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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

an uns, nicht bloß diesen Ueberblick des Textinhaltes für die Römer gewonnen zu haben, sondern auf uns ernstlich anzuwenden, was der Text enthält. Leichtsinn fliehe von uns; Ohr und Herz kehre sich noch einmal zum Worte. Heilige Erwägung und des göttlichen Geistes großer Segen für dieselbe kehre ein!

 Bei uns sollte von einem Sonst und Jetzt gar keine Rede sein. Unser Sonst ist das Sonst des alten Adams, welcher in unserer frühen Jugend in der Taufe sein Urtheil empfangen hat. Jenseits unserer Taufe liegt alles, was St. Paulus als das Sonst der Römer bezeichnet. In der Taufgnade aufgewachsen, auferzogen in Zucht und Vermahnung zum HErrn sollten wir nur das neue Leben kennen, das Gottes Geist in den Herzen wirkt. Allein da hebt sich eben in der Brust so manches Hörers gewis ein Seufzer der Wehmuth, der Selbstanklage, der Reue. Wir sind getauft, aber so viele unter uns haben von einem Einfluß und einer Kraft der Taufe nichts in Erfahrung gebracht; so wenig haben sie davon gemerkt, daß sie glauben, einen gerechten Zweifel an der Wirksamkeit des göttlichen Sacramentes auf den Mangel ihrer Erfahrung gründen zu können. Eben so wenig, als von einer Kraft der Taufe, wißen die Meisten von einer Erziehung in Zucht und Vermahnung zum HErrn zu rühmen. Könnten sie das Letztere, so könnten sie auch das Erstere; wo Zucht und Vermahnung zum HErrn ist, ergießt sich die Kraft der heiligen Taufe reichlich. Dagegen aber steht es den meisten, die in einem christlichen Leben sich befinden, klar vor Augen, daß auch sie ein Sonst und Jetzt haben, welche beide in die bewußten Jahre ihres irdischen Lebens fallen. Sie giengen vormals die breite Straße der Abgefallenen, der Kinder dieser Welt, welche den Namen Christi mit vollem Unrecht führen. Ohne Gott, ohne Christus, ohne den Geist des Vaters und des Sohnes giengen sie dahin in Sünden und Lastern, wie sie Hunderte und Tausende vor und neben sich wandeln sahen. Erst als der gute Hirte nach Seinem Worte that: „Ihr habt mich nicht erwählet, Ich habe euch erwählet,“ als Seine mächtige, heilbringende Stimme erscholl, hielten sie inne und bekehrten sich von ihrer Eitelkeit und Bosheit zu dem lebendigen Gott. Sie wurden nicht zum zweiten Male neugeboren, denn die neue Geburt ist nur Eine und geschieht in der Taufe; aber sie wurden bekehrt, aufs neue bekehrt zum Hirten und Bischof der Seelen. Seitdem ist es anders mit ihnen im Allgemeinen. Der Sündendienst ist wenigstens insofern geschloßen, als man sich losgesagt hat von der Sclaverei der Sünde und seine Verpflichtung erkennt und anerkennt, daß man der Gerechtigkeit dienen müße.

 Daß es nun so ein Sonst und Jetzt bei den meisten der jetzt lebenden Christen gibt, ist gewis eine traurige Sache. Es sollte ja nicht sein. Seit wir getauft sind, sollte unser Leben in Einem Strom und zu Einer Strömung im Bette gehen, welches die Herrin uns anweist, die Gerechtigkeit heißt. Aber was hilft es, es ist so. Es ist für uns eine Ursache immerwährender, ja ewiger Buße, daß wir, wenn schon getauft und wiedergeboren, lebten wie Heiden und erst bekehrt werden mußten. Vielleicht hören dieser Predigt manche zu, die nicht bloß ein Mal wieder dahin fielen in Sünde und Sclaverei des Bösen. Vielleicht müßten manche mehrfachen Abfall beklagen und eine öfters wiederholte Bekehrung bekennen. Da sei dann Gott gelobt und Seine Treue, der auch diejenigen wieder aufnimmt, die, alttestamentlich zu reden, „mit vielen Buhlen gebuhlt“ haben, und der den so oft in Sünde dahinfallenden Israeliten doch immer sein sehnliches, schmerzliches „Kehre wieder, Israel, kehre wieder“ zuruft. Aber die Buße, die lebenslängliche, die ewige Buße, die Demuth hat dann einen mehrfachen Grund, deßen Säulen nicht wanken. Der Wankelmuth, die Hinfälligkeit, die sich so oft erwiesen, wird, je lichter und reiner unser Geist hier und dort wird, uns desto mehr niederbeugen und uns für alle Ewigkeit Stoff geben, den HErrn für den Weg des Lebens zu preisen, den Er allein aus Gnaden eröffnet hat und auf welchem Er uns allein durch Gnade hält und hindurchbringt zu Seiner Ruhe.

 Indes fürchte ich, daß uns nicht bloß die Rücksicht auf unser Sonst traurig macht, sondern auch die Hinsicht auf unser Jetzt. Es ist etwas Herrliches, wenn man zu einem Menschen sagen kann, wie St. Paul zu den Römern: „Nun aber seid ihr frei geworden vom Sclavendienste der Sünde und Gotte zu eigenen Knechten geworden; nun habt ihr eure Frucht zur Heiligung, am Ende aber ewiges Leben.“ Man sieht da, die Losreißung der Römer vom Sclavendienst der Sünde war voller Ernst; bei ihnen hieß es: „der Strick ist entzwei und wir sind frei“; entschiedenes,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 049. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/425&oldid=- (Version vom 1.8.2018)