Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
|
selbst, daß diese ohne jene gar nicht bestehen, ja daß das Wort „Vergebung“ oft geradezu das Wort „Rechtfertigung“ vertreten kann. Ist es doch jedermann kund, daß in dem kleinen Katechismus Luthers, der sogenannten Laienbibel, das Wort „rechtfertigen“ auch nicht ein einziges Mal vorkommt, daß also der größte Meister in Behandlung der Lehre von der Rechtfertigung seit der Apostel Zeiten der ersten Forderung, die er selbst an alle christlichen Schriftsteller machte, nemlich von der Rechtfertigung zu reden, entweder selbst nicht genügt hat, oder nur dadurch, daß er von der Vergebung handelte. Rechtfertigen, das Gewißen reinigen, die Sünde vergeben, das geht alles zusammen, und nicht bloß das, sondern auch die Uebung des Hohenpriestertums JEsu und die Rechtfertigung; ist jene die Quelle, so ist diese das Waßer. Daher wird man wohl auch sagen können, daß die beiden Predigten von heute und vor acht Tagen, wie die beiden Texte in einem engen innern Verbande stehen, und überdies daß der heutige Text noch mehr als der vorige passionsmäßig ist, weil er von dem Hohenpriester des Neuen Testamentes, von deßen Blut und seiner Wirkung redet. – –
Vom Blute JEsu redet er. Meine Brüder, das Blut JEsu Christi des Sohnes Gottes, das uns von Sünden reinigt, ist eine große Sache. Und sehr reizt es zum Nachdenken, daß wir im Haushalt des Alten und des Neuen Testamentes dies Blut so vielfach vorbedeutet und in Wirksamkeit finden. „Ohne Blutvergießen keine Vergebung“, sagt eine Schriftstelle: welch’ eine Bedeutung und Wichtigkeit des Blutes! Soll ich mich darauf einlaßen, es zu erklären, warum dem Blute so eine große Wichtigkeit zugeschrieben wird? Soll ich Meinungen und Ansichten Andrer vortragen, soll ich am Ende mehr sagen, als ich weiß? Daß das Blut, das Blut JEsu Christi, der Welt Reinigung und der Kirche Nahrung ist, lese ich im Buch der Bücher, ohne daß mir eine Erklärung nahe gelegt wird. Alles, was man sagen kann, stellt nicht völlig zufrieden. Es wird wohl am Ende alles tiefer liegen, als man sehen und sagen kann, und wir werden uns der völligen Lösung wegen bis in ein anderes Leben gedulden müßen. Einstweilen aber laßt uns das Blut JEsu Christi, je Größeres ihm zugeschrieben wird, desto mehr schätzen, und wer von uns etwa heute beim Sakramente aus den „blutgefüllten Schalen“ trinkt, der trinke in Verwunderung, aber in gläubiger Verwunderung, und freue sich, daß er bei diesem Mahle in alle Erfahrung unsers heutigen Textes eintreten kann. Amen.
Am Palmensonntage.
- 5. Ein jeglicher sei gesinnet, wie JEsus Christus auch war, 6. Welcher, ob Er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt Er es nicht für einen Raub, Gott gleich sein; 7. Sondern äußerte sich selbst, und nahm Knechts-Gestalt an, und ward gleich wie ein anderer Mensch, und an Geberden als ein Mensch erfunden. 8. Er erniedrigte sich selbst, und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. 9. Darum hat Ihn auch Gott erhöhet, und hat Ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist: 10. Daß in dem Namen JEsu sich beugen sollen alle derer Kniee, die im Himmel und auf Erden, und unter der Erde sind; 11. Und alle Zungen bekennen sollen, daß JEsus Christus der HErr sei zur Ehre Gottes des Vaters.
HEute, meine lieben Brüder, acht Tage vor Ostern, sechs vor dem großen Freitag, reitet der HErr, wie das Evangelium erzählt, von dem Oelberg abwärts, ins Thal Kidron, und jenseits des Thales
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/221&oldid=- (Version vom 1.8.2018)