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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am siebenten Sonntage nach Trinitatis.

Römer 6, 19–23.
19. Ich muß menschlich davon reden, um der Schwachheit willen eures Fleisches. Gleichwie ihr eure Glieder begeben habe zum Dienst der Unreinigkeit, und von einer Ungerechtigkeit zu der andern: also begebet nun auch eure Glieder zum Dienst der Gerechtigkeit, daß sie heilig werden. 20. Denn da ihr der Sünde Knechte waret, da waret ihr frei von der Gerechtigkeit. 21. Was hattet ihr nun zu der Zeit für Frucht? Welcher ihr euch jetzt schämet; denn das Ende derselbigen ist der Tod. 22. Nun ihr aber seid von der Sünde frei, und Gottes Knechte geworden, habt ihr eure Frucht, daß ihr heilig werdet, das Ende aber das ewige Leben. 23. Denn der Tod ist der Sünden Sold, aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben, in Christo JEsu, unserm HErrn.

 ZWischen dem heutigen Evangelium und der Epistel ist ein Zusammenhang nicht nachzuweisen, es geschehe denn durch geistliche Deutung. Das Evangelium handelt von der Heilung des Aussätzigen und des gichtbrüchigen Knechtes des Hauptmanns von Capernaum; die Epistel aber von dem Sonst und Jetzt unserer Freiheit und Knechtschaft, und von den verschiedenen Früchten der beiden Arten von Freiheit und Knechtschaft. Da greife nun jemand einen Zusammenhang des Hauptinhalts heraus, ohne geistlich zu deuten. Der Aussatz, die schmerzenreiche Gichtbrüchigkeit sind theils Bilder, theils aber auch fernentlegene Folgen der Knechtung unserer Seelen unter die Sünde und unserer Freiheit von der Gerechtigkeit. Hier liegt auf einmal ein Zusammenhang zu Tage, der von einzelnen Umständen beider Texte ziemlich kräftig unterstützt und als der wahrscheinliche Sinn und Zielpunkt derer, welche die Texte wählten, bestätigt werden kann. So sagt z. B. der Hauptmann von seinem Knechte im Evangelium, „er sei furchtbar gequält und gepeinigt“, ein Ausdruck, welcher an die Qual der Sclaverei unter einem bösen Herrn und an die furchtbaren Geißelhiebe erinnern kann, welche arme Sclaven oftmals zu erdulden haben. Anderntheils zeigt der Ausdruck „Tod“, unter welchem die Epistel die Früchte der Sündensclaverei zusammenfaßt, auf ein verwandtes Gebiet des Aussatzes und der Gichtbrüchigkeit, und wenn er auch nicht zunächst den leiblichen Tod bedeutet, der aller Krankheiten Ende ist, so benennt er doch den geistlichen Zustand, welcher Quell und Ursprung aller Leiden und auch des zeitlichen Todes ist. Ist manchem dieser Nachweis des aufgezeigten Zusammenhangs aus Nebenumständen zu gering, so darf man doch zur Vertheidigung sagen, daß gar oft der Zusammenhang der Texte durch die Nebengedanken| geknüpft und von ihnen aus erst in die Hauptgedanken hineingeführt wird, und daß die Textwähler wohl nicht daran dachten, auch kaum es hoch angeschlagen und berücksichtigt haben würden, wenn jemand sie darauf geführt und hingewiesen hätte, nur Texte von gleichen oder ähnlichen Hauptgedanken zu wählen. Ist aber auch das nichts geredet und keiner Beachtung werth, so laßet andere beßer den Zusammenhang der Texte zeigen, uns aber getrost zur Epistel gehen und ihren Sinn darlegen, der unzweifelig göttlich und segensreich sein wird.

 Unser Text steht in unverkennbarer Verwandtschaft mit dem epistolischen Texte des vorigen Sonntags. Es wäre ein Leichtes, nachzuweisen, wie einerlei Hauptgedanken in beiden Texten zu Grunde liegen und herrschen. Doch haben diese Grundgedanken eine andere Faßung, und diese Faßung liegt in einem Gleichnis. Der Apostel leitet unsern Text mit den Worten ein: „Ich muß menschlich davon reden um der Schwachheit willen eures Fleisches,“ oder genau am Wort: „Ich muß etwas Menschliches davon reden.“ Das Menschliche aber, welches er meint, ist die Hülle, die er um seine Lehre herumlegt, die Einkleidung derselben in ein Gleichnis. Er will ein menschliches Gleichnis gebrauchen, damit die Römer es desto leichter faßen und verstehen, und die Schwachheit und Schwere des Fleisches sie nicht hindern könne. Das Gleichnis, welches er nun aber braucht, ist eben Freiheit und Knechtschaft, Freiheit und Sclaverei. Die ganze Bevölkerung der Welt, in der apostolischen Zeit konnte in Freie und Sclaven getheilt werden; es gab kaum einen wichtigeren, tiefer in alle Verhältnisse des Lebens eingreifenden Unterschied, als den der Freiheit und der Sclaverei. Und den eben faßt der Apostel auf und wendet ihn auf Sünde und Gerechtigkeit an. Sünde und Gerechtigkeit erscheinen als die großen Herrinnen, die am Markte der Menschheit mit ihren Gebieten zusammengrenzen und sich in die Menschenkinder theilen, so daß jedermann entweder der einen oder andern großen Herrin als Sclave zugehören muß. Es ist also keinem Menschen anheimgestellt, etwas für sich zu sein und ohne alle Beziehung auf Sünde und Gerechtigkeit zu leben; sondern hier gilt nur ein Entweder – Oder. Keiner ist völlig frei, sondern nur von einer der beiden Herrinnen, – keiner aber auch ein Sclave aller Dinge, sondern nur der einen oder der andern Herrin. – Doch ist der Mensch nicht durch ein göttliches Geschick der einen oder der andern Herrin zugetheilt; auch ist es nicht nöthig, daß ein Mensch der Sünde oder der Gerechtigkeit Sclave im ganzen Leben auf Erden bleibe, sondern es ist ein Wechsel möglich. Es ist ein Befreier vorhanden, welcher aus den Banden der Sünde für alle sündenmüden Sclaven freien Abzug und offene Pforten gewonnen hat. Aber die offenen Pforten führen nicht bloß aus dem Gebiet der Sünde, sondern auch in dasselbe, und wenn irgend wer sich schämt, der Gerechtigkeit zu dienen, und den Dienst der Sünde dem der seligen Gerechtigkeit vorzieht, so hindern ihn am traurigen, unheilvollen Rückzug selbst der göttliche Befreier und Seine Engel nicht. Wie Freude vor Ihm und Seinen Engeln ist, wenn die früheren Sclaven der Sünde ins Land der Gerechtigkeit eingehen, so ist auch ein Mitleid und eine Klage bei den seligen Schaaren und ihrem Könige, wenn die armen Schaafe zu den Pforten der Sünde sich wenden. – Da wechselt es nun zwischen den Sclaven; sie kommen und gehen; es gibt ein Sonst und Jetzt.

 Wenn wir den Ausdruck Sonst und Jetzt gebrauchten, so könnte man den zu eng finden. Erscheint völlig richtig, wenn man bloß einen einmaligen Wechsel der Herrinnen annimmt. Da nun aber der Wechsel möglicherweise oft geschehen kann, bis endlich die Ewigkeit einen unveränderlichen Zustand bringt, so scheint Sonst und Jetzt zu eng und deshalb nicht völlig richtig. Allein der Apostel redet eben im Texte nur von einem einmaligen Wechsel, wünscht und will keinen öfteren, hofft, daß wenn einmal der rechte Wechsel geschehen, Dauer und Festigkeit nicht fehlen werde – und nach der Liebe, die in ihm ist, bespricht er nicht, was er nicht will, sondern er betrachtet den Wechsel, der bei den von ihm geliebten Gliedern der römischen Gemeinde bereits eingetreten war, als einen solchen, dem kein zweiter folgen würde.

 Das Sonst und Jetzt der Römer ist klar. Sie waren sonst Sclaven der Sünde, hernach wurden sie durch Christum Leibeigene und willige Knechte der Gerechtigkeit. Oder mit andern Worten, sonst waren sie Heiden, dann wurden sie Christen. Die Heiden, die griechischen und ebenso die römischen jener Zeiten,| auf welche die ganze griechische Sittenverderbnis übergegangen war, konnten gewis als Sclaven der Sünde insgemein dargestellt werden. Die Sünde selbst konnte als Unreinigkeit und Ungesetzmäßigkeit angesehen und es konnte gesagt werden, wie St. Paulus sagt: „Ihr ergebet eure Glieder zu Sclaven der Unreinigkeit und Ungesetzmäßigkeit“, oder, was gewis damit zusammenfällt, „der Gesetzlosigkeit und eines widergesetzlichen Wesens“. Unreinigkeit ist der Gegensatz jener heiligen Zucht und Keuschheit des äußern und innern Lebens, von deren Schönheit und Majestät auch der Heide eine Ahnung und eine Art von Zug dazu haben muß. Die Sünden wider das sechste Gebot des Gottes Israel, wie sie durch Gedanken, Worte und Werke begangen werden können, sind ganz insonderheit hieher zu ziehen, wiewohl nicht sie allein, wiewohl sie nur Chor- und Anführer aller andern Gewißenlosigkeit und alles des übermüthigen fleischlichen Wesens waren, das man eben am Heiden kennt. Was war jenen Heiden die Ehe? Was Frauenehre und Frauenliebe? Ja, was Unschuld des Jünglings? St. Paulus hat es im Eingang des Römerbriefes gesagt, welche heillose Sünden der Unreinigkeit herrschend geworden waren und schier allgemein alles Zeugnis des Gewißens ausgelöscht und ertödtet hatten. Wie der Ochs zur Fleischbank, so gieng alle Welt den unreinen Weg des Fleisches: man wußte nicht oder selten mehr, was Reinigkeit war, weil alles Fleisch seinen Weg verderbt hatte. Dazu war kein anerkanntes göttliches Gesetz in der Welt. Es gab menschliche Gesetze, der Römer rühmte sich ihrer; aber da kein unverbrüchliches göttliches Recht und Gesetz wie eine Sonne die menschlichen Gesetze beleuchtete, achtete man ihrer nicht; alles war feil; zu allem gabs Willen und Weg, Mittel und Möglichkeit. Nichts Festes, Bleibendes, Anerkanntes war mehr vorhanden, als das Gebot der Selbstsucht und der allen eingeborne Trieb, nach dem zu jagen, was man als begehrens- und wünschenswerth erkannte. Wer will, lese die Bücher derer, die hievon geschrieben haben, und lerne schaudern. Auch dem Unheiligen unserer Tage kann noch eine Einbildung eigener Gerechtigkeit und eine Achtung vor der gegenwärtigen elenden, abfälligen Zeit aufsteigen, wenn er es ausführlich und im Einzelnen dargelegt liest, in welchem Maaße die Heiden Sclaven, willige nicht bloß, sondern willenlose Sclaven der Sünde waren und ihre Glieder der Ungerechtigkeit zur Ungerechtigkeit hingaben.

 Das war das Sonst der Römer, welches vorüber und an deßen Stelle nunmehr das beßere Jetzt getreten war. Die Unreinigkeit, die Ungerechtigkeit war erkannt, Buße und Reue hatte sie ergriffen, an der Hand des einzigen Erlösers hatten sie das Gebiet der Herrin Sünde verlaßen und waren nun, angehaucht vom Geiste ihres Christus, erfüllt von Seiner Liebe, eingetreten ins Reich der Gerechtigkeit. Jetzt wußten, wollten und konnten sie, was sie zuvor weder gewußt, noch gewollt, noch gekonnt hatten, nemlich das Gute. Keine Seile und Ketten zogen sie mehr in den Werkstätten der Sünde vorwärts, sondern es war ihnen Lust und Reizung zu allem, was gut, was heilig war, gegeben, und ein sanfter Trieb brannte in ihnen, wie eine reine lichte Flamme, und erwärmte ihre vormals erstorbenen, todten, kalten Herzen zum Dienst der frommen Herrin, von der man sagt: „wer dir dient, der regiert,“ deren Dienst die Freiheit und deren Herrschaft Lust und Seligkeit ist. Und wie man eine Flamme in ihrem Beginn mit dem Hauche des Mundes höher entflammen, mächtiger ausbreiten kann, so trat nun St. Paul daher und hauchte und flammte an. „Gleichwie ihr eure Glieder dahingegeben hattet der Unreinigkeit und der Ungerechtigkeit zum Sclavendienste, von einer Ungerechtigkeit zu der andern, „„so gebt eure Glieder nunmehr zum Eigentum und zum Dienste hin der Gerechtigkeit zur Heiligung.““ Das ist eine anflammende Ansprache, – und welch ein herrlicher Ausdruck ist das: „der Gerechtigkeit zur Heiligung!“ Gebe ich meine Glieder Leibes und der Seele der Gerechtigkeit, daß sie mich beherrscht, – was geschieht? Ich werde heilig. Uebe ich mich in allem treulich, was mir geboten ist, so wird in mir durch Uebung das Gute stark, mein Dienst der Gerechtigkeit wird heilig. Wer im innern Leben erfahren ist, der weiß das.

 Da haben wir Sonst und Jetzt der Römer. Der Apostel faßt es im 20. Vers einfach in die Worte zusammen: „Als ihr Sclaven waret der Sünde, waret ihr frei für die Gerechtigkeit“ und Vers 22: „Nun ihr aber frei und los geworden seid von der Sünde, seid ihr zu Gottes Knechten geworden.“ Seliges Jetzt!| Jetzt erst ist also der freie Römer frei, recht frei, denn er ist frei vom Regiment der Sünde, – und jetzt ists aus mit allem einseitigen, übertriebenen Lob der Freiheit, denn der freie Römer ist ein froher, seliger, geschworener Leibeigener der Gerechtigkeit und ihres Königs Christus.

 Auf daß nun aber die Freiheit von der Sünde und der Dienst der Gerechtigkeit desto mehr bestätigt würde, gibt der Apostel noch eine Belehrung von den Früchten des Sündendienstes und des Dienstes der Gerechtigkeit. „Was hattet ihr damals, was hattet ihr sonst für Frucht? Solche Dinge, deren ihr euch nun schämet; denn ihr Ende ist der Tod.“ „Denn der Sold der Sünde ist Tod.“ Sonst hatten sie keine Scham. Die Scham war erstorben und sie waren unverschämt geworden. Schamlosigkeit war der Heiden Art. Aber wenn auch die Unschuld Leibes und der Seele dahin ist, dahin, wie es scheinen könnte, auf Nimmerwiederkehr, der wunderbare Gott kann sie erstatten. Ist auch die Lilie der Reinigkeit gestorben, so erweckt der HErr aus ihrer Wurzel die blutrothe Rose einer glühenden Scham. Eingetaucht in tiefe Reue und in das Blut des HErrn erwacht das Gefühl und der Sinn für alles Heilige und Rechte wieder als Gefühl der Schande, die man sich zugezogen, als tiefe Scham. O diese Scham ist ein Morgenroth eines neuen Tages der Heiligung, eines Triumphtages der Gerechtigkeit über Unreinigkeit und gesetzloses Wesen. Dies Morgenroth ist nun über die Römer gekommen, sie schämen sich der Dinge, die sie begangen. Es geht ihnen, wie die Kirche singt: „Es erröthen meine Wangen, über dem, das ich begangen.“ Aber die Wangen erbleichen auch wieder. Beim Blick auf die Früchte des Sündendienstes, auf die Laster und Verbrechen werden sie unter den Thoren des neuen Jetzt roth; aber beim Blick in den Zustand, der vorhanden war, der bleibend, der von ewiger Dauer werden konnte, da, da erblaßen und erbleichen sie. Der Zustand ist Tod – und der Tod macht blaß den, der ihn leidet und der ihn sieht. Der Sold, die Bezahlung, welche die Sünde gibt, ist Tod; der leibliche Tod, doch ist von dem hier nicht die Rede, sondern von dem geistlichen Tode, der eine Folge und Frucht eines fortgesetzten Sünden- und Schandenlebens ist. Da stirbt allmählich alle Regung des Gewißens, nicht bemerkt wird die unheimliche Stumpfheit und Starrheit des innern Todes, der abgelebten Oede, die keine Freude mehr hat und nur in immer neuer Vollbringung alter Greuel einen Schein von Leben sucht und findet. Das zeigt St. Paul den Römern als Frucht des Sündendienstes. Diese Königin bettet alle ihre Sclaven in den Tod; – das will sie; unempfängliche, abgestorbene Herzen will sie haben für alles Beßere, Edlere, Schöne; faulen sollen alle Seelen im Schlamm und Wust der Sünde.

 Dem gegenüber steht so licht und hehr, so glücklich und selig die Frucht des Dienstes der Gerechtigkeit. „Knechte geworden Gottes, habt ihr nun eure Frucht zur Heiligung, als Ende aber ewiges Leben.“ „Die Gabe Gottes, Seine Gnadengabe in Christo JEsu ist ewiges Leben.“ Sowie der fortgesetzte Dienst der Sünde Erstorbenheit und Tod ist, so ist die Frucht treuen Dienstes der Gerechtigkeit, wie schon oben gesagt, Heiligung, – und die Gnadengabe, welche Gott in Christo JEsu und um Seinetwillen denen gibt, die in Geduld und guten Werken nach Heiligung und Vollendung streben, ist ewiges Leben. Dem geistlichen Tode hier steht gegenüber Heiligung, gegenüber dem ewigen Tode, der auf den zeitlichen geistlichen Tod folgt, steht ewiges Leben. Eine Stufenleiter ist gezeigt; Dienst der Gerechtigkeit – Heiligung – ewiges Leben. Ein Baum steht vor uns, herrlich und schön; die Wurzel ist in den Todeswunden JEsu, der Stamm ist Dienst der Gerechtigkeit, und doppelte Früchte trägt er, wie er mit seinen Zweigen Himmel und Erde erfüllt: hier trägt er Heiligung, dort ewiges Leben. Was für ein Wachsen und Früchtetragen ist das, meine lieben Brüder! Dem Römer muß doch sein Jetzt lieb werden, wenn er in Zeit und Ewigkeit solche Früchte hoffen, sehen und an sich erleben darf?! Und ein Apostel, der solche Verheißung geben kann und darf, der muß doch angenehme Worte reden und hoffen können, daß sein durchaus wahres Gleichnis von Knechtschaft und Freiheit Ort und Aufnahme in den Herzen finde?

 Die Römer aber sind entschlafen und daheim. Ihrer viele genießen nun ewig die Gnadengabe Gottes, die ihren Lebensgang, ihren Dienst der Gerechtigkeit, ihre Heiligung krönt. Wir aber leben. Wir können beides – die Früchte der Sünde und der Gerechtigkeit noch haben und empfangen und es ist daher| an uns, nicht bloß diesen Ueberblick des Textinhaltes für die Römer gewonnen zu haben, sondern auf uns ernstlich anzuwenden, was der Text enthält. Leichtsinn fliehe von uns; Ohr und Herz kehre sich noch einmal zum Worte. Heilige Erwägung und des göttlichen Geistes großer Segen für dieselbe kehre ein!

 Bei uns sollte von einem Sonst und Jetzt gar keine Rede sein. Unser Sonst ist das Sonst des alten Adams, welcher in unserer frühen Jugend in der Taufe sein Urtheil empfangen hat. Jenseits unserer Taufe liegt alles, was St. Paulus als das Sonst der Römer bezeichnet. In der Taufgnade aufgewachsen, auferzogen in Zucht und Vermahnung zum HErrn sollten wir nur das neue Leben kennen, das Gottes Geist in den Herzen wirkt. Allein da hebt sich eben in der Brust so manches Hörers gewis ein Seufzer der Wehmuth, der Selbstanklage, der Reue. Wir sind getauft, aber so viele unter uns haben von einem Einfluß und einer Kraft der Taufe nichts in Erfahrung gebracht; so wenig haben sie davon gemerkt, daß sie glauben, einen gerechten Zweifel an der Wirksamkeit des göttlichen Sacramentes auf den Mangel ihrer Erfahrung gründen zu können. Eben so wenig, als von einer Kraft der Taufe, wißen die Meisten von einer Erziehung in Zucht und Vermahnung zum HErrn zu rühmen. Könnten sie das Letztere, so könnten sie auch das Erstere; wo Zucht und Vermahnung zum HErrn ist, ergießt sich die Kraft der heiligen Taufe reichlich. Dagegen aber steht es den meisten, die in einem christlichen Leben sich befinden, klar vor Augen, daß auch sie ein Sonst und Jetzt haben, welche beide in die bewußten Jahre ihres irdischen Lebens fallen. Sie giengen vormals die breite Straße der Abgefallenen, der Kinder dieser Welt, welche den Namen Christi mit vollem Unrecht führen. Ohne Gott, ohne Christus, ohne den Geist des Vaters und des Sohnes giengen sie dahin in Sünden und Lastern, wie sie Hunderte und Tausende vor und neben sich wandeln sahen. Erst als der gute Hirte nach Seinem Worte that: „Ihr habt mich nicht erwählet, Ich habe euch erwählet,“ als Seine mächtige, heilbringende Stimme erscholl, hielten sie inne und bekehrten sich von ihrer Eitelkeit und Bosheit zu dem lebendigen Gott. Sie wurden nicht zum zweiten Male neugeboren, denn die neue Geburt ist nur Eine und geschieht in der Taufe; aber sie wurden bekehrt, aufs neue bekehrt zum Hirten und Bischof der Seelen. Seitdem ist es anders mit ihnen im Allgemeinen. Der Sündendienst ist wenigstens insofern geschloßen, als man sich losgesagt hat von der Sclaverei der Sünde und seine Verpflichtung erkennt und anerkennt, daß man der Gerechtigkeit dienen müße.

 Daß es nun so ein Sonst und Jetzt bei den meisten der jetzt lebenden Christen gibt, ist gewis eine traurige Sache. Es sollte ja nicht sein. Seit wir getauft sind, sollte unser Leben in Einem Strom und zu Einer Strömung im Bette gehen, welches die Herrin uns anweist, die Gerechtigkeit heißt. Aber was hilft es, es ist so. Es ist für uns eine Ursache immerwährender, ja ewiger Buße, daß wir, wenn schon getauft und wiedergeboren, lebten wie Heiden und erst bekehrt werden mußten. Vielleicht hören dieser Predigt manche zu, die nicht bloß ein Mal wieder dahin fielen in Sünde und Sclaverei des Bösen. Vielleicht müßten manche mehrfachen Abfall beklagen und eine öfters wiederholte Bekehrung bekennen. Da sei dann Gott gelobt und Seine Treue, der auch diejenigen wieder aufnimmt, die, alttestamentlich zu reden, „mit vielen Buhlen gebuhlt“ haben, und der den so oft in Sünde dahinfallenden Israeliten doch immer sein sehnliches, schmerzliches „Kehre wieder, Israel, kehre wieder“ zuruft. Aber die Buße, die lebenslängliche, die ewige Buße, die Demuth hat dann einen mehrfachen Grund, deßen Säulen nicht wanken. Der Wankelmuth, die Hinfälligkeit, die sich so oft erwiesen, wird, je lichter und reiner unser Geist hier und dort wird, uns desto mehr niederbeugen und uns für alle Ewigkeit Stoff geben, den HErrn für den Weg des Lebens zu preisen, den Er allein aus Gnaden eröffnet hat und auf welchem Er uns allein durch Gnade hält und hindurchbringt zu Seiner Ruhe.

 Indes fürchte ich, daß uns nicht bloß die Rücksicht auf unser Sonst traurig macht, sondern auch die Hinsicht auf unser Jetzt. Es ist etwas Herrliches, wenn man zu einem Menschen sagen kann, wie St. Paul zu den Römern: „Nun aber seid ihr frei geworden vom Sclavendienste der Sünde und Gotte zu eigenen Knechten geworden; nun habt ihr eure Frucht zur Heiligung, am Ende aber ewiges Leben.“ Man sieht da, die Losreißung der Römer vom Sclavendienst der Sünde war voller Ernst; bei ihnen hieß es: „der Strick ist entzwei und wir sind frei“; entschiedenes,| darum kräftiges, heiteres, freudiges Leben war in ihnen. Wenn man es hingegen versucht, den Bekehrten unserer Tage diese apostolischen Worte zuzurufen, so werden sie dadurch nicht heiterer, nicht freudiger, nicht erquickter, es durchzuckt sie nicht, wie eine aufs Neue gefundene fröhliche Wahrheit, sondern man merkt es, sie werden geängstet, sie können sich die Worte nicht recht aneignen. Es ist schon wahr, es ist nicht mehr der alte Sclavendienst der Sünde vorhanden wie sonst, aber es ist eben doch kein rechter Abschluß, kein völliger und ganzer Bruch mit der Sünde, kein „Rein ab und Christo an“ vorhanden. Man dient der Gerechtigkeit mit bösem Gewißen, drum will es zu keiner Heiligung kommen, welche die Frucht des Dienstes der Gerechtigkeit sein soll, und das Ende, das ewige Leben, tritt so ferne. Es ist, wie wenn man noch immer am Scheidewege stände und sich mühte, den vollen, reinlichen Entschluß zu faßen, – wie wenn man sich noch immer unter den Thoren, welche das Gebiet der Sünde und Gerechtigkeit scheiden, auf dem Absatz herumdrehte und um sich selbst kreißend bald vor, bald rückwärts sähe, und schwindelnd, voll übelen Befindens, die Bilder des Sonst und Jetzt untereinander mengte.

 Ach wohl dem, bei welchem es anders steht, der wirklich gebrochen hat mit der Sünde und mit voller Entschiedenheit sich in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt hat. Das ist ein freudiges, muthiges Leben; da wohnt man ja, wie auf Bergen der Freiheit, wo immer frische Lüfte wehen und der Dampf und Dunst der niederen Thäler keine Gewalt ausübt. Aber was soll man denn anfangen, wenn es eben nicht so ist, wenn man merkt, daß man zur römischen Gemeinde der Lebenstage Pauli nicht gehört, sondern daß man ein recht armer, schwacher, schwebender Bekehrter des neunzehnten Jahrhunderts ist, dem bange Wehmuth und bittre Thränen kommen, wenn man von seinem Glücke redet, daß es doch nicht mehr ist, wie sonst? – Die Antwort auf diese Frage läßt sich doppelt geben, einmal für die seltenen Ausnahmschristen, die den Römern gleichen und die schwachen Leute Christi, wie sie jetzt sind, beurtheilen wollen oder sollen, dann aber für die letzteren selbst.

 Voran den ersteren zu dienen, müßen wir zur Geduld ermahnen. Der HErr erbarmt Sich der Schwächlinge. Wer einige Erfahrung hat, der weiß, wie wahr das ist. Wie geht der gute Hirte den unreinen, unentschiedenen Seelen nach! Wie unverkennbar ist es, daß er sie nicht schnell in die Verstockung hingibt, nicht schnell den Prozeß für und wider zu Ende bringt, sondern die Angst, die Sehnsucht, das Ringen solcher Seelen oft Jahrzehnte lang erhält, und wenn auch ihr Gericht nicht schnell hinausgeführt wird zum Siege, doch auch nicht zuläßt, daß es schnell ende zum vollen Rückfall und zur Sclaverei der Sünde. Es geht vielleicht der Weg der meisten langsam vorwärts, durch tiefen Koth zum frischen Waßer, durch viel anklebende Unreinigkeit zur Heiligung. Ihr Leben ist ein Dienst der Gerechtigkeit, ein helles Auge sieht auch einigen Fortschritt zur Heiligung, aber es ist eben ein schwerer Dienst und man erkennt mehr Last als Lust daran. Da muß man denn nicht schnell müde werden, nicht schnell die Hoffnung für solche Kämpfer wegwerfen, nicht schnell die Fürbitte unterlaßen, sondern ausharren, ob es auch lange währe und hart hergehe. Es ist oft in einem so schweren, mühseligen Kampf in Staub und Schmutz der Seele eine verborgene Herrlichkeit, die größer ist und Gott vor Seinen Engeln größere Ehre bringt, als manch schneller Entscheidungskampf fürs Gute. Mancher Mensch hat viel größere innere und äußere Hindernisse zu bekämpfen, so daß sein kleiner Fortschritt größer ist in Wahrheit, als der scheinbar größere des schnellen, viel weniger aufgehaltenen Kämpfers. Pelagius hat leichten, Augustinus schweren Kampf; aber weßen Sieg, weßen Vollendung ist größer? Wer hat von beiden die gewissere Frucht der Heiligung und des ewigen Lebens? – Drum sei langsam zum Reden, zur Ungeduld, zum Zorn, und lerne dich lieber selbst genauer kennen und beurtheilen, als daß du andere in ihrem thränenvollen Kampfe tadelst, richtest und verdammst.

 Die Antwort für die harten Kämpfer selbst könnte man, wenn sie getröstet werden sollen, ähnlich geben. Auch sie dürfen um alles nicht verzagen. Ob es auch hart hergehe, wirf nur die Waffen nicht weg. Ergib dich nur der Sünde nicht. Kannst du nicht siegreich leben oder sterben, so laß dich wenigstens immer auf deinem Posten finden und die Waffen in der Hand. Es geht oft lange schwer. Lust und Trägheit lasten oft lang; einmal wendet und endet sichs doch. Das Herz wird allmählich reiner, das| köstliche Ding, fest zu werden im Herzen, einen neuen gewissen Geist zu faßen, wird doch einmal gegeben. Es wird oft Licht am Abend und schön Wetter, ehe die Sonne untergeht. – Jedoch handelt sichs nicht bloß um den Trost der Müden, sondern auch um ihre Ermuthigung und Ermunterung zum guten Kampf. Da bleibts denn wahr, daß die armen Kämpfer auch ihr Theil gar oft versäumen. Der Mensch, welcher unter den Einflüßen der Taufe und des göttlichen Wortes steht, – und von der Art sind ja die, welche auch nur unter den Pforten des Sonst und Jetzt stehen, – hat einen neuen Willen und eine ihm beigelegte neue göttliche Kraft, die er erkennen, faßen und brauchen kann, oder auch nicht. Es gibt psychische Stimmungen, die alle Anwendung der göttlichen Gnadenkräfte aufhalten, so wie es auch eine Trägheit und Schwachheit der Seele gibt, die krankhaft, aber mächtig ist, unbenützt hinzuwerfen, was Gott darbeut. Da müßen denn müde Kämpfer auf ihre wahre Lage, auf ihren beßeren Willen und auf das Vorhandensein neuer, himmlischer Kräfte, auf das Hindernis der Traurigkeit und Trägheit aufmerksam gemacht werden durch sich selbst und andere. Die brüderliche Zusprache hat eine mächtige Kraft, die Bleigewichte von den Füßen zu nehmen und die Wolken zu vertreiben. Doch wirkt auch schon die Uebung der Seele, wenn sie sich ermuthigende Sprüche des göttlichen Wortes anzueignen sucht, mächtig auf das Herz und stärkt mit himmlischem Balsam die müden Seelenglieder. Kurz, wenn dirs bang wird um deinen Kampf, deinen Sieg, wenn dir’s mangelt an einem freudigen Jetzt; so suche die heiligen, verordneten Mittel der Gemeinschaft mit Gott und den Brüdern, erfahre die Kraft des Gebetes und des brüderlichen Zuspruches, – und es wird vorwärts, es wird beßer gehen und dein Herz fröhlicher werden. Dazu leben wir ja in der Kirche, daß wir einander ermahnen und dadurch helfen, und deshalb ist gerade die Gemeinschaft der Heiligen von Gott gestiftet und im Himmel und auf Erden so hochberühmt, weil sie das von Gott gewollte Mittel ist, die christliche Heerschaar im Kampfe des Lebens froh zu machen und zum Siege zu führen. Erfahre es und rühme es dann. Gott aber gebe dir selige Erfahrung! Amen.




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