Friedrich Gottlob Wetzel als Beiträger zu Heinrich von Kleists „Berliner Abendblättern“

Textdaten
Autor: Reinhold Steig
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Titel: Friedrich Gottlob Wetzel als Beiträger zu Heinrich von Kleists „Berliner Abendblättern“
Untertitel:
aus: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, Band 127, S. 25–30
Herausgeber: Alois Brandl, Heinrich Morf
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Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Georg Westermann
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Erscheinungsort: Braunschweig
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Quelle: Internet Archive, Commons
Kurzbeschreibung:
Siehe auch Heinrich von Kleist
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[25]
Friedrich Gottlob Wetzel
als Beiträger zu Heinrich von Kleists „Berliner Abendblättern“.
Zu Kleists hundertjährigem Todestage.


Zu dem Kreise der Dresdener Schriftsteller, die an Kleists und Adam Müllers „Phöbus“ mitarbeiteten, gehörte neben Gotthilf Heinrich Schubert auch Friedrich Gottlob Wetzel. Wetzel hat in der Literaturgeschichte kein eigenes Nachleben geführt. Ein etwas verkanntes Genie, ist er schon bei Lebzeiten nicht zu rechter Geltung gekommen; sein Name wäre wohl gänzlich vergessen worden, hätte er nicht im „Phöbus“ neben dem Kleists gestanden, der ihm immerfort Licht verlieh. Neuerdings aber ist Wetzel wieder um seiner selbst willen auf die literarische Bildfläche gehoben worden, und zwar durch Franz Schultz in seinen Untersuchungen über den Verfasser der „Nachtwachen von Bonaventura“.[1]

Man wird sich erinnern, wie vor einiger Zeit, nicht ohne Hundertjahrsanlaß, plötzlich die 1805 anonym erschienenen „Nachtwachen von Bonaventura“ in literarhistorischen Kreisen Aufsehen erregten, und wie in raschen Disputationen, Aufsätzen und erwünschtem Neudruck der Versuch gemacht wurde, die notwendige Frage nach dem unbekannten Verfasser zu beantworten. Im Gegensatz dazu hat Franz Schultz dem schwierigen Stoffe ein beharrliches, eindringendes Studium zugewandt und ein Buch über die „Nachtwachen“ zustande gebracht, das sich den früheren Arbeiten über den Gegenstand weit überlegen zeigt. Indem er die dunklen Wege der Überlieferung erhellte, gelang es ihm, die bisherigen Annahmen oder Angaben, als seien Schelling, Karoline, E. T. A. Hoffmann o. a. Verfasser des Buches, glatt und reinlich fortzuschaffen. Diesem ersten Teile des Buches, der aufräumt, steht zu erfreulicher Ergänzung der zweite, welcher aufbaut, gegenüber. Die „Nachtwachen“ werden ihrer Idee und Art nach in die Gedankenwelt des Gotthilf Schubertschen Kreises eingeordnet, und als ihr Verfasser wird Schuberts Freund Wetzel erschlossen. Dies letztere geschieht durch Prüfung der persönlichen Verhältnisse Wetzels, durch vergleichende Betrachtung seiner Schriften (von denen eine Liste aufgestellt wird, mit vorläufigem Ausschluß [26] seiner Zeitschriftenbeiträge nach 1810), durch Stiluntersuchung und Verwendung aller sonstigen Mittel, die dem Philologen zur Verfügung stehen. Ohne die Stütze eines direkten Zeugnisses, muß Schultz für Wetzels Verfasserschaft einzig und allein den indirekten Beweis erbringen; und jeder weiß, wie leicht sich jemand, dem das Anerkennen schwerfällt, einem indirekten Beweise gegenüber in Bedenken und Zweifel hüllen kann. Um so rückhaltloser spreche ich Schultz meine Zustimmung aus und erkenne die zwingende Kraft seiner Untersuchungsart an, der dies Ergebnis zu danken ist.

Die Lektüre des Buches hat mir persönlich die Hingabe, die sie erforderte, reichlich belohnt. Denn sie hat mich auf einen Punkt gebracht, von dem aus ich, wie ich glaube, durch eigene Forschung einen Schritt vorwärts tun kann, und so erklärt es sich, daß ich zugleich meine eigene Untersuchung vorlege, ohne mich auf eine Anzeige des Buches zu beschränken, zu der mich die Redaktion des „Archivs“ ursprünglich eingeladen hatte.

Die Beiträge, die Wetzel zum „Phöbus“ geliefert hat, sind zumeist mit seinem Namen gezeichnet; von vier zusammenstehenden anonymen Gedichten des Juliheftes des „Phöbus“ konnte Schultz eines wieder in Wetzels „Schriftproben“ (2, 227) nachweisen, während er auch mit gutem Grunde die drei anderen für Wetzel vermutungsweise in Anspruch nahm. Nun ist es, wie ich auch in „Heinrich von Kleists Berliner Kämpfen“ bemerkt habe, augenfällig, daß gewisse Mitarbeiter des „Phöbus“ außer Kleist und Müller auch ein Jahr später wieder in den „Berliner Abendblättern“ auftreten, und aus dem „Phöbus“ her bekannte Namen, wie Schubert, Friedrich, Hartmann, Kügelgen, werden auch in den „Abendblättern“ wieder genannt. Ich fragte mich jetzt: Könnte nicht auch Wetzel in den „Abendblättern“ wiedergefunden werden, oder sollte er allein von den Dresdener Freunden ausgeschlossen sein?

Daß die Berliner Patriotengruppe um den Beginn der „Abendblätter“, seit Oktober 1810, mit Wetzel Fühlung hatte, entnahm ich zu meiner Überraschung aus einem Briefe Clemens Brentanos an die Brüder Grimm vom 2. November 1810. Dieser Brief ist erfüllt von Nachrichten über die Berliner Schriftstellerwelt, spricht von Kleist und seinen „Abendblättern“, erzählt von der neueröffneten Großen Kunstausstellung in Berlin („Berliner Kämpfe“ S. 249), auf der sich auch kolossal in Marmor die Büsten Tiedges und der Frau v. d. Recke von Thorwaldsen befänden, und fügt hinzu: „Beide sind hier,[2] zugleich auch eine sehr treffende Satire [27] auf Tiedges Urania, Rhinozeros, bei Karl Stein in Nürnberg; sie ist von Wetzel in Dresden.“ Was Brentano wußte, wußte natürlich ebensogut Kleist oder Arnim oder Müller, die alle Tage zusammensaßen. Die zur Michaelismesse erschienene Satire „Rhinoceros“, deren äußere Buchausstattung und innere Anordnung Tiedges „Urania“ möglichst kopiert, nimmt Tiedges wirklich überlebensgroße Nase zum spaßigen Objekt, den Dichter und sein Unsterblichkeitsgedicht lächerlich zu machen. Das Ganze gewiß eine von den Berlinern mit Behagen aufgenommene Fortspinnung früherer Dresdener Stimmungen und Abneigungen.

Gerade aber seit der Zeit, wo Brentano von Wetzel spricht, bringen die „Berliner Abendblätter“ nacheinander eine gute Anzahl Distichen, einen Vierzeiler darunter, sämtlich mit W gezeichnet. Im 30. Abendblatt, vom 3. November 1810, hinter Kleists Legende nach Hans Sachs’ „Gleich und Ungleich“ und Arnims „Sonderbarem Versehn“ („Kämpfe“ S. 212) zu dritt:

 Guter Rath.
Lasse den Thoren daheim, und send’ ihn nimmer auf Reisen,
     Neue Thorheit allein bringt er aus jeglichem Land.
 W.

 Zeichen.
Hör’ und merk’ es wohl, woran du den Thoren erkennest:
     Er denkt dieses Geschlechts, denket der Thoren kein Mensch.
Ein Fuchs wittert den andern, besagt treuherzig das Sprichwort,
     Kein Thor, setz’ ich hinzu, der nicht den anderen merkt.
 W.

Im 47. Abendblatt, vom 23. November 1810:

 Der Kreis.
Wo der Anfang sei? Geh doch, und frag’ nach dem Ende!
     Hast du das Ende, dann ist dir auch der Anfang gewiß.
 W.

Im 50. Abendblatt, vom 27. November 1810:

 Schönheit.
Jeglichem Sinn offenbart in mancher Gestalt sich die Schönheit;
     Wohl ihm, welchem sie mehr außer den Sinnen sich zeigt.

 Austausch.
Wie sich Thorheit leicht verräth in äußrer Gebärde,
     Solche Gebärde führt innere Thorheit herbei.
 W.

Im 56. Abendblatt, vom 4. Dezember 1810:

 Gut und Schlecht.
Wohl, wir haben gelernt, was Gut ist und auch was Schlecht ist!
     Gut ist immer das Wort, schlecht nur ist immer die That.
 W.

Im 61. Abendblatt, vom 10. Dezember 1810:

 Eigentliches Leben.
Widerstrebend besteht und zeigt allein sich das Leben:
     Ohne Todesgefahr tödtet das Leben sich selbst.
 W.

[28] Im 62. Abendblatt, vom 11. Dezember 1810:

 Richtschnur.
Wisse, stets wird recht dein Handeln sein in dem Leben,
     Wuchert des Handelns Kern nicht in dein Leben hinein.
 W.

Als ich in den „Berliner Kämpfen“ (S. 212) auf diese W-Distichen zu sprechen kam, erwog ich mit negativem Ergebnis die Frage, ob vielleicht der Berliner Arzt Wolfart oder der Historiker Weltmann als Verfasser in Betracht zu ziehen seien. Jetzt bin ich davon überzeugt, daß Wetzel der gesuchte Autor ist. Das einfache wie das doppelte Distichon begegnet auch sonst bei ihm, in seinen „Gesammelten Gedichten und Nachlaß“ S. 389 und 393. Satirisch sind alle. Gelänge mir nun, ein einziges der obigen Distichen augenscheinlich und sinnfällig für Wetzel in Anspruch zu nehmen, so zöge dies die übrigen mit in Wetzels Lager hinein. Das scheint mir bei dem obigen Distichon „Eigentliches Leben“, das bequemem Verständnisse widerstrebt, recht der Fall zu sein. Es zeigt nämlich die eigentümliche Schubert-Wetzelsche Antithese von Leben und Tod, wie sie Schultz mehrfach zur Erhärtung seiner Ansichten vorträgt (S. 198. 258. 288. 289). Schubert erklärt 1806: „Von dem Tod, von dem endlichen Untergang des Besonderen, müssen wir zuerst handeln, damit hernach der wahre Grund des Lebens erkannt werde. Denn das Leben gehet erst aus dem Tode hervor, und seine [des Lebens] Elemente ruhen auf scheinbarer Vernichtung. Seine [des Todes] Gluth verzehrt die starre Besonderheit und hebt endlich das Dasein des Einzelnen auf, indem es dieses mit dem Ganzen vermählt. Und diese Vermählung [der Tod] ist es, welcher alle Dinge mit innigem Verlangen entgegen gehen. Darum steht den glühendsten, schönsten Augenblicken des Lebens der Tod am nächsten, und das irdische Dasein vergeht immer mehr, je lebendiger sich die höheren Kräfte regen.“ Ebenso sagt Wetzel 1808: „Darum ist der Tod Grund und Vater des Lebens, ja das wahre und ewige Leben selbst“ – oder 1806 (in den Briefen über Browns System der Heilkunde): „Darum ist kein Tod ohne Geburt und keine Geburt ohne Tod, so daß beiden Worten einerlei Deutung beiwohnt. Denn alles Lebens Regel und Gesetz ist, daß es durch ewigen Wechsel des Sterbens und Geborenwerdens den unendlichen Kreis alles Daseins beschreibe, und so in seiner Endlichkeit die Herrlichkeit und Seligkeit des Universums genieße.“ Aus diesen Ansichten heraus will also das obige Distichon begriffen sein und besagt also: daß das eigentliche Leben nur dann besteht und sich zeigt, wenn das Leben widerstrebt, d. h. den Tod verlangt; ist aber Todesgefahr nicht vorhanden oder tritt kein Tod ein, so hört das Leben auf, Leben zu sein, es tötet sich selbst, es wird ein Nichts. Genau so wie Wetzel in [29] den „Nachtwachen“ ausführt: „Toren verstehen unter diesem Innehalten die Ewigkeit, es ist aber das eigentliche Nichts und der absolute Tod, da das Leben im Gegenteile nur durch ein fortlaufendes Sterben entsteht.“ Ich bin danach überzeugt, daß Wetzel der Verfasser der W-Epigramme der Abendblätter ist, und betone außerdem, daß die Art der Satire, die sich in ihnen ausspricht, mit der sonst bekannten Art Wetzels durchaus übereinstimmt.

Wie Kleist nun dem Dresdener Wetzel die Treue hielt und seinen Distichen auch den kargen Raum der „Abendblätter“ öffnete, so trat Wetzel auch getreulich dem viel angefeindeten Freunde Adam Müller zur Seite. Müllers „Elemente der Staatskunst“ waren 1809 erschienen, und mit ihrer Bekämpfung der Revolution und Adam Smith’ Freihandelslehre, mit ihrer Betonung des Christlichen und Nationalen im Staatsleben stemmten sie sich dem herrschenden Zeitgeist entgegen. Um nicht ausführlich Dargestelltes hier wiederholen zu müssen, verweise ich auf die betreffenden Abschnitte in meinen „Berliner Kämpfen“ S. 8 ff. und 52 ff. In den damaligen Journalen wurden die „Elemente“ fast durchweg verurteilt; auch in den „Abendblättern“ tobte der Kampf um sie, doch so, daß Kleist, Arnim und die Freunde für sie Partei nahmen. Als im 48. Abendblatt vom 24. November 1810 Müllers Schlußwort in der Krausfehde erfolgte, rückte nun Kleist unmittelbar darauf in dasselbe Blatt folgende satirische Distichen ein:

     An die Recensenten der Elemente der Staatskunst
 von Adam Müller.
Recensionen verfert’ge ich euch, wie der Weber die Strümpfe,
     Schwarz heut oder auch weiß, wie nur der Meister verlangt.
Um das Maas nicht bin ich bekümmert, um Läng’ und um Breite,
     Denn solch Strickwerk, es zieht doch sich nach jeglichem Fuß.
Freilich wer Strümpfe bedarf, sucht sich die passenden selber;
     Aber die Recension zieh’ ich gewaltsam euch an.
Und drum web’ ich auch alles fein leicht und windig wie Spinnen,
     Denn wie selten es paßt, merkte sonst endlich das Volk.
Nimmer möcht ich, bei Gott, mich mit dem Ganzen befassen,
     Jag’ ich dem Einzelnen nach, giebt sich das Ganze von selbst.
Ueber ein Buch erscheine mein Urtheil streng doch gerecht auch!
     Sätze zerr’ ich heraus, führe den klarsten Beweis.
Was der Verfasser will, und wie sein Wollen erreicht ist,
     Geht mich nichts an, ich weiß: was mit ihm selbst ich gewollt.
Fühl’ ich, beim Lesen des Buchs, „so hätt’ ichs selber geschrieben –,
     Dann ist’s trefflich, es wird Lob ihm und Ehre genug.
Was mir am meisten verhaßt, ich will es ehrlich bekennen,
     Unverständliches, Freund, ist mir ein schrecklicher Gräul.
 W.

Satire, Tendenz, Sprache und Unterfertigung weisen uns wieder auf Wetzel als Verfasser.

Die neu erschlossene Tatsache, daß Wetzel als Beiträger zu Kleists „Berliner Abendblättern“ erscheint, hat an sich nichts Ungewöhnliches. [30] Die „Abendblätter“ drangen gleich von Anfang an nach Dresden durch und erweckten dort Widerhall; Kleist konnte z. B. im 33. Blatt vom 7. November 1810 eine auf das 15. Blatt Bezug nehmende Dresdener Zuschrift vom 25. Oktober (gezeichnet Gr. v. S) veröffentlichen. Die „Abendblätter“ kamen natürlich auch Wetzel zur Kenntnis, der damals gerade wieder (Schultz S. 219) ganz in der Tagesschriftstellerei steckte und nach einem Versuch am „Nürnberger Korrespondenten“ schließlich zum „Fränkischen Merkur“ zu Bamberg in dauernde Beziehungen getreten war. In welcher Wechselwirkung aber der „Nürnberger Korrespondent“ und die „Abendblätter“ zueinander standen, habe ich in „Kleists Berliner Kämpfen“ dargelegt. Ich nehme nun an, daß Wetzel aus alter Gemeinschaft seine Satire „Rhinoceros“ an Kleist oder Müller schickte und ihnen eine Anzahl Epigramme dazulegte, die Kleist zur Füllung von Lücken recht willkommen sein mußten. Die Satire „Rhinoceros“ war ohne Verfassernamen erschienen, und wenn Brentano seinen Bücherfreunden Grimm gleich „Wetzel aus Dresden“ als Autor nennen konnte, so scheint das nicht aus seinem eigenen Wissen, sondern aus dem Kleists oder Müllers entflossen zu sein.

Berlin. Reinhold Steig.     

  1. Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura. Untersuchungen zur deutschen Romantik von Dr. Franz Schultz, Privatdozenten an der Universität Bonn [jetzt Professor an der Universität Straßburg]. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1909. VIII und 332 Seiten. 8 Mark.
  2. Daß Tiedge und Frau von der Recke um diese Zeit in Berlin waren, ist übrigens ein biographisches Moment, das Falkensteins „Leben und poetischem Nachlaß Tiedges“ entgeht.