wenig. Es fehlte dem schon bejahrten Officier jenes soldatische Exterieur, welches ganz von selbst Respect und unbedingten Gehorsam fordert. Es ist dies rein persönlich, hat mit der Officier-Uniform nichts zu thun, und muß noch zu erkennen sein, wenn der Mann im Schlafrocke steckt. Der Hauptmann Mühler trug eine auffallend unsichere, sorgsam um sich spürende Persönlichkeit zur Schau. Er war ein kleiner, gebeugter Mann mit dünnem Haar und schwachen, vertrockneten Beinen, die unmittelbar bis zu dem schmalen Brustkasten hinaufzureichen schienen. Sein Gesicht trug das Gepräge großer Gutmüthigkeit und war schön und geistreich, so lange es unbeweglich blieb. Setzte aber irgend eine Gemüthsbewegung die Linien desselben in Bewegung, so spiegelte sich die Unselbständigkeit und Furchtsamkeit seines Charakters darauf mit großer Treue ab. Man sagte von ihm, daß er sich lieber mit dem Tacitus, Plutarch oder irgend einem mathematischen Problem, als mit dem Dienst-Reglement beschäftige. Die Künste und Wissenschaften sollte er mäcenatisch beschützen. Der kleine Mann machte unwillkürlich den Eindruck eines hinter seinen Folianten verkümmerten Gelehrten, den man gegen seinen Willen in die Uniform gesteckt hatte. Der Oberst nannte ihn den „beepauletteten Professor“, sollte aber mit seiner dienstwidrigen Nonchalance ungewöhnliche Nachsicht haben, wofür der Hauptmann dem Alten die dankbarste Unterwürfigkeit entgegentrug.

Nach der freundlichsten Begrüßung machte uns der Capitain die Mittheilung, daß der Herr Oberst verhindert sei, uns heute zu besichtigen, daß derselbe aber während der ganzen Dauer des Tentamens in dem Locale, wo die Prüfung stattfinden sollte, anwesend sein werde, weshalb er uns bitten müsse, die größte Sorglichkeit auf unsern Anzug und unser dienstliches Benehmen zu verwenden. Er gab zu verstehen, daß wir an seinem guten Willen, uns leicht über die schweren Stunden der nächsten Tage zu helfen, nicht zweifeln möchten, und sprach uns mit herzgewinnender Güte Muth und Vertrauen ein. Hierauf theilte er die festgestellten Prüfungs-Specialitäten mit und empfahl sich.

Wir sollten soeben entlassen werden, als ein Officier vor unserer Front erschien, den die Cameraden der ersten Abtheilung als den Examinator in der Mathematik, Lieutenant v. Radel, bezeichneten. Es war eine leichte anmuthige Gestalt, die durch die ungemein saubere Uniform noch besonders gehoben wurde. Die Formen des Gesichts waren classisch schön, edel und geistreich. Der Teint, zart bis zur Durchsichtigkeit, war schattirt durch die scharfen Linien, mit welchen die Göttin mit magischem Gürtel das Antlitz der eifrigsten und liebenswürdigsten ihrer Priester zu kennzeichnen pflegt. Der Ruf bezeichnete ihn als einen geweihten Diener der Venus Amathusia.

Der Officier ließ zum Kreise schwenken, und nachdem er einige Augenblicke die ihn Umgebenden mit sichtbarem Wohlgefallen gemustert hatte, sagte er: „Meine Herren, ich werde das Vergnügen haben, Sie in der Mathematik zu prüfen. Ich bin im Voraus überzeugt, daß Sie in dieser von unserer Waffe so hochverehrten Wissenschaft gute Kenntnisse gesammelt haben, ich weiß aber auch, daß Aengstlichkeit und furchtsame Unterschätzung des eigenen Talents gar oft die Ursache sind, daß bei öffentlichen Prüfungen gerade die Begabtesten am wenigsten leisten. In Ihrem eigenen Interesse bitte ich Sie deshalb, sich jeder Furcht zu entäußern und meine Fragen bei der mündlichen Prüfung sicher und rasch zu beantworten. Seien Sie versichert, daß es mir gelingen wird, aus jeder Antwort etwas herauszuhören, wodurch sich die Prüfungs-Commission für befriedigt halten soll. Wenn der Herr Oberst, in seiner bekannten Weise, an Ihre Antworten seine freilich etwas derb-humoristischen Bemerkungen knüpfen sollte, so lassen Sie sich [334] dadurch nicht decontenanciren. Setzen Sie seinen satirischen Ausfällen kalte Zuversicht entgegen und lassen Sie es meine Sorge sein, Ihre Antworten dem Herrn Brigadier mundgerecht zu machen. In Betreff des schriftlichen Examens darf ich wohl annehmen, daß sich der cameradschaftliche Sinn, den ich bei Ihnen voraussetzen darf, der schwächeren Commilitonen annehmen wird. Adieu, meine Herren; ich wünsche Ihnen einen vergnügten Abend.“

Der Lieutenant verließ freundlich grüßend unseren Kreis. Wir befanden uns noch unter dem wohlthuenden Eindruck, den die Ansprache dieses Officiers auf uns gemacht hatte, als sich einer der Cameraden, der Unterofficier v. Sorgen, für eine kurze Anführung das Wort erbat. Der Camerad v. Sorgen stand bei der ersten Compagnie, die in Münster garnisonirte, und war darum mit den Persönlichkeiten, die zu dem Tentamen in Beziehung standen, genau bekannt. Es war eine kleine untersetzte Gestalt, dessen volles Gesicht von Selbstbewußtsein, Sorglosigkeit und Gesundheit strotzte. Seine ganze Erscheinung trug ein wunderlichen Gemisch von Derbheit und Schalkhaftigkeit, naiver Einfalt und berechneter Schlauheit zur Schau.

Mit schalkhafter Wichtigkeit hob er an: „Erlauben Sie mir, meine Herren Cameraden, die etwas periphrasirte Auslassung des Herrn Lieutenant v. Radel aus der Enveloppe zu schälen, in welche sie so künstlich eingehüllt ist, und Ihnen dieselbe in ein allgemein verständliches Deutsch zu übersetzen. Der Herr Lieutenant wollte sagen: „Jungens! eigentlich wißt Ihr Alle nichts, aber durchfallen werde ich Euch deshalb doch nicht lassen. Beantwortet meine Fragen nur rasch und fest, mit der Unverschämtheit, die Euch ja sonst nicht fremd ist, und ich werde aus dem ungeheueren Unsinn Eurer Entgegnungen schon ein Körnchen herausfinden, welches ich dem Alten, der auch gerade kein mathematisches Genie ist, als pures Gold, gewonnen aus dem Schachte Eueres Wissens, vorlegen kann. Damit wird der Alte zufriedengestellt, und hierauf kommt es lediglich und allein an.“ Dies ist der langen Rede kurzer Sinn, und ich habe nur noch hinzuzusetzen, daß ich denjenigen für einen leibhaften Einfaltspinsel, für ein furchtsames altes Weib halten müßte, der nach einer solchen Andeutung noch an ein Nichtbestehen in dieser Wissenschaft denken wollte. Für mich, obgleich ich wahrlich kein besonderer Freund mathematischer Probleme und Calculationen bin, soll die Stunde des Tentamens zugleich eine Stunde des Triumphes sein. Ich werde die an mich gestellten Fragen mit göttlicher Unverschämtheit beantworten, und dadurch in der Meinung des Alten zu einem Vega oder Tempelhof emporsteigen. Nehmen Sie sich an meinem Selbstvertrauen ein Beispiel und reißen Sie die Furcht und den Kleinmuth aus Ihren Herzen.“

Der dicke Camerad machte hier eine kurze Pause, zog eine Tabaksdose hervor, nahm bedachtsam eine Prise und fuhr dann fort: „Die größte Sorge sind wir somit los. Lassen Sie uns dafür dankbar sein. Ein dreimaliges volltöniges Hurrah für den Lieutenant v. Radel, wäre wohl ganz an seiner Stelle, verschieben wir dasselbe aber lieber bis auf heute Abend. Ich erlaube mir nämlich, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es bei „Fust“ ein herrliches Glas „Münstersches Alt“ gibt, was selbst Gambrinus, der gerstenkundige König, nicht verachten würde, und lade Sie ein, dort zu erscheinen, um bei vollen Humpen des „edlen Stoffes“ unserer Verpflichtung gegen den Lieutenant v. Radel dankbarlichst nachzukommen. Auch wird uns eine kleine Stärkung nicht schaden, denn die „Millionenhunde“ und andere dergleichen zarten Benennungen, die der Alte morgen auf unsere erleuchteten Köpfe regnen lassen wird, werden Legion sein. Der edle Stoff macht aber den Geist elastischer und gegen die Zungenblitze des Herrn Brigadiers unempfindlicher. Ich weiß das aus tausendfältiger Erfahrung und bitte Sie deshalb, meinen Vorschlag in Erwägung zu ziehen.“

„Wir kommen,“ erschallte es mit Einstimmigkeit aus unserm Kreise.

„So darf ich mich also wohl für beauftragt halten, die nöthigen Arrangements zu unserer Aufnahme in dem bezeichneten Locale zu treffen?“ fragte v. Sorgen.

„Gewiß, wir bitten darum,“ lautete die einstimmige Entgegnung.

„Also auf Wiedersehen!“ rief der dicke Camerad, indem er, sich vergnügt die Hände rieb und die Freuden des bevorstehenden Bacchanals bereits zu empfinden schien.

Der Appell war beendigt; der Kreis löste sich auf, und wir gruppirten uns je nach den verschiedenen Vorschlägen, die für das Amüsement des Nachmittags gemacht wurden. Einige benutzten die noch übrige Tageszeit, um die Merkwürdigkeiten der alten Stadt in Augenschein zu nehmen, während die Meisten sich nach bekannten Kaffee- und Weinhäusern begaben, um, wie sie sich ausdrückten, eine solide Grundlage für den Abend zu legen.

Es war 7 Uhr Abends. Die Bierstube bei Fust füllte sich nach und nach bis auf den letzten Platz. Der Camerad v. Sorgen hatte es von dem Wirthe zu erlangen gewußt, daß für diesen Abend ein Zimmer ausschließlich für uns reservirt blieb. Die lange Tafel, welche sich durch dasselbe zog, war zu beiden Seiten mit schweren Sesseln aus Eichenholz umstellt, deren Construction und gebräuntes Ansehen auf ein ehrwürdiges Alter schließen ließ. Dieselben waren bereits sämmtlich von Cameraden besetzt, die es sich beim vollen Glase wohl sein ließen. Gleich nach 7 Uhr ordnete sich das Ganze zu einem „Commers“, bei welchem v. Sorgen auf allgemeines Begehr den Vorsitz übernehmen mußte. Unter dem studentischen Formwesen floß der edle Stoff in Strömen, und die zahlreiche Bedienung hatte alle Hände voll zu thun, um die durstigen Kehlen zu befriedigen. Zu den drei Hurrahs auf den Lieutenant v. Radel mußten drei „Ganze“ getrunken werden, womit der Abend gleichsam eingeweiht wurde. Lauter Jubel brauste bald durch das geräumige Zimmer. Der übliche Rundgesang umkreiste in der bekannten Weise die Tafel, in das lustige:
„Sa, sa, geschmaußet“
fiel der Chor mit begeisterter Lustigkeit ein, und als das herrliche „gaudeamus igitur“ intonirt wurde, stimmten Alle mit brausender Begeisterung ein. Ab und zu ergriff auch wohl Einer das Wort und sprach in humoristischer Weise von der zukunftschweren Bedeutung der nächsten Tage; satirische Charakterschilderungen bekannter Officiere knüpften sich daran, und so manche bezeichnende Anekdote aus des Alten ereignißreichem Leben, die sich nicht wiedergeben lassen, weil die Pointen doch etwas schwer verdaulich sind, wurde zum allgemeinen Ergötzen der Anwesenden erzählt und mit Hochs und dröhnenden Hurrahs, die weit über die Wände des Zimmers hinausschallten, aufgenommen.

So rauschte und brauste der Jubel durch viele Stunden ununterbrochen fort, bis endlich manche Zunge unbeweglich und mancher Kopf schwer wurde. Nach Mitternacht lichtete sich der Kreis immer mehr, aber es mochte wohl nicht lange vor Tagesanbruch sein, als die Letzten das Local verließen.

Auf solche Weise vorbereitet, gingen wir der Prüfung entgegen. Es hatte sich Niemand von dem Gelage ausgeschlossen, obwohl wir Alle wußten, daß ein benommener Kopf und ein deprimirender Katzenjammer die natürlichen Folgen des Abends sein mußten.


Der erste Tag der Prüfung brach trübe und düster an. Die bisher freundliche Sonne war in dicke Nebel eingehüllt, die sich später in einen feinen, dichten Sprühregen auflösten, der die ganze Atmosphäre verfinsterte. Noch finsterer sah es in unseren Köpfen aus, die unter den üblen Nachwirkungen der letzten Nacht bis zum Zerplatzen schmerzten. Der Unterofficier v. Sorgen, der allein nicht angegriffen zu sein schien, empfahl uns, „Hundehaare“ aufzulegen, womit er sagen wollte, daß wir einige Seidel des gestrigen Stoffs, welcher unser Unwohlsein veranlaßt hatte, auch gegen den Appetit hinunterstürzen sollten. Er hielt dies Mittel für unfehlbar, uns dagegen erschien es in Berücksichtigung der schweren Stunden, denen wir entgegen gingen, doch etwas gefährlich.

Des Morgens um 8 Uhr versammelten wir uns in dem Locale der Brigade-Schule, wo ein Zimmer zu unserer Prüfung besonders hergerichtet war. Wir wurden angewiesen, nach den Nummern der Compagnien Platz zu nehmen, durch welche Anordnung v. Sorgen, der, wie schon angeführt, bei der ersten Compagnie stand, die Stelle zunächst dem Katheder erhielt, auf welchem der Alte Posto fassen sollte.

Das Personal der Prüfungs-Commission war bereits anwesend. Außer dem Hauptmann Mühler und Lieutenant v. Radel zählten noch zwei Officiere dazu, von denen der Lieutenant Hohnemann unsere Wissenschaftlichkeit im Französischen und in der Geographie und der Feuerwerks-Lieutenant Pohlens unsere Kenntnisse in der Geschichte und in den militärischen Wissenschaften erforschen sollte. Der Ruf bezeichnete den Lieutenant Hohnemann als einen gegen sich und seine Untergebenen gleich strengen Officier, dessen Dienstkenntnisse weit über sein Alter hinausgingen. Er war gerade [335] bis zur Grobheit, aber geistig nicht besondern befähigt und ohne tiefe wissenschaftliche Bildung. Der Lieutenant Pohlens war in allen Beziehungen das Widerspiel seines Cameraden. Man nannte ihn einen hochgelehrten Mann, sein Kopf war aber so überfüllt von Wissensschätzen aller Art, daß darin kein Raum mehr vorbanden war, um auch noch die Vorschriften des Dienst-Reglements aufzunehmen. Er war nicht im Stande, seinen Zug richtig zu führen, und beim Exerceiren fiel er regelmäßig vom Pferde. Seine bekannte Gutmüthigkeit ließ uns hoffen, daß er unser Wissen mit Nachsicht beurtheilen werde. Es war eine satirische Natur, die den Kampf mit einem ebenbürtigen Gegner, wenn auch nicht suchte, doch gern aufnahm. Man sagte, daß selbst der Alte seinen ätzenden Humor fürchtete.

Die Stunde, mit welcher das Tentamen beginnen sollte, war bereits lange verstrichen, und der Alte, der sein Erscheinen angemeldet hatte, wollte noch immer nicht eintreffen. Die Herren Examinatoren wurden ungeduldig. Der Hauptmann horchte aufmerksam nach jedem Geräusch und hatte schon zum zehnten Mal die große Tabacksdose, aus welcher er in jeder Minute seiner Nase das gewohnte Futter zuführte, weggesteckt und sich in Positur gesetzt, um den gestrengen Herrn Oberst in militairischer Haltung zu empfangen. Da wurde es endlich laut auf der Treppe. Es stampfte herauf mit Säbelgeklapper und Sporengeklirr, und pustete und stöhnte wie eine überfüllte Dampfmaschine. Die Thür wurde weit aufgerissen, und der Alte erschien im Zimmer mit dem Federhute auf dem Kopfe. Von der Ehrerbietung, mit welcher wir uns bei seinem Eintritte von den Sitzen erhoben, nahm er keine Notiz und auch die Herren Officiere begrüßte er nur mit einem leichten „Guten Morgen“.

Der Herr Oberst schien nicht in der besten Laune zu sein. In seinem Gesichte zuckte es unheimlich durcheinander, seine Augen brannten, der Athem keuchte und durch die Pulse schien es wie Feuer zu ziehen. Brannte die Gluth zu häufiger Libationen, die er beim Frühstück dem Bacchus dargebracht hatte, auf seinen Zügen? Unmöglich! Der Wein hatte keine Macht über ihn; seine starke Natur ließ die Aeußerungen einer auch nur momentanen Weinseligkeit niemals bis an die Oberfläche kommen. Sollte er bereits Kenntniß von dem Gelage der letzten Nacht erhalten haben? Dies war leicht möglich. Es lief uns eiskalt bei dieser Besorgniß, die wir uns leise zuflüsterten, den Rücken herunter. Zu unserer Beruhigung kamen wir darüber bald in’s Klare.

Der Alte riß den Federhut vom Kopfe, warf ihn mit Heftigkeit zur Erde, was stets ein Zeichen der stärksten Erregung war, trat bis auf einen Schritt an den Hauptmann Mühler heran, und mit einer Stimme, welche die Fenster erbeben machte, fuhr er heraus:

„Herr Hauptmann, die Sauereien in Ihrer Compagnie nehmen überhand. Das muß ein Ende haben auf eine oder die andere Weise. Eine längere Nachsicht von meiner Seite wäre ein Verbrechen gegen den Staat. In den Salons unserer Kunstausstellungen sind Sie bestens orientirt, da spüren Sie an den dummen Bildern jeden Fehler, jeden falschen Pinselstrich auf, aber in der Caserne, dem Stall und der Küche Ihrer Compagnie, wo Sie nach Pflicht und Gewissen hingehören, sind Sie eine seltene Erscheinung. Und wenn Sie sich dort wirklich einmal blicken lassen, so sehen Sie auch noch nichts, sonst könnten solche Nichtswürdigkeiten, wie ich heute entdeckt habe, nicht Jahre lang unter Ihren Augen fortbestehen.“

Diese schweren Vorwürfe des erzürnten Brigadiers schienen den armen Hauptmann tief niederzubeugen. Seine kleine Gestalt zog sich noch mehr in sich selbst zusammen, die Stirn triefte von Schweiß, aber über die bebenden Lippen kam kein Wort der Entgegnung. Der Mann schien, wie ein Schneeball an der Sonne, vor den Zornesblicken seines strengen Vorgesetzten hinwegzuschmelzen.

„Ich bin so glücklich, Ihnen die Beweise für meine letzte Behauptung sogleich vor die Augen stellen zu könen,“ fuhr der Oberst fort, wobei er sich nach der Thür wandte und dieselbe weit öffnete. Auf seinen Wink trat ein spindeldürrer Unterofficier, mit Czacko und Säbel bewehrt, in das Zimmer; demselben folgten zwei fettwanstige Kolosse, deren glänzende Feistigkeit mit der verhungerten Gestalt des hageren Corporals einen merkwürdigen Contrast bildete. Die beiden Schmeerbäuche waren in lange Kittel von grauem Zwillich gehüllt, wie sie die Soldaten tragen, die in den Casernen die edle Kochkunst zu üben haben. Die Grundfarbe dieser Bekleidung war nicht mehr zu erkennen. Die Kittel waren mit einer dichten und dicken Fettlage überzogen, an welcher vertrocknete und auch noch blutige Fleischfasern in unappetitlicher Vermischung klebten. Das fetttriefende Haar hing den beiden Gestalten in langen Strähnen um den wulstigen Hals; in den beschmierten fettigen Vollmonds-Visagen waren die Augen aus den Fettwulsten, die sie einrahmten, kaum zu erkennen. In den dicken Fäusten trug eine jede dieser monströsen Figuren eine der Schüsseln, in welchen den casernirten Soldaten das Essen dargereicht wird.

„Sind das nicht prächtige Modelle für den Pinsel eines Meisters der niederländischen Schule?“ fragte der Oberst höhnend den gebeugten Capitain und lud ihn durch eine Handbewegung ein, näher heranzutreten und sich die Leute genau anzusehen. Der Hauptmann hatte in den widrigen Erscheinungen längst die beiden Küchenmeister seiner Compagnie erkannt, und war dadurch so alterirt, daß er kein Wort der Entschuldigung hervorzubringen vermochte.

„Ich muß den Herren nun doch auch erzählen,“ hob der Oberst nach einigen Minuten, in welchen er sich an der Verlegenheit des Capitains geweidet hatte, wieder an, „auf welche Art ich zu diesen beiden Prachtexemplaren militairisch-kulinarischer Erziehung gekommen bin. Der Weg hierher führte mich an der Caserne der zweiten Compagnie vorüber. Ich gehe da nie vorüber, ohne wenigstens für einige Augenblicke hineinzublicken, weil ich schon weiß, daß es dort immer etwas zu rügen und abzustellen gibt. So auch heute. Als ich in den Casernenhof trete, um mich nach dem Stalle zu begeben, duftet mir aus der Küche ein Arom entgegen, was sich unmöglich aus dem Dampfkessel der Menage entwickeln konnte. Ich merkte Unrath und schlich mich deshalb geräuschlos nach der Küche. Mit einer harmlosen Sicherheit, die jede Ueberraschung für unmöglich hielt, saßen diese beiden Stinkthiere am Heerde und löffelten aus jener Schüssel, welche dort das eine in den schmutzigen Pfoten trägt. Auf dem sorglich gedämpften Kohlenfeuer stand eine mächtige Pfanne, in welcher es lustig siedete und brodelte und aus der jene aromatischen Dünste emporstiegen, die mich zum Besuch der Küche veranlaßt hatten. Bei meinem unerwarteten Eintritt flogen die löffelnden Unthiere von ihren Sitzen empor, und der eine Kerl hatte so viel Geistesgegenwart, den Inhalt der Schüssel auf die Erde schütten zu wollen; doch ich war wie ein Blitz bei der Hand, und bevor der Vielfraß sein schlaues Manöver ausführen konnte, streckte ihn ein Schlag meiner Faust zu Boden. Der Andere stand wie ein ertappter Verbrecher mit klappernden Zähnen vor mir. Ich untersuchte den Inhalt der Schüssel und fand zu meinem nicht geringen Aerger in derselben eine Bouillon, nach welcher sich ein Lucullus die Finger lecken würde. Diese kostbare Brühe war sorgfältig bis auf das letzte Fettauge aus dem großen Kessel abgeschöpft, nur die beiden unfläthigen Faulthiere fraßen somit in aller Gemüthsruhe das Fett auf, welches für 150 Kanoniere berechnet war.“

Der Oberst winkte den Einen heran, nahm ihm die Schüssel aus der Hand und stieß ihn darauf, um sich vor jeder Berührung zu sichern, mit der Säbelscheide so heftig von sich, daß er bis an die Thür zurücktaumelte.

„Hier haben Sie die Bescheerung,“ rief er ingrimmig, indem er die Schüssel dem Capitain unter die Nase hielt. „Es ist dies eine Brühe so fett und konsistent, daß sie ein Ei tragen würde. In der Pfanne aber schmorten vier Pfund des schönsten Rindfleisches, was die Hunde nach der Suppe zu verschlingen gedachten, und dem alle diejenigen Ingredienzen zugesetzt waren, welche die Bereitung eines guten Beefsteaks bedingen. Nur bemerkte ich, daß es nicht genug geklopft war, und darum erlaubte ich mir, es aus der Pfanne zu nehmen, und den beiden gierigen Wölfen so lange um die Ohren zu schlagen, bis es so windelweich war, daß ein Kinder-Magen es verdauen kann.“

Auf seinen Befehl hob der dürre Corporal aus der zweiten Schüssel einen halbgebratenen mächtigen Fleischfetzen hervor, der, nur noch mit einzelnen Fasern aneinanderhing.

Der Oberst wandte sich hierauf wieder an den Capitain, indem er sagte: „Ich habe die Leute Ihrer Compagnie bisher in dem schlimmsten Verdacht gehabt. Die Kerle sehen so entkräftet und hohläugig aus, als hätten sie in Sodom und Gomorra in Garnison gelegen und dort die wilden Orgien durchgekostet, von denen die Bibel erzählt. Jetzt freilich bin ich anders belehrt. Die [336] Leute sind schlecht genährt, darin allein liegt die Ursache ihres üblen Aussehens. Diese beiden fettduftenden Eskimos tragen die Kraft der ganzen Compagnie in ihren stinkenden Kaldaunen. Während dieselben sich täglich mit dem Extract der für 150 Mann berechneten Rationen mästeten, mußte die betrogene Mannschaft warmes Spülwasser, kraftloses Gemüse und die bestohlenen Fleisch-Portionen aus Wasser und Salz essen.“

Die Stimme des erzürnten Brigadiers wurde noch drohender, als er fortfuhr: „Es wäre nun freilich Ihre Pflicht gewesen, Herr Hauptmann, durch eine stete Controle einen solchen groben Betrug unmöglich zu machen, Und es liegt nicht in meiner Absicht, Ihnen die Verantwortlichkeit dafür zu erlassen. Von dem Officier du jour, der, wie bereits festgestellt ist, während der ganzen Woche mit keinem Fuß in der Küche gewesen ist, habe ich mir bereits den Degen auf acht Tage ausbitten lassen; gegen Sie, Herr Hauptmann, behalte ich mir ein besonderes Verfahren vor.“

Der arme Capitain erlag beinahe unter dem Gewichte dieses öffentlichen Verweises; er drehte und wandte sich hin und her und konnte doch nicht soviel Haltung gewinnen, um wenigstens äußerlich ruhig zu erscheinen und seine Würde zu bewahren.

„Was gedenken Sie denn nun mit diesen Groß-Mandarinen der Freßkunst zu thun?“ fragte ihn der Oberst nach einigen Augenblicken eines beängstigenden Schweigens.

Der Capitain richtete sich aus seiner gebeugten Stellung empor und schaffte sich die Beängstigung, unter der er litt, in folgenden Worten von der Brust: „Ich werde die beiden Kerle sofort in die Compagnie zurücknehmen und sie wegen Betrug und Unterschlagung zum standrechtlichen Verfahren bringen.“

„Nichts davon!“ rief der Oberst mit Heftigkeit. „Das ist eine ganz verkehrte Maßregel. Wenn Sie diese Wölfe in die Compagnie zurücknehmen, so müssen Sie zwei andere Leute an deren Stelle in die Küche commandiren, die es wenigstens anfänglich noch toller treiben werden, während sich jene schon durchgefressen haben und darum nicht mehr so viel verschlingen können. Und mit Ihrem standrechtlichen Verfahren bleiben Sie mir ganz und gar aus dem Tornister. Erst werden die Leute durch die pflichtwidrigste Aufsichtslosigkeit zur Saumseligkeit und Lodderei förmlich hingeführt, und wenn dann irgend einmal eine Teufelei entdeckt wird, dann soll es sich gleich um Galgen und Rad, um Ehre und Zukunft handeln. Nein, mein Herr Hauptmann, daraus wird diesmal noch nichts! Ich weiß überhaupt nicht, wie sich ein solches Verfahren mit den humanistischen Grundsätzen verträgt, welche die Herren so gern zur Schau tragen. Bloße Schönrederei, weiter nichts, geschöpft aus dem großen Hexenkessel, der an der andern Seite des Rheines, in dem freien Frankreich, gerade jetzt so lustig überkocht und mit seinen mephitischen Dünsten auch schon manchen ehrlichen deutschen Kopf vergiftet hat. Die Farce da drüben mit ihrem Bürger-König, der mit der Nationalgarde – „Gevatter Schneider und Handschuhmacher!“ – Cigarren raucht und Champagner trinkt, wird nicht lange dauern. Ein zweiter Napoleon, der die langathmige Revolution auf den Schlachtfeldern Europa’s zu Tode zu hetzen versteht, wird das Ende der alten Posse sein, die man dort so eben mit so großem Eclat neu in Scene setzt. Ich hoffe, daß die ultima ratio unser liebes Deutschland vor einer ähnlichen Entwürdigung bewahren wird.“

Der Alte hatte sich in einen bedeutenden Zorn hineingeredet und brauchte einige Augenblicke, um sich etwas abzukühlen. Endlich hob er wieder an: „Das Verfahren gegen diese beiden Canaillen muß ich schon selbst anordnen,“ und sich an den hageren Corporal wendend, setzte er hinzu: „Sie bringen die beiden Schmierlappen in die Caserne zurück, lassen sich dort von dem Feldwebel vier Mann geben und begeben sich mit denselben nach dem Stall. Die Schmutzfinken werden dort ausgezogen, auf die Pritsche gelegt, und nachdem sie von oben bis unten eingeseift sind, mit Strohwischen und Wasser tüchtig abgerieben. Es schadet nichts, wenn dabei auch einige Hautfetzen an den Strohwischen hängen bleiben; das befördert die Transspiration und vermehrt die Verdauung. Nach dieser Wäsche lassen Sie den Kerls das Haar bis auf die Wurzel abschneiden, demnächst reine Bekleidung anlegen und hierauf dieselben zu ihrer Verrichtung nach der Küche zurückführen. Sobald die Compagnie abgegessen hat und die Küche aufgeräumt ist, bringen Sie dieselben in strengen Arrest, aus welchem sie des Morgens um acht Uhr wieder abzuholen und zu ihren Geschäften nach der Menage zurückzubringen sind. Diesem zeitweisen Arrest und der täglichen Wäsche bleiben die beiden Misthaufen durch acht Tage hindurch unterworfen, nach welcher Zeit, wie ich hoffen darf, dieselben wieder ein menschliches Ansehen erlangt haben werden. Es ist dies ein kosmetisches Mittel meiner eigenen Erfindung. Probatum est! Und nun hinaus mit den ekelhaften Speckmaden!“

Und eh’ er noch die Rede schloß,
Ging schon die Retirade los.

Um den Rückzug zu beeilen, ergriff der Alte einen Stuhl und warf ihn nach den Flüchtigen, wo er an dem breiten Rücken des Letzten zerbrach.

Ein abermaliges „Heraus – Herrr – raus!“ und ein zweiter Stuhl, der drohend in der Luft schwebte, brachte die Gruppe schnell in raschere Bewegung. Die Bedrohten stürzten in eiliger Flucht aus der Thür und kopfüber die Treppe hinunter, gefolgt von unserem schallenden Gelächter, welches sich nicht länger unterdrücken ließ. Der Oberst stimmte zuletzt in die allgemeine Heiterkeit mit ein, und dadurch kühlte sich die Heftigkeit seines Zornes vollständig ab, so daß sich dies Vorspiel zu unserer Prüfung auf die würdigste Weise schloß.

[350] Nachdem die Ruhe wieder hergestellt war, entfernte sich der Oberst auf einige Zeit, nachdem er befohlen hatte, die Prüfung erst nach seiner Rückkehr zu beginnen.

Der Ausdruck seines ganzen äußeren Menschen deutete auf Durst, den er jedoch nicht mit Wasser zu löschen gedachte. Wasserscheu war dem Alten mit unverkennbaren Schriftzügen auf die Stirn geschrieben. Nach einer guten halben Stunde kehrte er zurück. Sein Gesicht war mit einer Scharlachröthe bedeckt, und durch diese flammenfarbige Region zog jene Jovialität, die das Eigenthümliche seines Charakters war, ihre grellen Blitze. Er bestieg das Katheder.

„Ein seltsamer Professor!“ schmunzelte er, während er es sich auf der ungewohnten Stelle bequem machte. „Ob die gelehrten Herren in den weiten Roben mich wohl als ebenbürtig anerkennen würden? Ich glaube kaum. Und doch besteht der ganze Unterschied zwischen uns darin, daß jene die Raupen im Kopfe und ich dieselben auf den Schultern trage.“

Der Alte sah sich nach Beifall um, den ihm der Hauptmann Mühler in einem zustimmenden Gelächter entgegentrug. „Ein lederner Witz!“ brummte der Lieutenant Pohlens, während sich das Gesicht des Lieutenants v. Rade! in jene satirisch-humoristischen Fallen legte, welche es so geistreich machten.

„Lassen Sie uns endlich an die Geschäfte des Tages gehen,“ begann der Alte nach einigen Augenblicken der Ruhe, die er dazu angewandt hatte, seine prüfenden Blicke über die langen Zeilen blasser Gesichter laufen zu lassen, an deren Besitzer der Ernst des Tages immer näher herantrat. „Reichen Sie mir doch die von den Compagnien eingegangenen Nationale der jungen Leute, Hauptmann Mühler,“ sagte der Oberst. „Ich will mich zunächst über die persönlichen Verhältnisse derselben informiren, damit ich doch weiß, aus welcher Classe der Bevölkerung sich das Officier-Corps meiner Brigade completiren wird.“

Nachdem er die verlangten Papiere empfangen hatte, sagte er zu uns: „Derjenige, dessen Namen ich aufrufen werde, tritt an mich heran und beantwortet meine Fragen offen und dreist.“

Es folgte nun eine düstere Pause, während deren sich der Oberst mit der Durchsicht der über uns sprechenden Papiere beschäftigte. „Bombardier Schwalbe!“ rief er endlich, nachdem er bereits die Hälfte der Nationale ohne weitere Bemerkung zurückgelegt hatte. Der Bezeichnete stand auf und trat bis auf einige Schritte an den Alten heran.

„Ich ersehe aus Ihrem Nationale, daß Sie in Hamburg geboren sind; was veranlaßte Sie denn, in preußische Dienste zu treten?“

„Mein Onkel, Herr Oberst, der in Berlin ansässig ist, kannte meine Neigung für das Militair und glaubte, daß die Aussichten auf Avancement in der preußischen Armee ungleich besser seien, als bei den Truppen in Hamburg, und ermöglichte deshalb meinen Eintritt in die Artillerie.“

„So, so – o! Also lediglich die Aussicht auf ein schnelleres Avancement führte Sie in unsere Reihen, und der Ruhm, die Kriegstüchtigkeit und Disciplin unserer glorreichen Armee kam bei der Bestimmung Ihres Entschlusses gar nicht in Erwägung? Na, Sie könnten sich in Ihrem Calcül doch gewaltig geirrt haben. Was ist denn eigentlich Ihr Vater?“

„Kaufmann, Herr Oberst.“

„Kaufmann! das ist gar nichts gesagt. Seine alttestamentalische Herrlichkeit, der Baron Rothschild, mit dem österreichischen Stammbaum von vier Ahnen, nennt sich auch Kaufmann, und jeder Sackjude beansprucht dieselbe Bezeichnung. Aber ich kann mir das schon vorstellen. Ihr lieber Papa hat so sein kleines Krämchen und schachert mit alten Kleidern, Schuhsohlen und verbrauchten Lumpen.“

Die rücksichtslose Behandlung, die dem armen Bombardier widerfuhr, machte ihn erbleichen. Es war eine jener Naturen, die jedes Unrecht, das ihnen angethan wird, tief empfinden, aber nicht die Energie haben, es abzuschütteln und auf den Angreifer zurückzuwerfen. In diesem Falle war dies freilich nicht möglich, denn der Oberst war nicht der Mann, der sich von einem Untergebenen die Faust zeigen ließ, aber die leidende Haltung, die der junge Mann annahm, die sich namentlich durch zwei große Thränen ausdrückte, welche langsam an seinen Wangen herunterrollten, brachte ihn bei dem Alten in noch größeren Mißcredit.

„Der hoffnungsvolle Sohn der freien Reichsstadt weint!“ schrie er mit zornigem Lachen. „Fort, auf Ihren Platz! Und das merken Sie sich, so lange der alte Tuchsen einen Wahlzettel zu schreiben hat, wird solch weinerlicher Syrupsjunge nicht Officier, und wenn er die Gelehrsamkeit mit Löffeln gefressen hat.“

Der arme Schwalbe schlich niedergebeugt auf seinen Platz. Der Alte brummte und keifte noch einige Augenblicke, und vertiefte sich dann wieder in die vor ihm ausgebreiteten Papiere. Nach einiger Zeit rief er: „Da haben wir ja schon wieder einen Ausländer, und noch dazu einen edlen Bürger der freien Schweiz. Bombardier Werter! Gönnen Sie mir die Ehre, Sie kennen zu lernen.“

Der Vorgeforderte war groß, kräftig und von guter Haltung. Geistige Leerheit stand ihm auf dem Gesichte geschrieben; seine paar Ideen wußte er aber gut in Ordnung zu halten, und bei passenden Gelegenheiten mit Vortheil an den Mann zu bringen. Der Oberst betrachtete ihn einige Augenblicke mit großer Aufmerksamkeit, und die Abneigung, die er gegen Ausländer hegte, schien unterzugehen in dem Wohlgefallen, welches das militairische Aeußere und die imponirende Haltung des jungen Mannes ihm einflößte. „Sie sind in der Schweiz geboren?“ fragte er mit vieler Zurückhaltung.

„In Bern, Herr Oberst.“

„Und wo haben Sie die zu ihrer jetzigen Carriere erforderliche wissenschaftliche Ausbildung genossen?“

„Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahre besuchte ich die Schulen meiner Vaterstadt, demnächst siedelte meine Mutter nach Preußen über, und ich kam nach D. in die Erziehungsanstalt des Herrn Grafen v. d. R.“

„Habe ich recht gehört?“ schrie der Oberst und sprang auf, als hätte ihn eine Viper gebissen. „In D., in der renommirten Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder, haben Sie den letzten Schliff an Ihre Erziehung gelegt?“

„Der Herr Graf hatten die Gnade, meine wissenschaftliche und sittliche Fortbildung mit besonderer Strenge zu überwachen,“ entgegnete der Bombardier piquirt.

„Und aus Dankbarkeit praktisirten Sie bei ihm den inneren Dienst?“ entgegnete der Oberst, wobei er mit der rechten Hand die Bewegungen des Stiefelputzens nachahmte.

Bei dieser verletzenden Anspielung erbleichte der junge Mann bis unter die Haare der mit Schweiß bedeckten Stirn. Die Blässe nahm jene bleibende Farbe an, die blondhaarigen Personen eigen ist und auf Gemüthserregungen hindeutet, die, wenn sie zum Ausbruche kommen, äußerst gefährlich sind. Doch wagte es der Paroxysmus nicht, die eisernen Fesseln der Disciplin zu durchbrechen, und der Oberst ließ ihn nicht an die Oberfläche kommen, indem er mit seiner gebieterischen Löwenstimme rief: „Fort, auf Ihren Platz! Sonst könnte die Berufung über Sie kommen, uns in einer langathmigen Kapuziner-Predigt abzukanzeln.“

Der mit einer so scharfen Lauge gewaschene Bombardier kehrte mit zornsprühenden Augen nach seinem Sitze zurück. Der Oberst dagegen wandte sich mit folgender Auslassung an die Herren von der Prüfungs-Commission: „Ich achte und ehre die wahre Frömmigkeit, bedaure aber, daß dieses Element im Menschen so häßlicher Verirrung fähig ist und zu so abscheulichen Zwecken gemißbraucht wird. Die Sendlinge, welche die pietistischen Cirkel, diese Lebensverdüsterungs-Anstalten, diese Schulen systematischer Verdummung, über das Land ausspeien, sind zum großen Theil blasirte Menschen, die unter dem Mantel einer gleißnerischen Frömmigkeit die gröbsten Laster verbergen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Lassen Sie sich eine kleine Geschichte erzählen, die meiner Behauptung als Beweis dienen soll.“

Der Oberst brachte sich in eine bequeme Positur und begann darauf: „Im Herbste des vorigen Jahres saß ich an einem kalten, trüben Tage mit vieler Seelenruhe beim Frühstück, ließ mir den Madeira aus meinem Keller gut schmecken und bedauerte nur, [351] daß ich den feurigen Insulaner so allein hinuntergießen mußte. Ich trinke nicht gern allein, und darf mit Octavio Piccolomini sagen:

„Ein halben Dutzend guter Freunde höchstens
Um einen kleinen, runden Tisch, ein Gläschen
Tokaier Wein, ein off’nes Herz dabei
Und ein vernünftiges Gespräch – so lieb ich’s.“

„Mein Verlangen nach Gesellschaft sollte sich dieses Mal schnell erfüllen. Es wurde mir nämlich von meinem Diener ein Herr Geisbock gemeldet, der mich in einer hochwichtigen Angelegenheit zu sprechen wünsche. Ich ließ ihn einführen. Herr Geisbock stellte sich mir als Apostel der Wupperthaler Missionsgesellschaft vor, der die „Berufung“ erhalten habe, mit den Brosamen des Worts, die aus der Quelle des Lichtes der Erlösung der frommen Wupperthaler Gesellschaft fließen, auch die verwahrlosten Soldaten zu speisen und bei denselben namentlich auf die Enthaltung von allen alkoholhaltigen Getränken hinzuwirken. Er überreichte mir ein Convolut Berliner und Wupperthaler Betteltractätlein, deren erstes Heft ein Titelkupfer führte, auf welchem der Teufel einen Soldaten am Strick hielt, und erbat sich meine Protection und Mitwirkung bei dem frommen Werke. – Der Herr Apostel war eine lange, hagere Gestalt mit bleichem Gesichte, in welches die Sinnlichkeit tiefe Furchen geschnitten hatte. Das Auge war erloschen, die Züge todt und beinahe bewegungslos. Das fettige, semmelblonde Haar war sorgfältig gescheitelt und hing lang über den Kragen eines dunkelfarbigen Rockes hinab, der nicht nach dem Schnitte der Welteitelkeiten gefertigt war. Die weiße Wäsche war ohne Tadel, bleichte aber die Gesichtsfarbe, die unter den Liebesexercitien, denen sich diese modernen Heiligen in ihrer engern Gemeinschaft hingeben sollen, erdfahl geworden war, zu einem schmutzigen Gelb. Der Mensch machte den widerlichsten Eindruck auf mich, und ich war nahe daran, ihm die himmlische Speise, die er mir in den Druckschriften überreicht haben wollte, in’s Gesicht zu werfen und ihn mit Fußtritten aus dem Heiligthume meiner Häuslichkeit hinauszutreiben, als ich wahrnahm, daß dieser Prediger absoluter Enthaltsamkeit sehr begehrliche Blicke nach der Madeiraflasche auf dem Frühstückstische warf.

„Diese Beobachtung änderte mein Vorhaben. Ich wollte den Menschen in seiner ganzen Niedrigkeit sehen und ihn benebelt zu seinen frommen Brüdern schicken. In dieser Absicht kämpfte ich den Unwillen nieder, der gegen diesen Heuchler in meiner Brust gährte, und lud ihn mit der gewinnendsten Herablassung ein, an meinem Frühstücke Theil zu nehmen. Er zierte sich nicht lange, nahm ungenirt mir gegenüber Platz und goß das Glas Wein, welches ich ihm einschenkte, hinunter, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Es sei die Erleuchtung über ihn gekommen, hob er hierauf an, daß es ihm gelingen werde, mich für die heilige Angelegenheit seiner Gesellschaft zu gewinnen und meine sündige Seele aus den Klauen des Teufels zu erretten; nur müsse er dafür zum Märtyrer werden und, um mich zu bekehren, vorläufig mit mir den Weg der Hölle wandeln. Dies sei ihm in diesem Augenblicke von Gott befohlen, der ihn für diese Stunde von dem strengen Gelübde der Enthaltsamkeit losgebunden und ihm aufgegeben habe, mit mir zu trinken, um meine Gunst zu erringen und dadurch Gelegenheit zu erhalten, mich für die Sache der Gesellschaft zu gewinnen.

„Ich war nahe daran, dem lästernden Schurken die Flasche, an den Kopf zu werfen, doch mäßigte ich mich, verschloß meine Ohren und meine Seele gegen die Salbadereien des Heuchlers und trank ihm tapfer zu, um möglichst schnell mit ihm an’s Ende zu kommen. Doch wir hatten bereits zwei Flaschen meines kräftigsten Madeira’s geleert, ohne daß sich irgend eine Erregung an ihm bemerken ließ. Die dritte und vierte Flasche folgte, der bleiche Mensch blieb so nüchtern, als hätte er Wasser getrunken, während ich, ich will es nicht verhehlen, schon das Gewicht des starken Weines zu fühlen anfing. Ich ließ zwei neue Flaschen bringen, deren Inhalt fast ganz in der bodenlosen Kehle dieses Enthaltsamkeits-Apostels verschwand.

„Ist das Rum vor Ihnen?“ fragte er mich, nachdem er soeben das letzte Glas der sechsten Flasche hinuntergestürzt hatte. „Darf ich Sie darum bemühen?“

„Ich reichte ihm die Flasche, er füllte sich ein großen Glas und goß das flüssige Feuer mit einem Zuge hinab. – Das ging mir doch über den Spaß. „„Altes ausgepichtes Spiritusfaß!““ schrie ich ihm zu, „„Du mußt mit dem Hohenpriester Eurer Gesellschaft, dem Satan, im Bunde stehen, sonst müßtest Du lange am Boden liegen.““ – Der würdige Mann erhob sich langsam von seinem Stuhle und stand kerzengerade vor mir.

„Siehe, Du Mann der Gewalt,“ hob er feierlich an, „der Du weder an Gott noch an seine Wunder glaubst, der Allmächtige hat in seiner Barmherzigkeit, in der Unendlichkeit seiner verzeihenden Liebe, vor Deinen Augen ein Wunder geschehen lassen, um Deine verwahrloste Seele für den Glauben zu retten. Ich, der schwache Jüngling, der seinen Durst mit dem Wasser aus den Bronnen der Wüste löscht und seine Zunge mit dem Thau des Himmels netzt, durfte Fluthen Deiner giftigen Flüssigkeit verschlingen, ohne daß mein Gehirn dadurch belästigt ist. Der Herr verwandelte das flüssige Feuer, wenn es meine Zunge berührte, in lauteres Wasser, sodaß mein Verstand immer klarer und meine Zunge biegsamer wurde, während Dein Geist und Körper in den Banden einer schmachvollen Trunkenheit schmachtet.“

„Herr–raus, verfluchter Gotteslästerer!“ schrie ich und warf ihm zuerst die Betteltractätlein in’s Gesicht. Eine Flasche zersplitterte an der Thür, die der flüchtige Heilige schnell genug zwischen sich und meinen Zorn zu bringen wußte. Meine Hunde verfolgten ihn die Treppe hinunter, ich aber eilte an das Fenster, um seinen Gang und seine Haltung zu beobachten, und mußte die bittere Wahrnehmung machen, daß das süße „Jesuslämmlein“ ohne Wanken und Straucheln seinen Weg verfolgte. Am nächsten Tage erhielt ich eine Rechnung, wonach ich zehn Silbergroschen für das Ausbessern seiner Beinkleider, die meine Hunde zerrissen haben sollten, bezahlen mußte. Ich war offenbar der Düpirte. Ich überlasse es Ihnen, meine Herren, die Nutzanwendung aus dieser Geschichte zu ziehen. Meine Antipathie gegen Alles, was nur im Entferntesten nach Muckerei und Pietisterei riecht, werden Sie sich jetzt zu erklären wissen. Diese lichtscheuen Conventikel sind Pasquille auf’s Christenthum, und die gerühmte Bildung und Civilisation unserer Zeit muß nicht weit her sein, wenn sie solche Erscheinungen unter sich aufkommen läßt.“

Nach dieser Einschaltung beschäftigte sich der Oberst wieder mit der Durchsicht der Nationale.

„Bombardier Kohlhüter,“ rief er nach kurzer Zeit.

Der Bezeichnete erschien vor dem Katheder.

„Ihr Vater,“ begann der Oberst, ohne von dem Papier aufzusehen, „ist in Ihrem National als Landsturm-Major aufgeführt. Dies ist aber eine Charge, die nur für die Kriegsjahre von 1813 und 1814 Geltung hatte, und zu welcher in jener Zeit der Noth Schuster und Schneider ernannt wurden. Ich frage deshalb, was für eine Stellung nimmt Ihr Vater im bürgerlichen Leben ein?“

Bei dieser Frage blickte der Oberst auf, fuhr aber erstaunt zurück, als sein Auge auf den Bombardier traf.

„Ein Pavian in der Uniform meiner Brigade!“ rief er mit grimmigem Lachen aus.

Und wirklich mochte es kaum eine zweite Gestalt geben, in welcher sich das Affenthum so der Menschheit assimilirt hatte. Der Bombardier war klein von Figur und trug sich gebückt. Sein Körper ruhte auf krummen Säbelbeinen, die entsetzlich hager waren. Vor Allem litt sein Gesicht an Mangel von Fleisch, so daß die runzlige Haut auf den bloßen Knochen zu hängen schien. Die kaum fingerhohe Stirn verlor sich in einem Wald von braunrothen Haaren, deren struppiger Wuchs der Bürste spottete. Die Nase war eingedrückt, der Mund ungewöhnlich groß und das Kinn lang und zurückgezogen. In den Augen spielte das unstete Flunkern, welches die kleinen Affenarten so widerlich macht. Der Ausdruck aller dieser Anomalien wurde dadurch noch unangenehmer, daß die Gesichtsmuskeln in einer steten zuckenden Bewegung waren, die der Bombardier auch mit dem Aufgebote seiner ganzen moralischen Kraft nicht zu unterdrücken vermochte.

Der Oberst betrachtete den jungen Mann einige Minuten mit immer steigendem Erstaunen, was so groß war, daß er selbst die Antwort überhörte, die der Bombardier auf die von ihm gestellte Frage gab.

„Na, meine Herren,“ wandte er sich endlich mit einer wahrhaft kläglichen Stimme an die Officiere, „was führt doch der Himmel in seinem Zorn für einen Abhub des menschlichen Geschlechts zu meiner Brigade! Haben Sie jemals ein herrlicheres Ensemble menschlicher Häßlichkeit gesehen, als in dieser Gestalt ausgedrückt ist?“ Und sich nach dem Bombardier zurückwendend, rief er voll [352] Abscheu: „Fort, hinweg! Ich will weiter nichts hören. Ihren Vater, den Herrn Cameraden vom Landsturm, werde ich wohl in irgend einer Menagerie suchen müssen.“

Er warf die noch nicht durchgesehenen Nationale mit Ekel aus der Hand, wobei er die Verse citirte:

„Vorüber, ihr Schafe, vorüber,
Dem Schäfer ist gar zu weh.“

Die Ocular-Inspection war hiermit beendet, und das Examen konnte beginnen. Der Tag war für die Prüfung in der Mathematik bestimmt, der Hauptmann Mühler erlaubte sich aber dem Alten bemerklich zu machen, daß es bereits elf Uhr sei und die kurze Zeit bis ein Uhr, mit welcher Stunde täglich geschlossen werden sollte, zu einer gründlichen Prüfung in der Mathematik nicht ausreichen möchte. Er fragte, ob der Herr Oberst nicht lieber an deren Stelle das Französische setzen wollte. Der Oberst ging auf diese Abänderung ein und gab dem Lieutenant Hohnemann den Befehl, die mündliche Prüfung in der französischen Sprache zu beginnen.

Diese Abänderung war uns im hohen Grade unangenehm. Wir hatten uns nämlich gestanden, daß gerade das Französische die schwache Seite unseres Wissens sei. Unsere Erziehung datirte aus jener Zeit, wo man zu patriotisch war, um an die Sprache des Feindes auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Gab es doch Gymnasien, die in den zwanziger Jahren das Französische ganz aus ihrem Lehrplane gestrichen hatten. Unser Wissen in dieser Sprache war deshalb auch sehr lückenhaft, und es gab unter uns nur sehr Wenige, die der Prüfung, so gering auch die Ansprüche waren, die man nach dieser Seite hin an uns machte, mit Ruhe entgegensehen durften. Dazu kam noch, daß wir auf diesem Felde den Alten am meisten zu fürchten hatten, weil er der französischen Sprache durchaus mächtig war und somit unsere Leistungen vollständig beurtheilen konnte. Wenn das Französische, wie es im Plane lag, an dem letzten Tage des Examens Gegenstand der Prüfung geworden wäre, so durften wir hoffen, daß er entweder gar nicht mehr anwesend, oder uns doch in Berücksichtigung der Kenntnisse, die wir bereits in den anderen Wissenschaften gezeigt hatten, bei diesem Gegenstande ein milder Richter sein werde. Jedenfalls durften wir doch annehmen, daß sich bis dahin der sengende Sarkasmus seiner einschneidenden Geradheit, der in unserer Unwissenheit die gewünschte Gelegenheit fand, sich in seiner ganzen Schärfe geltend zu machen, schon etwas abgekühlt haben würde.

Die Anforderungen, die man an uns stellte, waren, wie schon erwähnt, nicht besonders schwierig. Wir sollten einen leichten französischen Autor fließend übersetzen, ein deutsches Dictat ohne grobe Fehler französisch niederschreiben können und in der Conversation einige Gewandtheit haben. Dies war Alles sehr leicht, für uns aber dennoch sehr schwer, und unsere Wissenschaftlichkeit in der unglücklichen Sprache mußte sehr geweckt werden, wenn sie zu den Anforderungen ausreichen sollte.

Die Prüfung begann.

Der Lieutenant Hohnemann sprach den Unterofficier v. Sorgen französisch an und forderte ihn auf, die Autoren zu nennen, welche er gelesen habe, und ihm einen kurzen Ueberblick über seine Kenntnisse in der französischen Sprache zu geben. Natürlich erwarte er die Antwort in derselben Sprache, in welcher die Frage gestellt sei.

Der Unterofficier v. Sorgen schien durch dies Ansinnen keinen Augenblick in Verlegenheit zu kommen. Er antwortete sofort und parlirte einige Minuten in so flüssigen Redensarten, daß man meinen konnte, er rede seine Muttersprache. Es setzte uns dies in nicht geringes Erstaunen, da wir wußten, daß unser lieber Camerad nach seinem eigenen Geständnisse zu denjenigen gehörte, die gar nichts wußten, die nicht einmal flüssig lesen konnten.

Den Alten schien die Gelehrsamkeit des v. Sorgen gleichfalls zu überraschen. Er hörte einige Augenblicke mit Aufmerksamkeit zu und rief dann lachend: „Sieh’, da hat ja dieser Erzwindbeutel auch eine starke Seite. Der Junge parlirt ja wie ein Professor der französischen Akademie. Das Maulwerk dazu hat er schon.“

„Nichts als Dummheiten, Herr Oberst,“ entgegnete der finstere Examinator. „Eingelernte Phrasen auf eine Frage, die er voraussehen konnte.“

„Unmöglich!“ brummte der Oberst ärgerlich.

„Refaites-le!“ rief er dem Unterofficier zu.

Dieser begann seine Litanei von Neuem, und zwar mit einer Furchtlosigkeit und Zungenfertigkeit, die in Erstaunen setzte.

„Taisez-vous. Tais-toi!“ unterbrach ihn der Alte schon nach den ersten Sätzen. Der Unterofficier, der diesen Zuruf nicht übersetzen konnte, schwadronirte ruhig fort, bis der Oberst wüthend aufsprang, ihm die riesige Faust vor die Augen hielt und mit einem Gebrüll, das die Fenster beben machte, ausrief: „Taisez-vous. autrement je vous ferme la bouche!“

Die verständliche Handbewegung brachte unsern kecken Cameraden endlich zum Schweigen.

„Kreuz-Millionen-Donnerwetter!“ schrie der Alte, „eine solche kecke Dummdreistigkeit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Aber ich kenne diesen dicken Millionenhund schon, der überbietet an Frechheit und Selbstvertrauen den ärgsten Mucker, und es gibt keine Dummheit, die er nicht auszuführen und zu vertreten geneigt wäre. In hundert Kneipen ist er Stammgast und bei allen Schenkmädchens Hahn im Korbe. Die schönen Redensarten, durch welche er uns bestechen wollte, hat er sich jedenfalls auch von einer französischen Gouvernante oder Bonne einpauken lassen. Aber ich werde dem ausgepusteten Windsack diese Flausen anstreichen. Balgentreter und Steineklopfer kann er werden, aber nicht Artillerie-Officier. Halten Sie sich nicht länger bei dem Stockfisch auf, Herr Lieutenant. C’est une buse!“

Der nächste Camerad erlag schon bei der ersten Frage.

„Imbécile que vous étes!“ schrie der Alte, als der junge Mann bei seiner Entgegnung einige Augenblicke in seinem Gedächtnisse nach einer fehlenden Vocabel suchte. „Verlieren Sie keine Zeit, Herr Lieutenant, aus dessen Hirnkasten filtriren Sie doch nichts heraus. Den kenne ich schon: c’est un bon diable, der nicht einmal so viel Geist und Muth hat, um mit Geschick einen dummen Streich auszuführen. Den hat der liebe Gott auch in seinem höchsten Zorn zum Artilleristen gemacht.“

Der Nächste, als er in seiner Antwort einige Unsicherheit zeigte, wurde von dem Alten mit einem vous étes un nigaud abgefertigt; und so bekam ein Jeder sein Theil mit Ausnahme des „Weinerlichen“, wie der Oberst den armen Schwalbe nannte, und des „Verwahrlosten“, womit er den Bombardier Werter bezeichnete, welche die Sprache beherrschten und sich darin mit Gewandtheit auszudrücken vermochten.

Der Camerad Kohlhüter wußte gar nichts, er konnte kaum richtig lesen und nicht einmal den leichtesten Satz aus dem Französischen in’s Deutsche übersetzen.

„Cet homme me répugne!“ rief der Alte. „Lassen Sie es für heute genug sein, Herr Lieutenant. Es ist Mittag, wir wollen schließen.“

Zu mir gewandt, fügte er hinzu: „Mit Ausnahme des Weinerlichen und des Verwahrlosten habt Ihr Alle nichts gewußt. Das läßt sich aber noch nachholen. Zu Eurer Beruhigung kann ich Euch sagen, daß ich manchen braven Officier gekannt habe, der die Franzosen zu schlagen wußte, ohne von ihrer Sprache etwas zu verstehen. Morgen kommt die Mathematik an die Reihe. Da bitte ich mir aus, daß Ihr den heutigen Nachmittag dazu benutzt, Euch gehörig vorzubereiten. Bei der Entscheidung über Eure Tüchtigkeit zählt diese Wissenschaft mit vier Stimmen, und wer darin nichts weiß, kann die Hoffnung auf die Epauletten aufgeben, und mag sich nur immerhin mit dem Leierkasten bekannt machen, denn das Herumsingen würde doch sein endliches Loos sein. Also keine Bummelei heute! Den leichtsinnigen Millionenhund, den ich in einer Kneipe attrapire, schicke ich sogleich auf die nächste Wache. Ich nenne mich Tuchsen! Adieu.“


  1. Wie wir unsern Lesern bereits in Nr. 45 des letzten Jahrgangs mittheilten, derselbe Oberst v. Tuchsen, welchen Hackländer in seinen Soldatenbildern so anziehend schildert.  D. Red.