Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Passionskapitel 14

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14. Die letzten Worte JEsu.

 DIe Höhenpunkte der letzten Stunden JEsu sind Seine sieben Worte vom Kreuz, mit denen Er das tiefe Schweigen Seiner Leiden unterbrach. Drei von diesen Worten fallen in die Vormittagsstunden, vier aber in die Zeit der großen Finsternis, in die Nachmittagsstunden und zwar sämmtlich ans Ende dieses Zeitabschnittes, in die letzte Stunde. Die Zeit vom Mittag bis gegen drei Uhr war eine schwere, finstere, stille Zeit, während welcher der HErr in tiefem Schweigen hieng und Leiden trug, von denen wir keine Kunde haben und keine Einsicht in dieselben haben können. Als Er aber alles, was uns verborgen ist, hinter Sich hatte, da schloß Er mit vier großen und heiligen Worten die Zeit des undurchdringlichen Schweigens und Geheimnisses ab. Faßen wir zuerst die drei Worte des Vormittags ins Auge.

|  Als Er ans Kreuz genagelt war, als das Kreuz emporgezogen wurde, als es in die Grube fiel, in welcher es feststehen sollte, als Seine Wunden vom Stoße rißen und Sein Blut reichlicher floß, als Schmerzen ohne Zahl Seinen müden, zarten, der Sünde, wie des Schmerzes ungewohnten Leib durchzogen, und Er Selbst, als unser Hoherpriester, Sich Gott für unsre Sünden am Stamme des Kreuzes opferte, da rief Er laut und mächtig Sein hohenpriesterlich fürbittendes Wort: „Vater, vergib ihnen; sie wißen nicht, was sie thun.“ Sie wußtens nicht, denn sie erkanntens nicht. Sie hätten es zum Theil wohl wißen können, denn Er hatte viel geredet, was ihnen die Augen hätte öffnen können. Es war eine verschuldete Unwißenheit, aber eben doch eine Unwißenheit, eine grauenvolle Unwißenheit, aber doch Unwißenheit. Sie tödteten ihren wahrhaftigen, seit Jahrtausenden verheißenen König, ihren Messias, ihrer Väter Hoffnung, auf welche sie auch selbst gewartet hatten. Sie tödteten ihren Hohenpriester, − ihr Passahlamm, − Gottes Sohn. Das thun sie, wißens und glauben es nicht. Aber JEsus weiß es − und während Er mit Schmach und Schmerz bedeckt am Kreuze hieng, denkt Er doch nicht an Sich, nicht an Seine Noth, sondern hohenpriesterlich an die Verschuldung derer, die Ihn ans Kreuz hängten. Die Leiden, welche Ach und Wehe über die Menschen rufen, verwandelt Er durch Seine willige Ergebung und durch Seine geheimnisvolle Aufopferung zu Versöhnungsleiden − und zu einer Ursache, um derenwillen Seine Bitte Erhörung finden soll. Im Schmucke der Schmach und Schande, des Schmerzes und der Pein, welche Er erduldet, tritt Er vor den Vater und begehrt eben um ihretwillen von dem Vater im Himmel Gnade und Vergebung für alle die unwißenden Sünder, die Ihm solches angethan haben. Und der Vater im Himmel, der in Eintracht mit Ihm Selbst, dem Sohne, die Leiden, die Ihm Menschen anthun, als Versöhnungsleiden annahm, erhörte auch, wie der Pfingsttag und die reiche Aernte aus den Juden beweist. Denn für die große, schwere Schuld − und in Anbetracht des Geschreis: „Sein Blut komm über uns und unsre Kinder“ ist und bleibt die erste Gemeinde zu Jerusalem, ihre Zahl und Beschaffenheit, eitel glänzende Erhörung der Fürbitte JEsu und wird nicht aufgewogen durch die Blindheit, welche der Mehrzahl der Juden zu Theil geworden ist. − In diesem ersten Worte vom Kreuze sehen wir also JEsum als fürbittenden Hohenpriester. In dem zweiten werden wir Ihn als mächtig rettenden König des Himmelreichs schauen.
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 Als der HErr am Kreuze hieng und Sein erstes Wort gerufen hatte, darauf fast niemand achtete, sondern allein Gottes Ohr und Herz, dem es vermeint war, ergoß sich die Menge der Anwesenden in Spott und Hohn. Auch ein Schächer spottete; dem andern aber wendete der HErr das Herz. Mit Seiner treuen Hand und zum Beweis, daß Er in Seinem ersten Wort erhört ist, greift Er unter die Menge und holt Sich eine Seele zur Beute heraus. Einer der Schächer spricht spottend: „Wenn Du Christus bist, so hilf Dir und uns.“ Der andere aber strafte ihn und sprach: „Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist. Und zwar wir sind billig darin, denn wir empfahen, was unsre Thaten werth sind; Dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt.“ Und zu JEsu sprach er: „HErr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.“ Der Schächer ist in der heiligen Schrift das einzige Beispiel, daß sich ein Mensch in Todesnoth bekehrt, das einzige − damit Beweis genug, daß es auch noch möglich ist, sich im Sterben zu bekehren, aber eben damit auch Warnung genug, daß sich niemand auf diese Möglichkeit verlaße und deshalb die Bekehrung aufschiebe. Ein einziges Beispiel ist der Schächer in dem angegebenen Sinn, aber auch noch in einem andern Sinn einzig, nemlich köstlich und herrlich ist dieß Beispiel. Gewis ist dieser Schächer in seinem Sterben aus Gnaden, allein aus Gnaden selig geworden, aber er ist auch aus Gnaden heilig geworden; der ihm geschenkte seligmachende Glaube hat schnell süße Früchte der edelsten Art getragen und zur Reife gebracht. Kein Mensch ist um das Kreuz Christi, der seine eigne Sünde bekennete: dieser Schächer bekennt sie. Keiner sonst straft den andern für den Hohn und Spott, der auf Christum gehäuft wird; aber der Schächer straft seinen Genoßen: da hieß es, wenn diese alle schweigen, wenn kein Mensch Buße predigt, so müßen die Steine schreien, d. i. so muß der Schächer schreien. Kein Mensch naht sich nunmehr JEsu freundlich, der Schächer naht sich anbetend. Andere sehen in JEsu einen Untergehenden, dieser Schächer erkennt in Ihm einen König, der trotz des Todes ewig lebt, der wieder kommen| wird in Herrlichkeit und Gnade und ewiges Erbarmen austheilen kann. Denn er sagt: „Gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst“ oder eigentlich, wenn Du in Deinem Reiche kommst. Was für ein Licht, für eine Erkenntnis, was für einen Glauben, was für eine Hoffnung hat dieser Schächer, der auch weiß, daß er, seine Seele nicht zu ertödten ist, sondern eine ewige Zukunft hat, der es auch nicht bloß weiß, sondern für sie betend sorgt! Dieser Schächer ist nicht ein Verlorener, sondern ein Gewonnener, − ein Sünder und Schächer und doch ein Heiliger − und ein Held, denn er wagt, mitten unter der spottenden Schaar, trotz Hohenpriester und Kriegsknechten, die ihn desto baß plagen konnten, zu rufen, zu predigen und anzubeten. In ihm können sich zur Stunde, da er so redet und thut, Apostel spiegeln und durch ihn beschämt werden. − Er aber wird nicht beschämt. Der HErr nimmt seine Bitte an. Nicht wie ein Gottesarmer, sondern wie ein König und allmächtiger Sohn Gottes, wie der HErr HErr, der vom Tod errettet, wendet dieser sterbende JEsus Sein Antlitz dem Schächer zur Seite und spricht: „Heute sollst du mit Mir im Paradiese sein.“ Also geht Er Selbst ins Paradies, also kann Er über den Eingang ins Paradies und über das Paradies selbst schalten, also ist Er nicht so müde, daß Er an Sich, an Seinem Werk, Seinem Sieg, an Seinem göttlichen Wesen zweifeln müßte. Also ist Er zwar in schwerster Arbeit, leidend, wie wir es nicht faßen, aber innerlich nicht muthlos, nicht überwunden, nicht gebrochen, sondern Er geht festen Schrittes vorwärts und weiß, daß alles werden wird, wie Er und Sein Vater es durch Seinen Tod machen wollten. Wie mächtig muß schon des Schächers Stimme geschallt haben unter dem unartigen Geschlecht, − und wie groß und hehr JEsu Stimme! Wie mag sie dem spottenden Haufen in die Seele gedrungen sein und ihr Gewißen mit banger Sorge aufgeregt haben. Also demüthigte Ihn ihr Spott nicht, also war Er noch am Kreuze, wie vor dem geistlichen und weltlichen Gerichte! Er könnte also Seinen Tempel, nemlich den Seines Leibes wieder bauen, − Er könnte irgend wie doch vom Kreuz, aus dem Tode kommen, Christus sein und Gottes Sohn! Denn wer sterbend das Paradies austheilt und das Wort: „hilf Dir Selbst und uns“ so beantworten kann, wie Christus in Seinem Wort an den bußfertigen Schächer, der könnte wohl auch noch zu fürchten sein, wenn ihm die Augen brechen. −
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 Hilfreich für Schächer und bußfertige Sünder ist der HErr. Aber sieh, unter Seinem Kreuze steht eine Schmerzenreiche, Seine Mutter, − und der Jünger, der im Abendmahle an Seiner Brust gelegen war, Johannes. Ob Seine Mutter an dem Siegesgang ihres JEsus zweifelte, ob auch über sie ein Verzagen gekommen war, oder ob sie vielleicht nur mütterlich mit Ihm fühlte, vielleicht tiefer als andere in die Natur Seiner Leiden, Seiner Versöhnungsleiden und Aufopferung eingedrungen war und eben deshalb desto tiefer, wenn auch keineswegs ohne Hoffnung litt? Sie hörte das zum Schächer gesprochene Trostwort, − wird sies nicht geglaubt haben, wird die Hoheit und Würde ihres sterbenden Heilandes von ihr nicht erkannt worden sein? − Dieß Weib, diese Jungfrau ist in ihrem Verhältnis zu JEsu und in ihren Lebenserfahrungen so einzig und ohne Gleichen, daß man geneigt wird, ihr Licht und Glauben wie dem Schächer, Hoffnung und Siegesgewisheit zuzutrauen, trotz dem daß nun das Schwert Simeonis in ihre Seele drang. Denn dieß Schwert drang in sie. Sie wußte, JEsus geht von ihr − nun kann sie Ihm nicht mehr wie bisher folgen; auch wenn Er siegt, sie wird verlaßen. Darum ist sie so voll Weh und Leid, voll Thränen und Klagen. Sie kann nicht reden, Ihn nicht trösten, Ihm nicht laut die Ehre geben, aber sie bedarf Seiner Barmherzigkeit und Gnade wie der Schächer. Wer weiß, wie sie nach einem Wort von Seinem Munde gehungert hat, als sie die Worte des HErrn an den Schächer hörte! Sieh, da kehrt sich Sein Auge zu ihrem suchenden Auge und mit jener kindlichen Liebe, die niemand in ihrem Verhältnis zu Seiner ewigen Majestät faßen kann, die Ihm allein eigen ist, spricht Er ihr zu: „Weib, siehe, das ist dein Sohn“ − und zum Jünger: „Siehe, das ist deine Mutter.“ Auch bei diesen Worten vereint sich Majestät mit Liebe; wie über das Paradies, gebietet Er über Mutterschaft und Kindesliebe. So wurde keine Mutter jemals versorgt. So wurde kein Jünger geehrt, wie Johannes der ein Vertreter JEsu in Seinen kindlichen Pflichten wurde. Aber nichts desto weniger fernt Er doch die Mutter vom Herzen. Konnte Er nicht, da Er ewig lebte und auferstund, auch Sohn bleiben, wie bisher? Warum setzt Er einen andern Sohn, da Er Selbst ewig| lebt? Antwort: die Mutter bleibt im sterblichen Leben, darum braucht sie einen noch sterblichen Versorger; Er geht in ein unsterbliches Leben, darum kann Er der Mutter Versorger nicht mehr sein. Das muß Maria lernen, es gibt also für sie jedenfalls ein Sterben, − Er stirbt nicht, aber Er wird zu einem ganz neuen Verhältnis ausgeboren, so daß Er sie, sie Ihn nicht mehr nach dem Fleische kennen kann und darf. − Darum sagte ich, auch in diesem Worte vereine sich Majestät und Erbarmen. Je länger, je lieber wird Marien das heilige Wort vom Kreuze geworden sein; je länger, je mehr wird sie die Liebe erkannt und erfahren haben, die darin lag, wenn es ihr auch anfangs schwer wurde. − Wir aber verehren unsern HErrn, der den Schächern ein König und Seiner Mutter ein treuer Versorger wurde auch am Kreuze, − der über der Heilandsarbeit und über Seiner erlösenden Liebe zum Schächer − und über Seinen Leiden die Mutter nicht vergaß, der sie nach Seiner Liebe noch weniger vergeßen konnte, als ein Weib den Sohn ihres Leibes vergißt.





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