Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 22

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Am zweiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Matth. 18, 23–35.
23. Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte. 24. Und als er anfieng zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm zehntausend Pfund schuldig. 25. Da er es nun nicht hatte zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn, und sein Weib, und seine Kinder, und alles was er hatte, und bezahlen. 26. Da fiel der Knecht nieder, und betete ihn an, und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen. 27. Da jammerte den Herrn desselbigen Knechts, und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch. 28. Da gieng derselbige Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an, und würgete ihn und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist. 29. Da fiel sein Mitknecht nieder, und bat ihn, und sprach: Habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen. 30. Er wollte aber nicht, sondern gieng hin, und warf ihn ins Gefängnis, bis daß er bezahlete, was er schuldig war. 31. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen, und brachten vor ihren Herrn alles, was sich begeben hatte. 32. Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlaßen, dieweil du mich batest; 33. Solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmet habe? 34. Und sein Herr ward zornig, und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlete alles, was er ihm schuldig war. 35. Also wird euch mein himmlischer Vater auch thun, so ihr nicht vergebet von euren Herzen ein jeglicher seinem Bruder seine Fehler.

 ES ist keinerlei Vermahnung zum Guten überflüßig, denn wir armen Menschenkinder sind von Natur zu allem Guten träg, und diese Trägheit hangt uns an, auch wenn wir bereits die Erstlinge des Geistes Gottes empfangen haben. Ein Antrieb thut uns immer aufs Neue Noth. So ist denn auch die| Vermahnung zur Versöhnlichkeit, so oft sie komme, immer und immer wieder rechtzeitig und am rechten Orte, und man darf sogar behaupten, zu dieser Tugend dürfe man noch viel öfter, als zu anderen Tugenden ermahnen, weil sie eine besonders schöne und eben deshalb auch eine besonders schwere Tugend ist. Darum kehrt auch die Ermahnung zur Versöhnlichkeit in so manchem Sonntagsevangelium des Kirchenjahrs wieder, darum redet überhaupt die heilige Schrift so oft von ihr, darum handelt sogar eine von den sieben großen und stehenden Bitten des Vaterunsers von ihr. Denn man darf doch wohl sagen, daß der Befehl zu beten: „Vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!“ zugleich eine starke mächtige Empfehlung der Versöhnlichkeit und eine starke Vermahnung zu ihr sei. − Was insonderheit unsere Gemeinde anlangt, so bin ich überzeugt, daß keine Gelegenheit, zur Versöhnlichkeit zu ermuntern, unbenutzt vorbeigelaßen werden darf. Ihr werdet mir darin wohl auch alle beistimmen. Denn wahrlich, es vergeht kein Tag, an welchem nicht bei einem oder dem andern unter uns Noth und Jammer bloß deshalb entsteht, weil Versöhnlichkeit mangelt. So will ich denn getrost dem HErrn im Evangelium folgen und weil der HErr wieder vermahnt, in möglichster Einfalt gleichfalls vermahnen. Nehmet, geliebte Brüder, mein treugemeintes Wort mit dem Gehorsam auf, den ihr mir, so lang ich am Worte Gottes bleibe, schuldig seid!
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 Was das Wesen der Versöhnlichkeit anlangt, so können wir es mit wenigen Worten bezeichnen, und fast halte ich es für ganz unnöthig, eine Erklärung desselben zu geben, weil der Name so allbekannt ist und so verständlich an jedes Herz spricht. Was ist Versöhnlichkeit anders, als Lust und Neigung zum Verzeihen, ein Herz, das keinen Hader verträgt, das dem billig oder unbillig Zürnenden gerne zuvorkommt, zuerst die Hand reicht, nach Lieb und Einigkeit hungrig und durstig ist. Sehet in unsern Text, er lehrt euch in einem großen Beispiel Versöhnlichkeit, in einem großen Beispiel, was Unversöhnlichkeit sei. Versöhnlich ist der König, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Denn siehe, es kommt ihm einer seiner Knechte vor, der ihm zehntausend Pfund schuldig ist, eine Summe, so groß und unerschwinglich, daß an ein Abzahlen für den nicht zu denken ist, der sie schuldet! sie beträgt mindestens vierundzwanzig Millionen Gulden. Die Summe ist für unsere Zeiten ungeheuer, und ist es um so mehr für die Zeiten Christi gewesen; der HErr hat mit aller Absicht eine Summe benannt, die damals nicht leicht jemand schuldig war, um den Gegensatz gegen die andere kleine Schuld, von der die Rede sein wird, desto mehr hervorzuheben und Tugend und Laster in vollester Größe neben einander stellen zu können. Wenn jemand so verschuldet wäre, Brüder, wie meint ihr, sollte der noch rechnen wollen? Rechnen wollen, wo man bittend aufs Angesicht sinken, wo man lautlos verstummen sollte, halte ich für ein solches Maß von Frechheit, der gegenüber das im Evangelium gedrohte Maß der Strafe, so groß es an sich ist, dennoch gar nicht hoch anzuschlagen ist. Denn wenn einer selbst mit Weib und Kindern und aller Habe verkauft würde, so wäre doch der Erlös aus allem gegen die veruntreute Summe gering. Dennoch sieh den milden, frommen König! Der Schuldner fällt nieder und spricht die thörichtste aller Bitten, die je von eines Menschen Lippen kam; statt sich ein für allemal, für jetzt und immer zahlungsunfähig zu erklären, bittet er um Frist und Geduld und verspricht alles zu zahlen. Er hat doch verschleudert, was er schuldig ist: weiß er nicht, was er verschleudert hat, dieser König aller leichtsinnigen Kinder und Schuldner der Welt? Fällt ihm gar nicht ein, wie rein unmöglich es ist, zu erstatten? Ein Ungeheuer von Bettelstolz ist doch der zu nennen, der sich die unmögliche Leistung zutraut! Und was thut der König? Er weiß, daß es nichts ist mit diesen Versprechungen, er wird von der Armseligkeit des Menschen in der Seele und im Herzensgrund erfaßt, die Erbärmlichkeit seines Zustandes rührt ihn; er läßt ihn los und die Schuld erläßt er ihm auch. Was für ein König, der das konnte, was für ein Herz, welches das wollte! Hier ist eine Versöhnlichkeit, wie sie nur JEsus malen konnte, die auch nimmermehr wird übertroffen werden als alleine von der Versöhnlichkeit Gottes, dem wir armen Sünder allzumal zahl- und namenlose Summen schulden, der aber lieber Mensch wird, um als Mensch für uns göttlich zu zahlen, ehe er uns in unserer unrettbaren Zahlungsunfähigkeit verloren gehen ließe. − Und nun gegenüber dieser Versöhnlichkeit das Beispiel von Unversöhnlichkeit, welches derselbe Knecht gibt, dem die ungeheure Schuld erlaßen war. Er geht hinaus von dem Könige, man sollte denken wie neugeboren und| durch große Güte umgewandelt, mild und gütig geworden. Aber nicht also, ihn beugt seines HErrn Gnade nicht; was ihn preßt, ist die Armuth, die ihm übrig bleibt, da er ja freilich nur zehntausend Pfund geschenkt bekommen hatte, die nicht mehr da waren, und er einer Zukunft voll Noth und Trübsal entgegengieng. Nicht die dankbare Erwägung seiner jüngsten Vergangenheit, sondern seine nächste Zukunft und deren Sorgen beschäftigen seine Seele. Da begegnet ihm ein Mitknecht, der ihm schuldet, − nur hundert Groschen, eine kleine Summe nach unserm Gelde, etwa fünfzehn Thaler, des Nennens nicht werth, wenn man so eben Millionen geschenkt bekam. Den Mitknecht fällt er an, würgt ihn, schreit ihm zu: „Bezahle mir, was du mir schuldig bist!“ Der arme Mitknecht fällt nieder und bittet ihn fußfällig um Geduld, um eine Geduld, welche ihm um so leichter zu gewähren war, da es ja wirklich auch für geringe Mittel ein Kleines ist, in kurzer Zeit hundert solche Groschen zu zahlen. Aber da gab es kein Erbarmen, der Schuldner mußte ins Schuldgefängnis wandern, bis die Bezahlung geleistet war. Hundert Groschen, die ihm gehören, machen den Schalksknecht wüthend und voll Grimms, und zehntausend Pfund, die vor wenigen Minuten oder Stunden noch auf seinem Gewißen lagen, konnten ihn nicht lehren, wie es einem armen Schuldner ist, ihn nicht zu Güte und Mitleid stimmen!

 Ich denke, wir sind nun genug und übergenug erinnert, was Versöhnlichkeit und Unversöhnlichkeit ist! Und nicht wahr, Versöhnlichkeit ist schön und hehr, Unversöhnlichkeit aber häßlich und abscheulich! Der König erinnert an Gott im Himmel, der Schalksknecht an die Hölle! So ist es, aber vergiß in allen solchen Fällen niemals die Anwendung auf dich, blick hinein in dein Herz und zurück in dein Leben. Wem bist du ähnlicher, dem Könige oder dem Schalksknecht? Was sagt dir dein Gewißen? Wirst du der Buße nicht bedürfen? − Ich denke, Brüder, wir heben die Hand auf mit dem öffentlichen Sünder, schlagen an unsere Brust, sprechen bekennend: „Meine Schuld, meine Schuld!“ und „Gott sei uns Sündern gnädig!“


 Da nun die Versöhnlichkeit so schön ist und die Unversöhnlichkeit so häßlich, so muß uns doch viel darauf ankommen, die erstere zu erlangen. Von Natur hat niemand ein versöhnliches, friedliches Herz. Denn wenn es auch manche gibt, welche von Natur langsamer zum Zorn sind, als andere; so ist diese natürliche Langsamkeit, wie alles, was von Natur vorhanden ist, doch keine Tugend, weil sie nicht vom Geiste Gottes stammt, sondern vom Fleisch − und dann ist sie an dem Maßstabe jener Güte gemeßen, die siebenmalsiebzigmal vergibt, dennoch bei weitem zu kurz und zu klein. Das Fleisch ist fern vom Geist und deshalb auch fern von wahrer Geduld. Bei sehr vielen, ja bei den meisten Menschen ist überdies auch von natürlicher Geduld und Langmuth gar keine Rede. Die meisten sind über die Maßen empfindlich, leicht verstimmt, schnell zum Zorn, aufbrausend, halten Zorn und Grimm, kommen aus diesem traurigen Vorhof der Hölle Jahr aus Jahr ein nicht hinaus, sondern bleiben sich immer gleich wie an Bosheit, so an Qual. Es fragt sich nun bloß, ob man so, wie man von Natur ist, bleiben müße, oder ob man auch anders werden könne? Die Antwort ist leicht gefunden: man kann anders werden, denn es gibt ja, Gott Lob, geduldige, versöhnliche Menschen, welche mit starker Kraft dem siebenmalsiebzigmal nachjagen und in dem Frieden Gottes so fest wohnen, daß, was auch an ihnen rüttele, sie kaum eine kleine Zeit von ihrem stillen Wohnsitz aufschrecken oder gar vertreiben kann. Diese Menschen heißen Christen. Sie muß man fragen, wie sie aus Zornigen zu Sanftmüthigen, aus Rachgierigen zu Versöhnlichen geworden sind. Haben sie mit hellen Sinnen und erleuchtetem Gemüthe den Weg ihrer Veränderung vollbracht, so werden sie gewis die Antwort in Uebereinstimmung mit der heiligen Lehre und unserem Texte geben.

 Wollt ihr, meine Freunde, die Antwort, so nehmt sie hin. Wer Vergebung seiner Sünden von Gott empfangen hat, der vergibt auch wieder; wer keine Vergebung von Gott empfangen hat, der vergibt auch nicht, sondern bleibt, was er ist, ein unversöhnlicher Mensch. Nur wem die Liebe Gottes zu den Sündern ins Herz gegeben und offenbart ist, der kann auch wieder seinen Bruder lieben, sonst keiner. Wie du erfährst, so thust du; ohne Erfahrung göttlichen Erbarmens hast du kein wahres Erbarmen. − Ich hoffe, es wird mir auf diese meine kurze und ich achte, gute Antwort niemand die Einwendung bringen, es sei manchem die Sünde schon so| oft vergeben worden und er habe hernachmals doch immer wieder gezürnt und sich unversöhnlich bewiesen. Es ist eine bekannte Sache, daß einem Menschen hundertmal Vergebung gesprochen werden kann, ohne daß er sie einmal empfängt. Hören und empfangen ist sehr zweierlei, wie ihr das wohl alle an euch selbst wahrnehmen könnet; denn wie oft höret auch ihr die Vergebung und wie selten empfanget ihr sie. So oft sie gesprochen wird, geschieht es in der Absicht, daß sie empfangen werde; Gott reicht sie durch seine Knechte immer nur in dieser Absicht dar; aber wer ist Schuld daran, wenn sie über das Haupt hinfährt ohne Segen und ohne befriedigende und friedfertig machende Kraft? Wer sonst, als der Mensch, der eitle Hörer, der alle seine Dinge halben Geistes thut, halb beichtet und halb Buße thut und darum halb oder kaum das gewaltige Friedenswort der göttlichen Vergebung inne wird, es kaum merkt, wenn ihm zehntausend Pfund geschenkt werden? Man prüfe und erkenne nur recht seine Schuld, man thue nur wahre, tiefe Blicke in die große Verlorenheit der Seele, man werde nur durch Selbsterkenntnis erst recht hungrig und verlangend nach Vergebung, dann wird man auch empfänglich werden für die Vergebung der Sünden und sie mit ganzem Herzen vernehmen, dann wird man auch ihre Kraft erfahren. Du bist nicht recht hungrig nach Vergebung, darum entschlüpft sie dir alsbald wieder, wenn du sie zu haben meinst, entwindet sich deinem Gedächtnis, deinem Glauben und wirkt nichts. Hättest du je empfunden, wie die Sünde thut, so würdest du auch mit deinem Beleidiger, der an dir sündigt, Mitleid haben, würdest dich deiner eigenen Sünde erinnern und mild sein. Hättest du jemals deine Sünde empfunden und darauf, wie Gottes Vergebung thut, so würdest du auch wißen, was du deinem Gott für Seine Vergebung schuldig bist, so würdest du, Gott zu Dank, deinen Beleidigern gerne vergeben. Die Vergebung ist so süß dem gedemüthigten Geiste, daß er nicht anders kann, als wieder vergeben; wer sie hat, der gibt sie gerne, und wer ihrer voll ist, von dem träuft sie. Im Vergeben feiert der friedenvolle Jünger JEsu sein eigenes Glück, und ein „Verzeih mir, Bruder“ wird dem Menschen nicht schwer, zu erhören, der täglich zu Gott um Verzeihung betet und im Evangelium die fröhliche Antwort des HErrn empfängt. Ach daß man das recht bedächte! Die Gnade ist es, welche uns Vergebung reicht, unsre Erhöhung aus dem Staub der Sünde danken wir nur der Gnade: warum wollten wir also nicht auch, ich sage nicht gnädig, aber doch gütig sein und verzeihen? Warum nicht, wenn wir selbst nicht zürnen, aber andere mit uns zürnen wollen, so viel an uns liegt, Frieden bieten? Warum, da Gott nach der Vergebung so freundlich gegen uns ist, nicht auch freundlich und brüderlich mit Brüdern leben, wenn wir versöhnt sind? − Ach, es ist so oft Zorn und Hader um Nichts, oft aus Mistrauen und Misverstand, − wie oft sollte man sich der Ursache des Haders schämen und schon darum nicht spröde thun, wenn es Versöhnung gilt. − Noch einmal, Bruder! Erkenne deine Sünde, wäge und schätze sie, − und kannst dus nicht, so schau ans Kreuz, sieh JEsum an, sieh, wie deine Sünde Ihn niederdrückt, sieh an Ihm, wie tief deine Wagschale sinkt, wie groß und reich du an Schuld und Sünde und Gottes Zorn bist! Demüthige dich und nimm Vergebung deiner Schuld, auf daß du vergeben könnest.
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 Ich will meinen Fuß weiter setzen, ich will noch einige Worte vom Segen der Versöhnlichkeit und vom Fluch der Unversöhnlichkeit sprechen und dann schließen. Aber ich vermag zuvor eine Bemerkung nicht zu unterdrücken, die ich oft gemacht habe. Unversöhnliche, zürnende Menschen behaupten so gerne, daß das Recht auf ihrer Seite stehe, daß sie nichts wollen als Recht, daß sie nicht grollen noch zürnen, sondern nur ihr gutes Recht vertheidigen und suchen. Und wie betrügen sie sich selbst! Sie behaupten nicht zu zürnen, und dennoch haben sie oft Tag und Nacht keine Ruhe, ein leidenschaftlicher Ausbruch folgt dem andern, kein Mensch sieht an ihnen, was sie sagen, jedermann sieht Unrecht, Ungerechtigkeit und Bosheit, während sie Recht und nur Recht haben wollen. − Ueberhaupt will der Mensch immer gerecht sein gegen andere, und gerade das ist für ihn zu schwer, gerade das kann er nicht. Noch am leichtesten könnte er Gerechtigkeit lernen, wenn er fürs erste Barmherzigkeit lernen würde; denn der Barmherzige hat in seiner Barmherzigkeit einen Schutz gegen die angeborene Ungerechtigkeit der Seele. Und barmherzig werden, das könnte er auf dem Wege der eigenen Erfahrung göttlicher Barmherzigkeit, auf dem Wege der göttlichen Heilsordnung. Das könnte er, − und siehe, das mag er nicht. Losgerißen von Gottes Heilsanstalt wird| dann das Leben ein ungerechtes Pochen auf Rechte, ein unerträgliches Trotzen − und ein schauderhafter, stolzer, unversöhnlicher, grimmiger Undank gegen den milden frommen Gott wird Herr im Herzen. Davor behüte uns alle, davon erlöse uns alle der barmherzige und allmächtige Gott.

 Und nun noch einiges vom Segen der Versöhnlichkeit und vom Fluch der Unversöhnlichkeit. Zwar unser Text redet nur vom Fluche der Unversöhnlichkeit, aber warum sollte man nicht gegenüber dem strengen Urtheil Gottes auch den süßen Frieden der Versöhnlichkeit preisen? Reden wir zuerst vom Fluche und gehen dann im Andenken an den Segen in unsere Hütten! Laßen wir uns auch hiedurch abschrecken von der Unversöhnlichkeit und reizen zur Versöhnlichkeit!

 Als der Schalksknecht im Evangelio mit seiner Rechnung um vier und zwanzig Millionen im Rückstand blieb, wollte ihn der König mit allem was er hatte, verkaufen laßen. Als er aber dem großen König das größte Geschenk, das je ein König einem Schalksknecht machte, so fruchtlos abnahm, daß er nicht einmal fünfzehn Thaler entbehren mochte zu Dank und Ehre dem guten König, da geschah, was bei der Rechnungsablage nicht zu lesen ist, da wurde der König zornig. „Der Zorn des Königs ist wie das Brüllen eines jungen Löwen,“ weh dem, welchem er zürnt. Ja, zornig ward der König über den Schalksknecht, er übergab ihn den Peinigern, bis daß er bezahlete, was er schuldig war, d. h. für immer, denn wer will solche Schulden zahlen? So ist also der Zorn Gottes über den Unversöhnlichen größer, als über den Untreuen, größer über den Undankbaren, welcher durch Erbarmen nicht barmherzig wird, als über den, welcher das Gesetz übertritt. Wenn du Vergebung erlangst und dich wieder unversöhnlich und hart erweisest, so kehrt deine Sünde aus dem Meer der Vergeßenheit in das Gedächtnis Gottes zurück, so stellt er sie vor dein Angesicht, so gibt er dir den Befehl, sie nun selbst auszutilgen und ungeschehen zu machen, sie wieder gut zu machen, und das in dem Orte, dahin du gehörst, im Kerker, in der Hölle, deine Peiniger werden nicht feiern und deine Qual nicht ruhen. Und wenn du die Anwendung des Gleichnisses auf deine unruhvolle, sündenvolle Seele nicht magst, so mußt du sie dennoch hinnehmen und richtig finden − und erfahren obendrein, wofern du nicht umkehrst. Denn so spricht der HErr am Schluß des Evangeliums: „Also wird euch mein himmlischer Vater auch thun, so ihr nicht vergebet von euerm Herzen ein jeglicher seinem Bruder seine Fehler.“

 Das ist in kurzen Worten der Fluch des Unversöhnlichen. Gegenüber steht der Segen des Versöhnlichen. Vergeben ist süßer, als Geben. Wer seinem Bruder vergeben kann, hat schon darin eine Freude, größer, als jene, von welcher der HErr spricht: „Geben ist seliger als nehmen.“ Und Vergebensfreudigkeit ist überdies eine Frucht, also auch ein Zeugnis und eine Bestätigung der göttlichen Vergebung. Jeder, der mit Lust seinem Bruder vergibt, darf zu seiner Seele in Demuth sprechen: „Gott Lob, das ist eine Frucht, die nicht meinem eigenen Herzen und alten Menschen entstammt ist; das ist ein Beweis, daß Gott mit mir ist, sonst könnte ich das nicht, − ein Beweis ists, daß meine Absolution in mir lebendig und kräftig ist; mir ist vergeben, denn ich kann vergeben.“ Wenn dieses freudige Zeugnis des heiligen Geistes für unsern Geist auch der einzige Segen der Versöhnlichkeit wäre, so wäre er groß genug und alles Preises werth. Aber Gottes Gnaden kommen nicht allein, jede schließt andere ein, oder folgen sie ihr nach. So ist es auch mit der Bestätigung der Vergebung, welche der Versöhnliche in sich empfindet, so oft er vergibt. Diese Bestätigung hat bei sich Frieden und Gewisheit göttlichen Wohlgefallens. Wer gern und oft vergibt und im Vergeben eine heilige Fertigkeit erlangt, der nimmt im Frieden immer zu. Er weiß ja, daß Gott mit ihm ist, was sollte er fürchten? Keinen Feind unter den Menschen, denn Gott ist mit ihm; keinen unter den bösen Geistern, denn auch sie können Gottes Friedenskindern keinen Sieg abgewinnen; keinen in der Zeit und keinen in der Ewigkeit, denn Gott hat ihnen für Zeit und Ewigkeit vergeben. Des ist Zeuge ihr versöhnliches Herz. Ein solcher hat Frieden im Sterben; gleichwie er sterbend allen Beleidigern vergibt, so ist er auch gewis, daß Gott ihm vergibt. Er hat Frieden und Gewisheit der Gnade beim Eingang ins ewige Reich und am jüngsten Tage, denn er selbst geht ohne Haß hinüber und weiß damit, daß sein Gericht hinausgeht ohne Haß, zum Siege.


|  O HErr, verleih, daß von uns allen keiner jemals vor Dir die Sprache führe: „Ich will Dir alles bezahlen.“ Verleih, daß wir alle von Herzensgrund Deine Vergebung suchen und empfangen, auf daß auch wir von unserm Nächsten nicht das strenge Recht suchen, sondern gern und oft vergeben! Ach gib, daß ferner unter uns nicht mehr Väter und Kinder, Brüder und Brüder, Nachbarn und Nachbarn zürnen und sich im Zorn verhärten und also die Religion der Versöhnung schmähen! Gib, gib, o HErr, Demuth, Glauben, Versöhnlichkeit, um JEsu Christi willen! Amen.




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