Eine merkwürdige Thierfreundschaft

Textdaten
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Autor: Heinrich Leutemann
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Titel: Eine merkwürdige Thierfreundschaft
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 283–284, 289
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine merkwürdige Thierfreundschaft: Luchs und Kaninchen im Zoologischen Garten zu Berlin.
Nach der Natur gezeichnet von Heinrich Leutermann.

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Eine merkwürdige Thierfreundschaft.

Mit Abbildung S. 289.

Als ich im Spätsommer des vorigen Jahres nach Berlin gekommen war und mit dem eben angestellten, voll jugendlicher Begeisterung sein Amt verwaltenden Direktor Heck den dortigen Zoologischen Garten durchwandelte, kamen wir auch in eines der noch von dem hochverdienten Reorganisator des Gartens, Dr. Bodinus, angelegten Vogelhäuser. „Hier ist auch ein junger Luchs mit einem Kaninchen zusammen,“ wurde mir gesagt, und man führte mich dabei nach einer Ecke des Inneren, die für mein Sehvermögen allerdings schon etwas zu düster war. Aber richtig, in einem durch ein Drahtgitter zu einem Käfig umgeschaffenen Raume knabberte ein weißes Kaninchen an einem Kohlrest und im Hintergrunde lag zusammengeschmiegt ein haariges Etwas, welches, wie mir versichert wurde, der Luchs war. Ich kann nicht sagen, daß mich der Anblick sehr ergriffen oder begeistert hätte, denn wenn man im Laufe eines halben Jahrhunderts schon mehreres auf dem Gebiete des Thierlebens, auch des Zusammenlebens verschiedener Thiere, gesehen hat, so rührt einen das bloß ruhige Vertragen zweier Thiere selbst von entgegengesetzter Art nicht mehr bis ins Innerste auf; kurz, was ich da zuerst sah, war ein mäßiger Genuß, und ich erinnere mich nicht, daß ich mich damals gedrungen gefühlt hätte, meinen Besuch bei den beiden zu wiederholen.

Glücklicherweise bekam ich aber einige Monate später eine „geschäftliche“ Veranlassung, nochmals nach Berlin zu kommen, und da hatte denn die Sache allerdings ein ganz anderes Ansehen bekommen. Luchs und Kaninchen lebten noch zusammen, waren aber umquartiert worden nach einem Außenkäfig, welcher einen besonderen Anbau am Vogelhaus bildete. Hier war es auch hell genug, denn von drei Seiten war der Platz dem Licht zugänglich, der Boden war sandgefüllt, also dem Kaninchen willkommen, ein paar von den Zeiten der früheren Bewohner des Käfigs, der Orang-Utans, her noch stehende Kletterbäume mußten dem Luchs ganz passend sein, und ein höhlenartiger schöner Schlafraum fehlte auch nicht. Was war das für ein ganz anderes Leben!

Der Luchs, obgleich bei weitem noch kein Jahr alt und also keineswegs ganz erwachsen, war bereits ein prächtiges Thier geworden und zeigte eine Wohlgelauntheit, einen Humor, eine Spiellust, wie man sie dem Thier bei dieser Größe eigentlich nicht mehr zutrauen konnte. Und nun sah ich auch erst, daß die Thiere sich nicht bloß vertrugen, sondern daß in der That im vollen Sinne des Wortes eine eigentliche Freundschaft zwischen ihnen bestand, wohl werth, auch einem größeren Kreise geschildert zu werden.

Gerade als ich damals zum ersten Male an diesen neuen Aufenthaltsort der Thiere herantrat, gab der Luchs gleichsam aus dem Stegreif eine Art Vorstellung. Wie dies meistentheils die Beschäftigung des Kaninchens war, knabberte es eben an einem Kohlblatt, und vor ihm lag auf dem Rücken lang ausgestreckt, die Beine nach oben, der Luchs, mit seinen Vorderpfoten nach dem Kaninchen haschend, offenbar um es auch zum Spielen zu veranlassen. Bei seiner mangelnden naturgeschichtlichen Kenntniß wußte er natürlich nicht, daß das Kaninchen längst erwachsen, vielleicht bereits ein paar Jahre alt und jedenfalls über die Periode jugendlicher Laune und Spiellust hinaus war. Blieben also seine Hoffnungen unerfüllt, hielt ihn dies gleichwohl nicht ab, seine Aufforderung zum Spiel immer von neuem zu wiederholen, wobei er oft die verzwicktesten Stellungen annahm, die seine Gelenkigkeit im vollsten Grade zeigten. Erst als das Kaninchen seinen Platz verlassen, gab auch der Luchs sein Bemühen auf. „Gut“, mochte er denken oder es unbewußt empfinden, „wenn du nicht mitspielen willst, so spielen wir eben ein Spiel, wo das nicht nöthig ist, spielen wir ‚Mordens‘!“ Gedacht, gethan! Schon ist er auf den wagrechten Ast des Kletterbaumes gesprungen, hat sich niedergeduckt und folgt zuerst mit leuchtenden Augen den Bewegungen der Freundin auf dem sandigen Boden. Da – wie der Blitz – ein einziger Sprung, und das pinselohrige, hochbeinige Raubthier hat den armen langohrigen Nager mit Maul und Pfoten gepackt, so daß der Beschauer nicht anders denken kann als: das ist des Kaninchens Ende. Aber nein, er „spielt“ eben nur „Mordens“, nur Maul und Pfoten, nicht aber Krallen und Zähne haben die Freundin gefaßt, und wenn dieselbe nun auch einigemal geschüttelt wird und selbst wohl auch keineswegs sehr begeistert für dieses Spiel sein mag, geschadet hat’s ihr nicht; denn als der Luchs sie zuletzt losläßt, da ist sie munter wie zuvor und bringt höchstens ihre Festtoilette durch Putzen wieder in Ordnung. Und der Luchs? Nun, der weiß, wenn dieses Spiel zu Ende, in der Zeit des Munterseins immer etwas zu thun. So z. B. macht er, während man eben noch dem sich putzenden Kaninchen zusieht, plötzlich einen [284] ganz grotesken Sprung fast senkrecht in die Höhe, mit der einen Vorderpfote dabei weit ausgreifend, und zuletzt entdecke ich nach wiederholten solchen Sprüngen auch die Ursache; es ist ein Sperling, der quer durch den Käfig geflogen ist und nach dem der Luchs seine gewaltigen Sätze gemacht hat. Sperlinge sieht man in den Thierhäusern der Zoologischen Gärten häufig; so glaubte ich auch zuerst, derselbe habe sich hierher verflogen oder einquartiert, war aber damit im Irrthum, denn der Sperling war, wie ich auf Befragen erfuhr, von dem Thierwärter Meusel, dessen Pflege diese Thiergruppe untergeben ist, absichtlich mit hinzugesellt worden, um dem Luchs mehr Veranlassung zur Bewegung zu geben. Allerdings schrieb mir später der Direktor Heck auf meine Frage nach dem Befinden der Gruppe: „Die Personalien des Sperlings wechseln öfters“, denn bei aller Sperlingsschlauheit geschieht es doch manchmal, daß der Luchs den Vogel erfaßt, und dann ist es allerdings zu Ende mit ihm. Aber im Gegensatz zu den Tausenden seiner Brüder, die unerwähnt und in schnöder Unnützlichkeit ihr Schmarotzerleben führen, ist solches Sperlingsschicksal sicher als ein bedeutend höherstehendes zu preisen, denn auch ein Sperling kann für eine gute Sache leben und sterben, wenn er muß.

Manchmal macht. der Luchs geradezu.den Eindruck eines absichtlichen Komikers. So z. B. konnte ich mich erst des Staunens und nachher des lauten Lachens nicht enthalten, als ich dazukam, wie eben das Kaninchen seinen alltäglichen Kohlkopf bekam und nun der Luchs, sich dicht neben die schmausende Freundin kauernd, auch an dem Genuß theilzunehmen versuchte. Er biß und kaute auch in der That tapfer auf den Kohl los, aber immer spie er ihn wieder aus, und jeder neue Versuch hatte dasselbe Ende, so daß für die Luchse wohl zunächst noch keine Aussicht blüht, sich in harmlose Kohlfresser umzuwandeln. Ein wesentlich anderes Schauspiel als dieses Kohlkosten bot hingegen die Fütterung des Luchses selbst. In ausgelassenster Lustigkeit ergriff er da mit den Zähnen die Fleischstücke, warf dieselben, sich auf die Hinterbeine aufrichtend, in die Luft und suchte sie mit den Pfoten wieder aufzufangen, und wenn dabei das Fleisch von dem Brett, auf dem es zuerst gelegen, in den Sand gerieth, so störte dies seinen Appetit schließlich nicht im geringsten. War dann aber der Appetit gestillt, so trat auch eine geringere Neigung zur Bewegung, vielleicht gar ein wenn auch bald vorübergehendes Ruhebedürfniß ein, und da sah ich denn einmal die merkwürdige Gruppirung, wie sie die rechte obere Ecke des Bildes zeigt: der Luchs hielt liegend das Kaninchen mit den Vorderpfoten umfaßt und benutzte es als warmes und weiches Kopfkissen.

Da nun die eigentlichen Thierfreunde unter den Lesern sich jedenfalls für die Entwickelung dieses Freundschaftsverhältnisses zwischen zwei so verschiedenen Thieren interessiren dürften, so sei hier nach den Mittheilungen des Thierwärters das Wissenswertheste davon erzählt. Es dürfte dies manchen belehrenden Wink enthalten, zugleich auch darthun, daß dieser im Vorhergehenden als so launig geschilderte Luchs eine keineswegs ganz harmlose Vergangenheit hinter sich hat.

Als das Thier, welches zu Schiff aus Rußland nach Deutschland gebracht wurde, noch ganz klein im Juli vorigen Jahres nach Berlin kam, war es mit Ungeziefer von der springenden Sorte, die in Rußland sehr gediegen sein soll, so bedeckt, daß Kämmen nichts half und der Direktor deshalb eine mehrwöchige Reinigung durch Bürsten mit Seife etc. anordnete. Nach anfänglichem Widerstreben fügte sich der Luchs, wurde gesund, lustig und gewöhnte sich bald an das ihm im August zur Gesellschaft beigegebene Kaninchen, ein Männchen, dem er an Größe anfangs noch nicht gleichkam. War der Wärter im Vogelhaus beschäftigt, so ließ er die Thiere frei in demselben umherlaufen und spielen, den Luchs mitunter sogar ins Freie hinaus, wo derselbe dann aufs lustigste auch mit den Kindern anknüpfte. An einem heißen Augusttage wurde er aber von einer Masse blauer Schmeißfliegen so furchtbar überfallen, daß er von neuem schwer krank wurde. Wieder gesund geworden, wurde er um so ausgelassener, war aber dabei so täppisch, daß er einst (im Oktober) in seiner Ungeschicklichkeit beim Spielen mit dem Kaninchen dasselbe so drückte, daß es erstickte. Ganz betroffen darüber, rührte er den todten Genossen nicht weiter an, auch nicht, als der Wärter das erdrückte Kaninchen ihm abgehäutet hinlegte. Ja sogar anderes ihm zum Fraß gegebenes Fleisch berührte er nicht, als es auf das Brett gelegt wurde, auf welchem das enthäutete Kaninchen gelegen hatte, und erst von einem neuen Brett fraß er wieder. Diese sonderbare Erscheinung kann nur durch den Geruch erklärt werden und dürfte wohl weiterer Erwägung werth sein.

Da der jetzt infolge seiner Schandtat vereinsamte Luchs sich unbehaglich fühlte, erhielt er als Ersatz ein Meerschweinchen tödtete es aber im unbeholfenen Spiele sofort, ebenso eine nachher ihm anvertraute junge Katze. Um ihm nun doch aber wieder Gesellschaft zu geben, bestellte der Wärter nach eingeholter Erlaubniß wieder ein Kaninchen von gleicher Farbe wie das erste, aber ein Weibchen und von energischem Charakter, und dieses herzhafte Kaninchenweibchen war es, welches ich im November in so freundschaftlichem Verhältniß zum Luchs, der beiläufig ein Männchen ist, fand. Die Herzhaftigkeit des Kaninchens soll sich z. B. auch darin bewähren, daß es dem Luchs, wenn er sein Spiel gar zu täppisch treibt, mit den Hinterfüßen den Sand ins Gesicht schleudert, ja ihn sogar beißt, und obgleich ich beides nicht selbst sah, so zweifle ich doch nicht im geringsten daran.

Man könnte nun nach all dem bisher Gesagten meinen, daß doch daraus eine Freundschaft auf seiten des Kaninchens noch nicht hervorgehe, da dessen Rolle doch bloß eine duldende oder abwehrende sei. Auch ich hatte fast bis zuletzt diesen Eindruck, konnte aber gerade in der letzten Stunde meiner Beobachtungen dieselben auch nach dieser Seite noch vervollständigen. Es war in den ersten Stunden nach Mittag, wo man, wie es scheint, auch als Luchs sich gerne eine kleine Mittagsruhe leistet. Das Katzenthier lag also auf dem Brett über der Schlafhöhle, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt; auf dem Sande unten nahm schnell unter diesen günstigen Umständen der Sperling sein Futter zu sich, auch das Kaninchen saß erst in dessen Nähe. Nach einiger Zeit sprang letzteres aber plötzlich auf der einen zugänglichen Seite zum Luchs hinauf und begann nun denselben über und über freundschaftlich zu belecken. Der Luchs ließ sich das nicht nur mit gemüthlichem Blinzeln ruhig gefallen, sondern wedelte sogar zuletzt mit seinem kleinen Schwänzchen lebhaften Beifall. Mehr Freundschaft konnte man doch in der That von dem Kaninchen nicht verlangen.

Fälle von Thierfreundschaft lassen sich häufig beobachten. Sie haben nichts Auffälliges bei ganz gleichartigen Thieren, ebenso erklären sie sich leicht bei Thieren verschiedener Arten, wenn dieselben zusammen aufgewachsen sind, oder bei dem sogenannten „Bemuttern“, das heißt, wenn ein erwachsenes weibliches Thier sich eines hilflosen Jungen von vielleicht ganz anderer Art annimmt. Im ersteren Falle ist es einfach die Gewohnheit, im anderen der Naturtrieb. Das von mir früher zuweilen in Menagerien beobachtete Zusammenleben von Löwen mit Hunden kann man eigentliche Freundschaft nicht nennen, da dies von seiten des Löwen wohl nur als eine großmüthige Duldung, die ihm ja auch ganz gut ansteht, anzusehen ist.

Räthselhafter sind schon andere Fälle. So beobachtete ich vor Jahren bei dem Thierhändler Hagenbeck eine merkwürdige Freundschaft zwischen einem Zebu-Stier und einem Heidschnuckenbock. Die beiden gingen immer zusammen in dem mit vielen anderen Thieren ihnen gemeinsam angewiesenen Gehege, spielten oft zusammen mit freundschaftlichen Stößen, und wenn sie ruhten, lagen sie nebeneinander. Fast noch sonderbarer, jedenfalls viel komischer, war einst im Hamburger Zoologischen Garten die Freundschaft zwischen einem Storch und einem Pelikan. Sie bestand in nichts weiter, als daß beide Vögel selbander spazieren gingen, d. h. der Pelikan schwamm am Ufer entlang, während der Storch auf demselben bedächtig nebenher wandelte. Vielleicht spielt bei solcher Zuneigung auch der Geruch eine Rolle. Immerhin, so sonderbar diese Beispiele erscheinen, so betreffen sie doch Thiere von sich ziemlich nahestehenden Arten. Die in diesem Aufsatz geschilderte Freundschaft aber besteht, wie man sieht, zwischen zwei Thieren von ganz verschiedenem Wesen; denn während der Luchs als eins der unbändigsten und schädlichsten Raubthiere gilt, ist das Kaninchen das vollständige Bild des Gegentheils. Es ist daher nicht zu verwundern, daß diese Gruppe bei allen Besuchern des Berliner Zoologischen Gartens das größte Staunen erregt, und es dürfte deshalb wohl auch gerechtfertigt sein, wenn derselben hier in der „Gartenlaube“ dieses bescheidene Denkmal gesetzt wird.

Heinrich Leutemann.