Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Judica
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Am Sonntage Judica.
- 11. Christus aber ist gekommen, daß er sei ein Hoherpriester der zukünftigen Güter, durch eine größere und vollkommnere Hütte, die nicht mit der Hand gemacht ist, das ist, die nicht also gebauet ist; 12. Auch nicht durch der Böcke oder Kälber Blut, sondern Er ist durch Sein eigenes Blut einmal in das Heilige eingegangen, und hat eine ewige Erlösung gefunden. 13. Denn, so der Ochsen und der Böcke Blut, und die Asche von der Kuh gesprenget, heiliget die Unreinen zu der leiblichen Reinigkeit; 14. Wie viel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst ohne allen Wandel durch den heiligen Geist Gotte geopfert hat, unser Gewißen reinigen von den todten Werken, zu dienen dem lebendigen Gott. 15. Und darum ist Er auch ein Mittler des neuen Testaments, auf daß durch den Tod, so geschehen ist zur Erlösung von den Uebertretungen, die unter dem ersten Testament waren, die, so berufen sind, das verheißene ewige Erbe empfahen.
DEr heutige Sonntag trägt vorzugsweise den Namen „Passionssonntag“, nicht bloß wegen der großen Nähe an der Osterwoche, sondern wohl auch deshalb, weil nun allmählich das Gedächtnis der Leiden Christi so sehr die Geister beherrscht, daß es auch am Sonntag die Seele nicht verläßt, und daß selbst die Wahl der Sonntagstexte von dem Andenken an JEsu Leiden regiert wird. Das heutige Evangelium, aus Joh. 8, 46–49 genommen, handelt von der unsträflichen und untadelichen Würde des Verhaltens JEsu. Majestätisch steht Er, das reinste Bewußtsein und eine himmlische Zuversicht regiert Ihn; aber Er steht mitten unter Seinen Feinden, Sein Wort säht nicht, Seine strahlende Unschuld weckt nur mörderischen Haß, und der Haß ist so groß, daß die Juden Steine ergreifen, um sie gegen Ihn zu werfen. Doch war Seine Stunde noch nicht gekommen, und Er war nicht für die Steinigung, sondern für’s Kreuz bestimmt; darum verbarg Er sich vor ihnen und strich mitten durch sie hin. Hier sehen wir also den HErrn nicht bloß in der Leidensnähe, sondern in schweren Leiden Seines Lebens mitten inne, die Ihm weißagen können, was endlich kommen wird. So wie nun das Evangelium ganz vom Gedanken| an die Leiden JEsu trieft, so führt uns auch der epistolische Text tief hinein in Betrachtungen, welche allein in dem Tode JEsu gründen. Da sehen wir unsern HErrn nicht bloß als den Unschuldigen und Reinen, wie im Evangelium, nicht bloß in majestätischer Ruhe durch den Haß Seiner Feinde hingehen; sondern da sehen wir Ihn angethan mit der hohenpriesterlichen Würde, und es erzählen uns die beiden ersten Verse des Textes Seinen Eingang in die vollkommene Hütte, Er wird uns dargestellt, wie Er eingeht mit Seinem eigenen Blute. Da haben wir ja, meine lieben Brüder, nicht bloß die volle Erinnerung an Blut, Leiden und Tod Christi, sondern zu gleicher Zeit die Darlegung ihrer großen Wirksamkeit bei Gott, die Erzählung, wie sie geltend gemacht werden im Himmel. In den zwei folgenden Versen des Textes schließt sich die Darlegung der seligen Folgen aller Leiden Christi auf Erden an. Und wie das Blut im ersten Theile des Textes im Himmel eine ewige Erlösung wirkt, so wird uns nun gezeigt, welch’ einen Frieden und große Freiheit dasselbe wunderbare Mittel auf Erden in den Herzen und Gewißen der Gläubigen hervorbringt. Endlich verkündigt uns der letzte Vers nicht bloß, was das Blut des HErrn im Himmel wirkt, sondern wie die Gläubigen durch Kraft des Blutes selbst in den Himmel gehen und das verheißene Erbe erlangen. Da werden uns also die herrlichen Folgen und Wirkungen der Passion gezeigt, auf daß wir desto würdiger werden, die Passion betrachtend selbst zu durchleben. Es wird uns das Auge geöffnet und dazu das Herz; und so gehen wir, angeregt zu desto größerer und tieferer Feier der heiligen Leiden JEsu, dem nahenden ernsten Schluße der Passionszeit entgegen.
Es ist euch, meine lieben Brüder, eine bekannte Sache, daß der wunderschöne Brief an die Ebräer nichts anders ist, als ein ernstes Warnungsschreiben an Judenchristen, die in der Gefahr standen, vom Christentum wieder umzukehren zum Judentum und den einigen Erlöser ihrer Seele auf’s neue zu kreuzigen. Ihnen in der furchtbaren Versuchung zu dienen, schrieb der vom heiligen Geiste angeregte und regierte Verfaßer, Paulus oder wer es sonst gewesen sein mag, den köstlichen Brief, in welchem das alttestamentliche Wesen mit dem neutestamentlichen und die hervorragendsten Persönlichkeiten des alten Bundes mit dem HErrn Christo in einer solchen Weise verglichen werden, daß man meinen sollte, auch blinde Augen hätten den himmlischen Glanz JEsu Christi und Seines Reiches erkennen, auch sehr angefochtene Herzen aus aller Versuchung gerückt werden müßen. Insonderheit wird auch der alttestamentliche Hohepriester mit der neutestamentlichen Würde JEsu Christi, unsres Hohenpriesters, verglichen, und unser heutiger Text enthält aus dieser Vergleichung ein wunderschönes Stück voll Licht und Lehre über die Wirkung der hohenpriesterlichen Geschäfte JEsu Christi im Himmel und auf Erden. Wie bereits bemerkt wurde, bilden die zwei ersten Verse des Textes einen zusammengehörigen Theil desselben, den laßt uns nun mit Aufmerksamkeit betrachten.
„Christus ist kommen, sagt der heilige Schriftsteller, daß Er sei ein Hohenpriester der zukünftigen Güter.“ Christus ist hier nicht bloß mit dem Hohenpriester des Alten Testamentes verglichen, sondern Er ist geradezu ein Hohenpriester genannt. Die Rede ist nicht ein Gleichnis, sondern viel eher könnte man sagen, der alttestamentliche Hohepriester sei ein Gleichnis und Abbild JEsu Christi gewesen. Christus ist der wahre Hohepriester und heißt in unserm Texte ein Hoherpriester der zukünftigen Güter. Das kann nichts anders heißen als: Er ist ein Hohepriester, der uns die zukünftigen Güter, die Güter der zukünftigen Welt verschafft. Der alttestamentliche Hohepriester war rein eine Vorbedeutung Christi und schattete die zukünftigen Güter ab, ohne daß er es vermochte, sie durch seinen Dienst zu geben; in Christo aber besitzen wir Alles, und Seiner heiligen und mächtigen Wirkung verdanken wir es, daß wir, obwohl noch hier in der Zeit wandelnd, bereits einen ewigen Besitz haben und genießen. Da wird uns also in den ersten Worten des Textes die Frucht der Arbeit JEsu Christi bereits im Allgemeinen vor die Augen gemalt. – Der Hohepriester aber muß ein Heiligtum haben, in welchem er Priesteramts pflegt und den Segen der zukünftigen Güter den Seinen verschaffen kann. Die Schrift bezeugt es ja ausdrücklich, daß die Hütte des Alten Testamentes, so wie der Tempel, der hernach an ihre Stelle trat, nicht Urbilder, sondern Vorbilder einer himmlischen Hütte und eines ewigen Tempels gewesen sind, so daß wir uns also den ewigen Hohenpriester| Christus in ein ewiges Heiligtum denken müßen. Zwar wißen wir ja wohl, daß es auch unter den Christen gar viele gibt, die es wie eine Art von Beschränktheit und Aberglauben ansehen, es „fleischlich und irdisch gesinnt“ nennen, wenn man in allem Ernste von einer Hütte und einem Tempel der Ewigkeit redet, die es auch durchaus verwerfen, wenn man Stellen des neuen Testamentes, die davon reden, anders als geistlich, wenn man sie wörtlich nimmt, wie sie stehen. Allein wenn doch die irdischen Dinge nur Vorbilder der ewigen sind, und uns der HErr in jener Welt von ihnen die wesenhaften und unvergänglichen Urbilder zeigen will, wenn Er uns von den ewigen Dingen erzählt in Ausdrücken und Worten, die gar keine geistliche Deutung zulaßen, entweder gerade das meinen, was sie sagen, oder überhaupt nichts Klares und Deutliches offenbaren; wie soll man sich da gegen die Worte wehren, die geschrieben sind? So sagt unser Text: „Christus sei ein Hohepriester der zukünftigen Güter durch eine größere und vollkommnere Hütte, die nicht mit der Hand gemacht ist, das ist, die nicht also gebauet ist.“ Diese Worte sagen gewis, daß die ewige Hütte, der ewige Tempel vollkommner, nicht von Händen gemacht und nicht gebaut ist, wie der Bau des Alten Testamentes, nicht von Holz und Steinen; aber von einer ewigen Hütte reden sie doch. Ist sie vollkommener als die Hütte, die beim Sinai gemacht ist, so wird sie doch durch die Vollkommenheit nicht etwas anderes, sie hört nicht auf, eine Hütte zu sein, und sei sie auch immerhin nicht desselben Baues, wie die Hütte Aarons und Mosis, übertrifft sie diesen Bau, wie überhaupt die Ewigkeit die Zeit, und der Himmel die Erde übertrifft, so ist damit doch nicht gesagt, daß alle Aehnlichkeit zwischen beiden aufgehoben sein soll, daß das Vorbild dem Urbild nicht gleich sei, daß in jener Welt etwa bloß Ideen und Gedanken herrschen, wie allenfalls in dieser die Bilder und Vorbilder. Im Gegentheil, es wird durch den Ausdruck und die Worte, die gebraucht sind, die Seele belehrt, daß es in der Ewigkeit einen Ort, und im Himmel einen durch Gottes eigene Meisterhand auferbauten Tempel gebe, der an Wesenheit alle hiesigen Vorbilder übertrifft. Das, meine lieben Brüder, ist innerhalb der Kirche Gegenstand verschiedener Richtungen geworden. Während die einen in der Ewigkeit keinerlei Art von Leiblichkeit haben wollen, finden es die andern als überaus schön und herrlich, ja geradezu für das Herrlichste, was uns über die Ewigkeit offenbart wird, daß es dort eine Leiblichkeit gibt, – und während die erste Richtung der Leiblichkeit und Form gar keinen Werth beilegen will, behaupten die andern, daß die Apostel ihre Worte nicht anders könnten gemeint als gesagt haben, und daß daher die größten Lehrer, die es jemals außer Christo unter der Sonne gab, geirrt haben müßten, wenn es in der Ewigkeit keine Leiblichkeit gäbe. Es mag ein jeder Christ sich auf eine oder die andere Seite entscheiden, wie er es für das Gerathenste hält, immerhin aber wird es denen, die ihre geistlichen Deutungen, Auffaßungen und Ansichten in jede Bibelstelle hineinzutragen sich erkühnen, schwer werden, mit den einfachen und realen Worten der Apostel fertig zu werden. –Bei dem bisher Gesagten haben wir noch nicht Gelegenheit gefunden, den Zusammenhang der Worte: „das Blut JEsu Christi wird unser Gewißen reinigen von den todten Werken, zu dienen dem lebendigen Gotte,“ etwas stärker zu betonen. Die todten Werke sind doch jedenfalls keine andern, als die von uns im Zustande des geistlichen Todes vollbrachten Werke. Todte Werke sind diejenigen, die keine Zeichen vorhandenen göttlichen Lebens sind, keinen Samen des ewigen Lebens in sich tragen. Von diesen Werken des Unglaubens und der nächtlichen Finsternis, die auf dem Gewißen wie Grabsteine lasten, sollen wir befreit werden und dagegen Lust und Freude bekommen, unser ganzes Leben zu einem Gottesdienste werden zu laßen. Das Blut, das uns reinigt, stärkt uns auch auf eine unbegreifliche Weise und nährt unser inneres Leben, so daß wir dann Muth und Kraft gewinnen, dem Gott auf Erden zu dienen, Deßen ewiger Hoherpriester uns mit den Geschäften seines Hohenpriestertums im Himmel dient. So geht dann durch die Kraft des Blutes JEsu mit der Entsündigung die Heiligung Hand in Hand, und es muß uns dadurch die Wirkung des Blutes Christi auf Erden nur desto größer und mächtiger erscheinen. Verleihe nur der barmherzige HErr, daß diese Macht und Größe nicht bloß von unserm Verstande aufgefaßt, sondern auch von uns innerlichst erfahren werde, da ja allerdings das Wißen nicht hilft, sondern allein die Aufnahme und Anwendung deßen, was wir lernen, in unser Gemüth und Leben.
Den HErrn in Seinem ewigen Hohenpriestertum im Himmel hat uns unser Text gezeigt; ebenso sahen wir in den zwei zuletzt betrachteten Versen die Wirkung des Hohenpriestertums Christi auf Erden in den Herzen Seiner Heiligen. Da nun aber die Menschen nicht erlöst sind, um immerzu im dornenreichen Leben dieser Welt zu wandeln, im Gegentheil der Ort, wohin JEsus Christus vorangegangen, auch der Ort der Versammlung für Seine Gläubigen ist; so muß uns auch das Herz ruhig gemacht werden in Anbetracht der Heimkunft zu Ihm, welche ohne Zweifel selbst wieder eine Wirkung des hohenpriesterlichen Amtes JEsu ist. Diese Beruhigung empfangen wir aber im letzten Verse unsers Textes. Da heißt es: „Darum ist Er auch ein Mittler des Neuen Testamentes, auf daß durch den Tod, so geschehen ist zur Erlösung von den Uebertretungen, die unter dem ersten Testamente waren, die so berufen sind, das verheißene ewige Erbe empfahen.“ Also geschehen ist der Erlösungstod, gefunden eine ewige Erlösung, gesühnt sind die Uebertretungen, die unter dem Alten Testamente geschahen, gelungen ist die Mittler- und Hohenpriesterschaft und des HErrn Werk ist hinaufgegangen zum Siege. Nun gehen die Boten aus mit den heiligen Gnadenmitteln und tragen so Juden wie Heiden, die Kraft des Blutes JEsu, die göttliche Entsündigung und Beruhigung ihrer Seelen an. Damit wird zugleich alle Welt berufen zum ewigen Erbe, und die Berufenen sollen das ewige Leben empfangen. Was das ewige Leben sei, ist allerdings bis jetzt noch nicht erschienen; aber den weiten und hohen Namen können wir uns mit allen den Einzelheiten ausfüllen, welche die heilige Schrift von dem ewigen Glücke der Seligen so reichlich enthält. Es ist ja nicht wahr, was manche behaupten, daß die Schrift nur kärglich über das ewige Leben rede, und man könnte einer solchen Behauptung gegenüber ebenso wohl die andere setzen, daß über keinen andern Gegenstand so viel geredet und offenbart ist, als gerade über das ewige Leben. Es ist aber auch gar nicht nöthig, den Ausdruck „das verheißene, ewige Erbe“ ins Einzelne zu deuten. Diese Worte reden selber, wenn auch ganz allgemein, dennoch so klar, daß wir an ihnen, wie an dem Scheine einer lichten Wolke den Pforten der Ewigkeit entgegen gehen können. Ein Erbe, ein ewiges Erbe ist uns durch die Kraft der Versöhnung unsers Erlösers zugewendet, so viel hören wir, und das ist an und für sich selbst schon mehr, als| wir zu wißen brauchen, um Ruhe zu haben, weil sich damit ewiges Leben, ewige Seligkeit und ewige Verheißung ausspricht. – Dies ewige Erbe sollen aber die Berufenen empfangen. Es versteht sich dabei von selbst, daß das verheißene, ewige Erbe nicht jedem zu Theil wird, der mit dem äußeren Ohre die Berufung hört. Es gibt eben zweierlei Berufene, solche, die dem Rufe folgen, und solche, die ihm widerstreben. Die ersteren sind es, von denen hier die Rede ist. Dem Berufe folgen, was soll das heißen? Kann man dem Berufe zum ewigen Erbe folgen, ohne daß man die Welt verläßt und ihre Gesinnung, von der man weggerufen wird, und darf man die Welt verlaßen, ohne in die streitende Kirche einzugehen und in die Gemeinschaft ihrer Gnadenmittel zu treten? Das verheißene, ewige Erbe ist allerdings das Gegentheil der Welt und Weltfreude; diese ist der Ausgangspunkt, jenes ist der Eingangsort. Wer aber von dem einen ausgehen und zu dem andern eingehen soll, der muß auch den Weg nicht scheuen, der zwischen beiden mitten inne liegt; wer zu einem Ziele berufen ist, ist damit auch zu dem Wege berufen und zu den Mitteln, welche zum Wege fördern. Nun ist der Weg zu dem verheißenen, ewigen Erbe nichts anderes, als die streitende Kirche, die Mittel aber sind Wort und Sakrament, durch welche uns die Kraft des Blutes JEsu und das Blut selbst mitgetheilt wird. So ist es also offenbar, daß die berufenen Erben der ewigen Verheißung sich mit der sichtbaren, streitenden Kirche verbinden, ihre Sakramente genießen, bei ihr und ihren Segnungen aushalten, hoffen und glauben müßen, daß ihnen auf diesem Wege das Ziel und Kleinod nicht entgehen werde. Das aber war gerade die Sache der ebräischen Christen nicht; nicht wollten sie bei der Kirche aushalten, deren Gestalt ihnen zu ärmlich und gering erschien, deren Wachstum sich größtentheils unter denjenigen Schichten der Gesellschaft erzeigte, die von keiner hervorragenden Bedeutung waren. Da glänzte der Tempel auf Moria mit seinem goldenen Dach, seinen Opfern und Gottesdiensten, seinen Hohenpriestern und Priestern viel augenfälliger, und schien einen viel angenehmeren und herrlicheren Weg zu dem verheißenen ewigen Erbe zu eröffnen. Aber diese verkehrte, bloß menschliche Anschauung, da man gering achtet, was groß ist vor Gott, und hangen bleibt an dem, was Gott verlaßen will, hindert und hält auf, so daß man nicht erreichen kann, was man erreichen soll, und den Weg verfehlt, der zu der ewigen Heimat fördert. Dort sieht man die Majestät des Mittlers und Hohenpriesters des Neuen Testamentes, dort hört man Sein redendes Blut, dort ist der Gottesdienst und die Herrlichkeit, von welcher auch der Tempel Salomonis in seiner schönsten Glorie nur ein mattes Bild ist, dort belohnt sich die Treue, mit welcher man ausgehalten hat, und das ist eben die Meinung St. Pauli, daß man Treue halten und den von Gott verordneten Weg des Heiles nicht verlaßen solle, sondern ausharren, bis uns die ewige Herrlichkeit erscheint.Ihr erinnert euch, meine lieben Brüder, daß schon am Schluße der vorigen Predigt eine gleichartige für den heutigen Sonntag angekündigt wurde. Vielleicht wird der euch nunmehr vorgelegte Inhalt der heutigen Epistel nicht auf den ersten Blick als sehr gleichartig erscheinen. Indes ein wenig Besinnen und Nachdenken wird euch doch dazu verhelfen, den Zusammenhang zu sehen. Von der Rechtfertigung haben wir vor acht Tagen gesprochen, heute aber von dem Hohenpriestertum Christi im Himmel, von der Wirkung desselben in den Herzen und Gewißen der noch lebenden Gläubigen und von seiner Macht und Kraft denselben bei ihrem Abschied zu dem ewigen Erbe des Himmels zu verhelfen. Ist’s denn nun schwer, die Rechtfertigung und das Hohenpriestertum Christi in eine Verbindung zu setzen?
Wenn wir unsern ewigen Hohenpriester, Mittler und Fürsprecher nicht hätten und Sein redendes Blut, woher sollte uns alsdann die Rechtfertigung kommen? Wird auch der ewige Vater irgend einen armen Sünder frei sprechen von Schuld und Strafe, wenn nicht Einer vorhanden ist, der in Kraft stellvertretender Leiden auf Schonung und Freispruch des Sünders anträgt? Die Rechtfertigung ist geradezu eine Frucht des Hohenpriestertums JEsu. Sie kommt auch in unserm Texte vor, wenn auch nicht unter dem Ausdruck „rechtfertigen“, so doch unter einem verwandten. Heißt es doch im zweiten Theile unseres Textes, daß uns das Blut JEsu Christi reinigen könne von den todten Werken. In diesem „reinigen“ liegt doch jedenfalls die Vergebung mit eingeschloßen. Die Vergebung aber ist ein so großer Theil der Rechtfertigung| selbst, daß diese ohne jene gar nicht bestehen, ja daß das Wort „Vergebung“ oft geradezu das Wort „Rechtfertigung“ vertreten kann. Ist es doch jedermann kund, daß in dem kleinen Katechismus Luthers, der sogenannten Laienbibel, das Wort „rechtfertigen“ auch nicht ein einziges Mal vorkommt, daß also der größte Meister in Behandlung der Lehre von der Rechtfertigung seit der Apostel Zeiten der ersten Forderung, die er selbst an alle christlichen Schriftsteller machte, nemlich von der Rechtfertigung zu reden, entweder selbst nicht genügt hat, oder nur dadurch, daß er von der Vergebung handelte. Rechtfertigen, das Gewißen reinigen, die Sünde vergeben, das geht alles zusammen, und nicht bloß das, sondern auch die Uebung des Hohenpriestertums JEsu und die Rechtfertigung; ist jene die Quelle, so ist diese das Waßer. Daher wird man wohl auch sagen können, daß die beiden Predigten von heute und vor acht Tagen, wie die beiden Texte in einem engen innern Verbande stehen, und überdies daß der heutige Text noch mehr als der vorige passionsmäßig ist, weil er von dem Hohenpriester des Neuen Testamentes, von deßen Blut und seiner Wirkung redet. – –Vom Blute JEsu redet er. Meine Brüder, das Blut JEsu Christi des Sohnes Gottes, das uns von Sünden reinigt, ist eine große Sache. Und sehr reizt es zum Nachdenken, daß wir im Haushalt des Alten und des Neuen Testamentes dies Blut so vielfach vorbedeutet und in Wirksamkeit finden. „Ohne Blutvergießen keine Vergebung“, sagt eine Schriftstelle: welch’ eine Bedeutung und Wichtigkeit des Blutes! Soll ich mich darauf einlaßen, es zu erklären, warum dem Blute so eine große Wichtigkeit zugeschrieben wird? Soll ich Meinungen und Ansichten Andrer vortragen, soll ich am Ende mehr sagen, als ich weiß? Daß das Blut, das Blut JEsu Christi, der Welt Reinigung und der Kirche Nahrung ist, lese ich im Buch der Bücher, ohne daß mir eine Erklärung nahe gelegt wird. Alles, was man sagen kann, stellt nicht völlig zufrieden. Es wird wohl am Ende alles tiefer liegen, als man sehen und sagen kann, und wir werden uns der völligen Lösung wegen bis in ein anderes Leben gedulden müßen. Einstweilen aber laßt uns das Blut JEsu Christi, je Größeres ihm zugeschrieben wird, desto mehr schätzen, und wer von uns etwa heute beim Sakramente aus den „blutgefüllten Schalen“ trinkt, der trinke in Verwunderung, aber in gläubiger Verwunderung, und freue sich, daß er bei diesem Mahle in alle Erfahrung unsers heutigen Textes eintreten kann. Amen.
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