« Trinitatis 15 Wilhelm Löhe
Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
Register der Sommerpostille
Trinitatis 17 »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|

Am sechzehnten Sonntage nach Trinitatis.

Eph. 3, 13–21.
13. Darum bitte ich, daß ihr nicht müde werdet um meiner Trübsalen willen, die ich für euch leide, welche euch eine Ehre sind. 14. Derhalben beuge ich meine Kniee gegen den Vater unsers HErrn JEsu Christi, 15. Der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden, 16. Daß Er euch Kraft gebe nach dem Reichtum Seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch Seinen Geist an dem inwendigen Menschen, 17. Und Christum zu wohnen durch den Glauben in euren Herzen, und durch die Liebe eingewurzelt und gegründet zu werden; 18. Auf daß ihr begreifen möget mit allen Heiligen, welches da sei die Breite, und die Länge, und die Tiefe, und die Höhe; 19. Auch erkennen, daß Christum lieb haben viel| beßer ist, denn alles Wißen, auf daß ihr erfüllet werdet mit allerlei Gottesfülle. 20. Dem aber, der überschwänglich thun kann über alles, das wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die da in uns wirket, 21. Dem sei Ehre in der Gemeine, die in Christo JEsu ist, zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

 DAs Evangelium vom Jüngling zu Nain – und diese euch eben verlesene Epistel: wie verschieden! Kaum wird jemand bei Vergleichung des Hauptinhalts schnell finden, wie sie beide zusammengehen. Und doch stehen sie mit vollem Rechte nachbarlich zusammen. Wende deine Blicke in die zwei letzten Verse des Evangeliums, was liesest du? Die große Ehre Gottes, welche aus der Todtenerweckung des Jünglings von Nain erwuchs. „Große Furcht kam über alle, und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden und Gott hat Sein Volk heimgesucht. Und diese Rede gieng aus in ganz Judäa und in der ganzen Umgegend.“ So lesen wir. Sieh nun zum Vergleich an den Schluß der Epistel, so wirst du finden, daß auch hier die zwei letzten Verse im höchsten Ton die Ehre Gottes verkünden. Es ist freilich da nicht die Ehre Gottes aus Todtenerweckungen, sondern aus andern Ursachen hergeführt. Auch heißt es da nicht: „der HErr hat Sein Volk heimgesucht,“ es ist nicht von Israel die Rede. Aber die Ehre, wie sie in der Epistel noch größere Ursachen hat, als in dem Evangelium, so erstreckt sie sich in der Epistel auch weiter als im Evangelio. Ihr bemerket, meine Brüder, daß ich ein wenig zurückhaltend rede und noch nicht frei her ausgegangen bin mit dem Grunde der Ehre Gottes in der Epistel. Allein es thut nichts; wenn ihr begierig seid, Grund und Ursach zu wißen, so wird euch bei einiger Aufmerksamkeit bald genug Antwort und Nachricht werden.

 Erinnert euch einmal lebhaft an den Inhalt der Epistel. Der erste Vers (Vers 13.) enthält eine Bitte an die Gemeinde von Ephesus, der Abschnitt Vers 14–19 eine Bitte St. Pauli an Gott, und die zwei letzten Verse (20. 21.) erheben sich zu einer feierlichen Lobpreisung des Allerhöchsten. Hiemit hat man eine Uebersicht des ganzen Textes. Wenn man aber auch nach diesem Schema den Inhalt der drei Theile durchlaufen kann, so findet man doch nicht weder Grund und Ursach der Bitte, noch des Gebetes, noch der Lobpreisung, und man weiß dann also auch nicht, in welcher Beziehung die Ehre Gottes in der Epistel erhöhet wird. Und doch muß man das wißen, zumal da der andere Tagestext, das Evangelium, der Ehren Gottes Ursach so klar und deutlich angibt. Man muß daher, wenn man diesen Text kennen lernen oder gar ihn auslegen will, zu den drei Theilen des Textes einen einleitenden ersten aus dem Zusammenhange des ganzen Kapitels suchen, und wird ihn, wenn man ihn sucht, auch finden. Ich werde euch diesen Theil auch nennen; aber ich erlaube mir, voran den Inhalt des ganzen Textes in Einen Satz zusammenzufaßen, der sich dann leichtlich in die vier einzelnen Abtheilungen zerlegen wird, welche wir kennen zu lernen haben.

 St. Pauli Bitte an die Epheser, sein Gebet zu Gott, sein Lobgesang an Ihn, – alles in Beziehung auf das hohe Geheimnis vom Bau der Kirche Gottes auf Erden, – ist unsers Textes Inhalt.

 Da habt ihr nun, meine Brüder, Grund und Ursach zur Ehre Gottes in der Epistel. Sie preist Gott wegen des Baues der ganzen Kirche Gottes, das Evangelium aber wegen Heimsuchung des Volkes Israel.

 Das wollen wir nun näher ansehen und kennen lernen. Zuerst müßen wir voraussenden, worauf sich das Ganze des Textes bezieht, nemlich St. Pauli Rede von dem Baue der Kirche. Dann betrachten wir die darauf bezügliche Bitte an die Ephesier, sein Gebet zu Gott und endlich seine Lobpreisung, ein jedes nach Maßgabe des Textinhaltes und unsers geringen Verständnisses davon.

 Das Geheimnis vom Bau der Kirche Gottes ist uns kein Geheimnis mehr. Wir kennen es von Jugend auf und finden es so ganz natürlich, daß wir gar nicht mehr faßen, wie das nur eine Ursache großen Ruhmes und Preises Gottes und einer so hohen Erhebung und Begeisterung sein kann, wie wir sie bei St. Paulo in unserm ganzen Texte finden können. Nach den Worten St. Pauli Vers 6. besteht dies Geheimnis darin, daß die Heiden durch das Evangelium Miterben und miteingeleibt und Mitgenoßen an der Verheißung Gottes in Christo JEsu| sind. Vorzumal glaubten die Weisesten und Besten im Volke Gottes so etwas nicht. Wenn sie auch glaubten, daß Heiden mit Israel erben, mit dem heiligen Volk Einen Leib bilden und Mitgenoßen an der Verheißung Gottes werden könnten: so hatten sie doch keinen Gedanken von dem Strom der Heiden, welche mit Israel zu Einem Ganzen, zu Einer Kirche zusammengefügt werden sollten, und noch weniger davon, daß diese Vereinigung bloß durchs Evangelium, bloß durch den Glauben, ohne Beschneidung und Werke geschehen sollte. Der Bau Einer Kirche und Eines ewigen Reiches Gottes aus Juden und Heiden war im Alten Testamente ein für Israel selbst verborgenes Geheimnis. Was aber die Heiden anlangte, so dachte unter ihnen wohl niemand an die Vereinigung von Leuten aus allen Nationen mit Israel zu Einer Kirche, und dieser göttliche und große Gedanke von Einer Heerde und Einem Hirten war ihnen eben so verborgen, als sie ihm vielleicht wenig Werth beigelegt haben würden, wenn sie ihn gekannt hätten. Was nun Juden und Heiden verborgen war, das war, wie Vers 10 unsers Textkapitels zeigt, auch „den Fürstentümern und Herrschaften im Himmel“, also den heiligen Engeln verborgen. Gottes wunderbarer Rath war es nach dem Zeugnisse des hohen Apostels, deßen Weisheit und Wißen sogar bis in die oberen Räume und in den Himmel reichte, daß auch von Seinen Geistern und Boten keiner vorauswißen sollte, wie weit sich das Heil in Christo JEsu erstrecken sollte. Was aber den Menschen auf Erden, und zwar so Juden wie Heiden und nicht minder den heiligen Engeln verborgen war, das war natürlich dem Satan und seinen Engeln um so mehr verborgen. Wenn auch die heiligen Propheten im Alten Testamente vom Heile der Heiden geredet hatten, so konnten sie doch nicht die „Länge und Breite, die Höhe und Tiefe“ ihrer Reden, geschweige des Rathschlußes Gottes erkennen. Als aber die Zeit erfüllt war, als Christus alles vorbereitet und vollendet hatte, so dort wie hier, was zur Seligkeit aller Völker nöthig war, da offenbarte Gott „in Seinen heiligen Aposteln und Propheten (neuen Testamentes) durch den Geist“ den göttlichen Liebesgedanken vom Bau Seiner heiligen Kirche, von Zusammenfügung der beiden Mauern des Einen Tempels, von der Sammlung der Auserwählten aller Nationen zu Einer ewigen, seligen, gerechten Heerde Christi. Dieser Liebesgedanke heißt Vers 10 „die mannigfaltige Weisheit Gottes,“ weil der HErr aus so vielen verschiedenen Theilen, aus einer so großen Mannigfaltigkeit Eine heilige Einheit zu schaffen beschloß. Und dieser, zuvor sogar im Himmel verborgene Plan der mannigfaltigen Weisheit und unaussprechlichen Liebe in Christo sollte in der Gemeinde (wie man das auch in der Apostelgeschichte liest) mit überraschender Fülle und Macht hervortreten. An der Gemeinde selbst, an ihrem Werden und Wachsen sollte den Fürstentümern und Herrschaften im Himmel das Geheimnis kund werden. In der Geschichte und täglichen Erfahrung der Kirche sollten nach Vers 18 alle Heiligen, unter ihnen auch die Epheser, faßen und begreifen, welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe der Liebe Gottes in Christo JEsu und die alle Erkenntnis weit überragende Liebe Christi und die ganze Fülle des Rathes Gottes in Seiner heiligen Kirche. So wie ein Blinder, der nie die Sonne gesehen, wenn er sie zum ersten Male genesenen Auges hervorbrechen sähe in ihrer Herrlichkeit, ganz anders über die Wunder erstaunen würde, als wir, die wir es von Jugend auf täglich sehen; so gieng es eben damals auch. Im Himmel und auf Erden war alles voll Erstaunen, als Petrus nach Cäsarea zu Cornelius, als die Jünger von Cyrene nach Antiochien geführt wurden, als die ersten Gemeinden aus Heiden und Juden entstanden, ohne Beschneidung, allein durch Wort und Sacrament und Glauben. Das Erstaunen löste sich auf Erden unter den Heiden in Jubel auf und eben so im Himmel, und dort, wo kein Wunder Gottes durch Gewohnheit veraltet, geht auch jetzt noch ununterbrochen Lob und Preisgesang fort über das offenbarte Geheimnis des Baues der Kirche Gottes, wenn schon auf Erden Preis und Dank, Einsicht und Verstand durch Gewohnheit versiegte. – Auf Erden war wohl niemand jemals fröhlicher und wonnevoller über dies Geheimnis, als St. Paulus, zuvor der unfähigste gerade dafür, hernach durch Gottes umänderndes Erbarmen der empfänglichste, fähigste unter allen, so wohl Juden und Heiden. Seine Lippen floßen über, seine Feder floß über, wie in unserm Texte, von Bitte an die Menschen, Gebet und Lob zu Gott,| er lebte darin, er lebte und litt und starb für dies Geheimnis. Seine Volksgenoßen freilich konnten sich von dem Erstaunen, welches Himmel und Erde über Gottes mannigfaltige Weisheit ergriff, nicht erholen; bei ihnen wendete sichs nicht, wie bei den Heiden und im Himmel, zu Preis und Lobgesang. Ihr Stolz war gekränkt, als sie nicht mehr die Einzigen, ihr alttestamentlicher Weg nicht mehr der alleinige sein sollte. Sie verschloßen ihr Herz gegen die Breite und Länge und Höhe und Tiefe der Liebe Gottes, wollten keinen allgemeinen, keinen Weltheiland, sondern eigensinnig einen Judenheiland, von deßen vollen Tischen nur hie und da ein Heide in demüthigender Weise eßen sollte. Ihnen gedieh die alle alttestamentliche Erkenntnis übersteigende Weitschaft und Größe der Liebe Gottes in Christo JEsu zum Unheil; sie fielen von Dem ab, der ihrer Meinung nach zu viel gab. Den Paulus aber, der mehr als alle andern Apostel für das neuoffenbarte Geheimnis eiferte, den fiengen sie, den übergaben sie den Römern, der mußte gefangen sein und leiden in Jerusalem und Cäsarea und auf dem Meere und in Rom, weil er nicht aufhören wollte, den Gott der Länge und Breite, der Höhe und Tiefe unendlicher Erbarmung zu preisen. – Da saß er nun in Rom, gefangen, und schrieb seinen Brief an die Epheser, und darin das dritte Kapitel, und in demselben unsern Text, – der euch nun, hoffe ich, verständlicher werden soll, als ohne diese einleitende Betrachtung über den mächtigen Grund der Bitte, des Gebetes und des Lobgesangs Pauli. – Laßt uns nun zum Inhalt unsers Textes weiter gehen und zuerst die Bitte St. Pauli an die Ephesier betrachten.
 Lieben Brüder! Die Bitte Pauli an die Ephesier ist leicht zu verstehen, leicht vorzulegen, bedarf keiner schweren Abhandlung. Ich erlaube mir, sie durch etwas Aehnliches einzuleiten. Es wird jemand unter euch krank, wie das allen geschieht oder geschehen kann. Tritt der Fall ein, so wird der Kranke ein Gegenstand des Mitleids und der Theilnahme; man sorgt für ihn, man thut ihm das Mögliche. Ist das unter euch nicht so? Wenn nun aber die Krankheit länger dauert, wenn sie nicht im Verlaufe von etlichen Tagen oder Wochen sich zur Genesung oder zum Tode entscheidet, was geschieht dann – allenthalben, sonderlich auch unter euch? Die Theilnahme erkaltet, das Mitleid hört auf, – ja, es kann kommen daß man der Sache müde wird, daß man die unvermeidliche Unbequemlichkeit, die ein Kranker verursacht, zu entfernen, wo nicht, zu gewöhnen, zu übersehen trachtet, und daß man sich Gründe aufsucht, um deren willen man unangefochten und gleichgiltig vor dem Kranken glaubt vorübergehen zu dürfen, wie vor dem unter die Mörder Gefallenen der Priester und Levite. Da kann dann der Jammer steigen, das Uebel sich verschlimmern, der Schmerz Mark und Bein des Leidenden durchdringen: es weint und klagt niemand mehr mit dem Weinenden und Leidenden, sondern um ihn wie um einen dunkeln, wehen Mittelpunkt kann sich – endlich sogar, wenn die Todesstunde kommt, das gewöhnliche Alltagsleben der Seinen unbeirrt und ungetrübt bewegen. Das erlebt man so oft, und das ist so traurig, erweckt so viel gerechten Vorwurf gegen die Menschen unsrer Umgebung. Wenn man nun aber das alles mit ein paar Worten ausdrücken will, so kann man sagen: „so wird man eines kranken Menschen müde!“ Gerade so gieng es dem Apostel mit seinen Leiden. Als er in Jerusalem gefangen genommen, als er nach Cäsarea geführt, vor den Landpfleger gestellt wurde, als alles neu war, da werden die Heidenchristen, seine Jünger, wohl Theil genommen und mitgefühlt haben, denn er litt ja ursprünglich nicht, weil er JEsum als Messias erkannte, sondern weil er den Heiden freie, offene Pforten ohne allen Umweg über den Tempelberg zu Jerusalem zeigte. Da wird es an Trostbriefen, an Liebeserweisungen nicht gefehlt haben. Diese Theilnahme und Liebe mag auch immer wieder neu hervorgetreten sein, wenn eine neue Wendung der Leiden Pauli eintrat, – wenn er zu Schiffe gebracht wurde, wenn er Schiffbruch litt oder vor den Kaiser gestellt wurde und sich das erste Gerücht, die erste Nachricht davon verbreitete. Aber es traten Stillstandszeiten ein: St. Paulus lag lange zu Cäsarea, zu Rom; kein neues besonderes Leiden wurde bekannt. Zwar dauerte an, was anfangs viel Theilnahme erregt hatte, die Gefangenschaft, aber eben weil sie andauerte, gewöhnten sich die daran, die nicht mitgefangen waren. Ihm, dem Apostel, mochte seine Lage je länger je unerträglicher werden; aber den andern wurde sie je länger| je erträglicher; sie wurden „müde seiner Leiden“, dachten, sprachen, beteten über sie weniger, und die Zeichen der Gemeinschaft mögen ausgeblieben sein. So was kann St. Paulus empfunden oder vorausgesehen und gefürchtet haben, und deshalb bittet er die Ephesier, „um seiner Trübsal willen nicht müde zu werden“ – und er führt zwei Gründe an, die, jeder für sich schlagend genug, auch in ihrer Aufeinanderfolge, wie wir sie lesen, steigende Kraft und siegreiche Macht besitzen. Der erste Grund ist: „ich leide die Gefangenschaft und was mit ihr zusammenhängt, für euch“, der zweite aber: „meine Leiden sind euch eine Ehre.“ Ganz richtig. Die Epheser waren ja wohl größtentheils Heidenchristen, ohne Proselytentum der Juden durch den freien Zugang der Gnade, welcher sich in der Taufe eröffnete, Christo einverleibt. War nun das ein Unrecht, hatten die Judenchristen Recht mit ihrer Behauptung, daß niemand ein Recht an Christum habe, als wer entweder von Geburt oder doch durch die gemeinsame Beschneidung mit Israel verbunden war: so war aller Segen, den sie bisher gehabt, und ihr ganzes Christentum eine Täuschung; da konnten sie dann verzweifelnd rückwärts gehen oder sie mußten mit Verachtung und Verdammung aller gemachten Erfahrungen noch einmal in anderer Weise Christen werden. Das wäre in der Wirklichkeit eine schreckliche Sache gewesen, und viele würden nach einer solchen Enttäuschung gar nicht mehr zu Christo gekommen sein. Daß aber eben die Judenchristen nicht Recht hatten, war Pauli Satz, den er nicht bloß mit Worten, sondern auch mit seinem Leiden bestätigte. So wurde sein Leiden ein Leiden für die Heidenchristen zu ihrer Ruhe. Wie hätten sie, die Schüler, stehen können, wenn er, der Lehrer, gewankt hätte? Mit ihm standen, mit ihm fielen sie; an seiner Treue hieng ihre Ruhe, so wie sein Wanken ihnen allen Verwirrung gebracht haben würde. Hieng aber so viel für sie von seiner Treue ab, wie durften sie müde werden seiner Leiden, d. i. seiner Treue?! – Seine Leiden geschahen aber nicht bloß für sie, sondern sie gereichten ihnen zur Ehre oder zur Verherrlichung. Es versteht sich, daß von keiner Ehre die Rede ist, welche alle anerkannt hätten oder allgemein gewesen wäre. Litt doch St. Paulus durch Menschen, im Gegensatz zu den Juden und Judenchristen; wie konnten alle seine Leiden als der Epheser und aller Heiden Ehre faßen? Vor denen aber, die Augen hatten zu sehen, war es freilich nur zur Verherrlichung der Heiden, was Paulus erlitt. Der Heiden Herrlichkeit ist die freie Gnade Christi, – die Theilnahme am Reiche Gottes ohne Annahme einer fremden Nationalität, ihre „Freudigkeit und Zugang in aller Zuversicht durch den Glauben an Christum“ (Vers 12). So lange nun die Predigt der freien Gnade erscholl, so lange ihr Herold Paulus unbesiegt durch Widerstand und Leid sie verkündigte, – so lange hatten die Heiden ihre erwünschte Herrlichkeit und Ehre, so lange konnten sie jubeln und triumphieren. Wäre aber Pauli Eifer erkaltet, hätte ihn das Leiden gebrochen; so wäre ihre Herrlichkeit dahin gewesen, weit mehr, als dort die Herrlichkeit Israels, da Pinehas Weib ihren Sohn sterbend nannte Icabod, d. i. „Wehe, die Herrlichkeit ist dahin.“ Wenn aber der Heiden Herrlichkeit in Pauli Beständigkeit aufrecht stand, mit seiner Schwachheit gefallen wäre, wie konnte da Gleichgiltigkeit gegen seine Leiden gerechtfertigt werden? Leidet er für die Heiden, ist sein Leiden sogar zu ihrer Verherrlichung gemeint; so konnte ihr Erkalten in Lieb und Theilnahme nicht gerechtfertigt werden. –

 Der Apostel unterstützt also seine Bitte an die Ephesier mit guten Gründen; aber freilich, Gründe bleiben Gründe, und wenn sie gute Gründe sind, auch unüberwindlichen und hohen Werthes, selbst wenn man sie nicht annimmt. Annehmen aber oder nicht, das liegt im Willen, in der Bereitung, in der Empfänglichkeit, ja in der Stimmung begründet, so daß, wenn Gründe ihren Posaunenton erheben, wohl jeder seiner Seele wahrnehmen und seine Ohren öffnen darf, damit er höre.


 St. Paulus, der Kenner menschlicher Zustände, der Mann von offenen Augen weiß das gar wohl, und je mehr ihm daran liegt, daß die Ephesier die von ihm an sie gebrachte Bitte schon um ihrer selbst willen erfüllen möchten, desto mehr fühlt er sich gedrungen, auf die Bitte an die Menschen zu Ephesus ein Gebet zu Gott folgen zu laßen. Weniger von den Menschen, als von Gott, dem HErrn, erwartet, von Ihm alleine erfleht er am Ende seine Erfolge. Sollen die Ephesier und andere Heidenchristen nicht in ihren eigensten Sachen, in der Vertheidigung ihres| freien Zugangs zu Gott in Christo JEsu erkalten, soll ihnen für diese Welt die Hauptsache bleiben, was die Hauptsache ist, nemlich der Bau der heiligen Kirche; so müßen sie, wie wir das schon im ersten Theile dieses Vortrags sagten, begreifen und faßen können, welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe des göttlichen Erbarmens in Christo; keine jüdische Schranke durfte vor ihnen aufgerichtet werden oder stehen bleiben; die alle Erkenntnis weit überragende Liebe Christi, die ganze Fülle des göttlichen Reichtums mußte ihnen enthüllt werden. Und dies, dies ist eigentlich die Bitte des heiligen Apostels zu Gott. Die hohe, innige, selige Stufe der Erkenntnis göttlicher Liebe wünscht und erfleht er ihnen. Deshalb sagt er, (und wie feierlich und schön ist seine Rede!) er beuge seine Kniee gegen dem Vater unsers HErrn JEsu Christi. Kniebeugend wendet er sich zum allerhöchsten Orte und sucht, was seine Ephesier und alle Heidenchristen bedürfen. Deshalb nennt er den Vater JEsu Den, von welchem jede Vaterschaft, jede Familie im Himmel und auf Erden, alles, was Kinder heißt im Himmel und auf Erden, den Namen hat. Er gedenkt aller Vaterschaften, aller Familien, aller Geschlechter auf Erden, und sieht schon im Namen Vaterschaft, Familie, Geschlecht vorbildlich angedeutet die Eine höchste Vaterschaft Gottes in Christo JEsu, die Eine Familie, aus allen Familien und Geschlechtern hervorgegangen, nemlich die heilige Kirche, die aus Juden und Heiden entsteht, – er denkt an die Familien, welche bereits daheim sind in den Himmeln, eben so an die auf Erden, – und sieht sie alle vorbildlich oder in seliger Erfüllung eingereiht in den Bau der Kirche Gottes. Bei dem Namen, der allen Geschlechtern in dem Vaternamen weißagend aufgeprägt ist, ruft er den HErrn an, daß Er auch den Ephesiern gnädig sei, die göttlich über alle Völker sich erstreckende, die Himmel und die Lande bevölkernde Liebe Gottes in Christo, die Liebe, welche in dem Bau der Kirche ausgeprägt ist, zu verstehen. Und weil er große Einsicht in die weite, reiche Fülle Gottes den Ephesiern wünscht, so ruft er diesen Vater aller Väter an, nach dem Reichtum Seiner Herrlichkeit zu handeln, die Erkenntnis nach dem Maße des zu Erkennenden zuzumeßen und die Ephesier darnach mit Erhörung Seines Gebetes zu segnen. Geschieht ihm das, dann werden sie auch seiner Leiden nicht müde werden, seine Bitte an sie erfüllen, erfüllen aus eigener Nothdurft sowohl als aus eigener Liebe. An der Erhörung seines Gebetes hängt die Erfüllung seiner an die Ephesier gebrachten Bitte.

 Der heilige Apostel hat, wie gesagt, keine andere Absicht, als daß die Ephesier zu jener hohen Stufe der Erkenntnis göttlicher Liebe im Bau der Kirche möchten erhoben werden. Aber wenn er das Ziel will, muß er den Weg, – mit dem Zweck muß er die Mittel, – mit dem Wege muß er die einzelnen Wegstrecken und Stationen wollen. Er will sie auch, und um so ernster, je klarer sie ihm vorliegen. Er kennt sie. Damit die Ephesier zu jener hohen Stufe innern Lebens gelangen, müßen sie

stark werden durch Gottes Geist am inwendigen Menschen“,

müßen sie

Christum wohnen oder herbergen durch den Glauben in ihren Herzen“,

müßen sie

in Liebe gegründet und gewurzelt werden“.
 Die Lehre vom Bau der Kirche Gottes, von der Länge und Breite, Höhe und Tiefe der sich offenbarenden und ergießenden Barmherzigkeit Gottes in Christo JEsu ist nicht Milchspeise, sondern starke Speise. Wenn dies auch den Menschen dieser Zeit nicht also scheint, so ist nur ihre Blindheit daran schuld, hauptsächlich aber ihre Blindheit für die hohen, damit zusammenhängenden kirchlichen Fragen, welche jede Zeit bewegen. Nachdem unser Heil in Christo gegründet ist und durch Wort und Sacrament dargereicht werden kann, liegt alles daran, daß die Kirche auf dem Grund gegründet, durch Wort und Sacrament gesammelt, verbreitet, erbaut werde. Um aber hier mitreden und mitthaten zu können, bedarf es zu allermeist die Erkenntnis, von welcher St. Paulus in diesem Texte redet, – diese aber hängt ganz von der Stärkung und Stufe des innern Menschen, von der Einwohnung JEsu, von der Einwurzelung und Gründung in Seiner unaussprechlichen Liebe ab. Darum betet der Apostel zunächst nicht einmal um Erfaßung der Breite und Länge und Tiefe und Höhe. Er will nichts mehr als eben sie, aber sie wird im Texte nur mehr als Absicht und Folge der Gebete| und Gebetserhörung hingestellt, welche sich von selbst ergeben müße, während um die, jene Erkenntnis vorbereitenden Stufen des innern Lebens sich all sein Gebet bewegt. Es muß der inwendige Mensch und das Leben im Geiste stark werden, dagegen aber das gewöhnliche fleischliche, irdische Leben zurücktreten, wenn man für die Kirche und ihren Bau den rechten Sinn haben soll. Soll aber der innere Mensch zu dieser Stärke gelangen, so muß das Herz Christo offen und bereit sein, Christi persönlicher Tempel zu werden, Christus muß einziehen und Besitz nehmen. Es hängt hier freilich eins mit dem andern zusammen. Es gehört schon eine hohe Stufe geistlichen Lebens dazu, um die Einwohnung Christi zu erfahren – und umgekehrt muß, damit wir recht geistlich gesinnt werden und der innere Mensch herrsche, Christus in uns herrschen. Ueber das vor und hernach kann man hier wie oft auch in andern Dingen streiten; aber da sein muß beides, ja auch das zusammenhangende dritte, die Wurzelung und Gründung in der Liebe Christi und Gottes, wenn man für das Hauptthema des Lebens Pauli und für die Würdigung seiner Leiden Sinn und Verstand haben soll.

 Hiemit ist euch das Gebet Pauli vorgelegt, ein Gebet, bei deßen einzelnen Theilen man gerne und lange verweilen und viel davon reden möchte, wenn die Zeit und eure für diesen Text schwerlich sehr rege Theilnahme es gestattete, – und wenn, es ehrlich zu gestehen, meine eigene Lebensstufe geeigneter wäre, von der Stärkung des inwendigen Menschen, von der Einwohnung JEsu, von der Gründung und Wurzelung in der Liebe zu reden. So arm und gering wir aber auch beiderseits sind, ihr und ich, das erkennen wir doch, daß St. Pauli Gebet ein herrliches ist, von dem wir wünschen müßen, daß es von St. Paulo und allen Aposteln und allen Heiligen im Himmel und auf Erden, für uns geschehen möchte. Wir in unserm elenden Gewohnheitschristentum, die wir lau und träg dahingehen, könnten in der That nichts mehr bedürfen, als das Eindringen in das Geheimnis der sich auch in unsern Zeiten immer mehr erbauenden Kirche Gottes. Theilnehmendes Erkennen der Wege Gottes auf Erden könnte uns wach erhalten und am besten uns vor der täglich neu auf uns eindringenden Versuchung der Welt behüten, welcher wir doch nicht mehr angehören und angehören sollen.


 Hier stehen wir nun, meine Brüder, am Schluße unsers Textes, beim letzten Theile, der nicht mehr Neues zu dem Vorigen mittheilt, sondern nur das Gebet, welches St. Paulus gethan hat, in Lobpreisung, man darf wohl sagen, in Lobgesang verklärt. Dem großen Beter ist auf dem Wege des Gebetes die Zuversicht gewachsen; er zweifelt an der Erhörung nicht, sondern er sieht sie kommen, größer und reicher, als er selbst es in seiner Bitte und Meinung hatte, und darum fühlt er sich gedrungen, alles eigenen Verdienstes sich zu entkleiden, und Gotte, dem HErrn, welcher Gebet erhört, die Ehre allein zu geben. Hängt alles, auch was wir thun sollen, von dem HErrn und Seiner gnädigen Erhörung unsrer Gebete, und fast möchte ich kühnlich reden, unsrer Bedürfnisse ab (denn unsre Gebete sind ja nur laut werdende Bedürfnisse); – können die Epheser die Bitte Pauli, seiner Leiden nicht müde zu werden, nicht erhören, wenn Gott ihnen nicht eine reichere Stufe des inwendigen Lebens gibt; so hängt alles an Gott und Seiner Gnade, so gebührt auch Ihm allein die Ehre. Wie ER allein in der Tiefe Seines Wesens den Gedanken Seiner mannigfaltigen Weisheit faßen konnte, – wie ER allein ihn in Christo auszuführen vermochte, ihn ausgeführt hat und noch ausführt, so kann auch nur ER Sinn und Erkenntnis für Sein heiliges Thun im Bau der Kirche geben, erhalten, stärken, groß ziehen – und eben damit unsre eigne selige Theilnahme an Gottes heiligem Gang. Die Geschichte ist nur Sein Werk und Seine hohe Gnadengabe.

 Wenn auch die meisten unter uns, meine Brüder, keine hohe Lebensstufe haben werden, ganz werden ja doch auch unter uns die nicht fehlen, deren höchste Angelegenheit auf Erden der Bau der heiligen Kirche ist. Wer sein Heil noch nicht gefunden hat, selbst noch kein Glied der Kirche geworden ist, dem liegt es freilich näher, es ist seine dringendere Angelegenheit, sein Heil zu finden, ein Glied der Kirche, ein Stein des Tempels zu werden. Wer aber sich eingefügt weiß, wer weiß, auf welchem er ewig ruht und an wen er glaubt, der liebt das Reich Gottes auf Erden und sein Tag- und Nachtgedanke wird die| Kirche Gottes. Am Bräutigam selbst hangend wird es sein Gebet, seine Sorge, sein Flehen, seine Sehnsucht, seine Hoffnung und zuversichtliche Erwartung, daß alles vollendet werde, was der Kirche verheißen ist, und daß sie, sicher wie ein Kind an der Hand des starken Vaters, an der Hand JEsu ihren Lauf vollenden und ihr Ziel erlangen möge. Wem es aber so zu Muthe ist, auch wenn ihm die hohe Lebensstufe noch nicht gegeben ist, welche St. Paul den Ephesiern erbittet, der gewinnt auch Lust am Lobgesang Pauli, und gewis, daß alle Gebete Pauli und aller Heiligen in Erfüllung gehen, stimmt er die Harfe und greift in die Saiten und singt das hohe Lied Pauli von der Vollendung der Kirche mit Freuden und mit Wonne.

 Wohlan, die Herzen in die Höhe, damit wir im ersten Verse des Lobgesangs die Kraft und Macht Deßen preisen, der in uns wirkt und wirken kann über Bitten und Verstehen, damit wir Sein über Bitten und Verstehen hinausgehendes Thun zum Heile der Menschheit und der Kirche begreifen. Die Herzen in die Höhe, damit wir nach dem zweiten Verse in der Gemeinde und in Christo JEsu Herrlichkeit und Ehre Dem alleine geben, der sie alleine hat, – Dem sie auch bleiben muß von Geschlecht zu Geschlecht, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Alle Geschlechter sind gesegnet in Ihm durch den Bau Seiner Kirche; alle Aeonen, alle Ewigkeiten sind Seiner Ehren voll, weil ER Seine Kirche von Ewigkeit zu Ewigkeit vollendet und erfüllt mit Seiner Gottesfülle die Auserwählten aus allen Nationen und Zeiten. Die Herzen in die Höhe und dem heiligen Chorführer nachgefühlt, nachgesprochen, nachgesungen: Dem, der da kann überschwänglich thun über alles, das wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die da in uns wirket, Dem sei Ehre in der Gemeine und in Christo JEsu in alle Geschlechter der Zeiten und Ewigkeiten. Amen.




« Trinitatis 15 Wilhelm Löhe
Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
Trinitatis 17 »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).