Eine Nacht auf dem Mississippi
Aus dem Tagebuche eines sächsischen Auswanderers.
Unsere Wanderung in den Vereinigten Staaten scheint an Begebnissen reich werden zu wollen, welche die Seele mit Grauen erfüllen. Ich erzählte bereits von manchen Abenteuern schauerlicher Art in Wald und Prairie, aber auch eine Fahrt auf dem „Vater der Gewässer,“ dem riesigen Mississippi, auf dessen breitem Rücken wir schon oftmals in kleinen und großen Fahrzeugen hinauf- und hinunterwärts geschwommen, sollte uns Erlebnisse bringen, die sich unverlöschlich in unsere Erinnerung festprägten.
Nachdem wir unsere Wanderungen bis weit hinunter am Mississippi ausgedehnt hatten, bestiegen wir ein Dampfschiff, um nach … hinaufzufahren. Eine Nacht und zwei Tage waren ganz angenehm vergangen; die zweite Nacht kam, und nachdem wir uns auf dem Verdecke des puffenden, zischenden, plätschernden Dampfungethüms ziemlich lange aufgehalten und an der Herrlichkeit der Wunder der Nacht uns erfreut hatten, schlich Einer nach dem Andern hinweg, um sich zum Schlafen niederzulegen. Ich bin nun ein wahrer Virtuose im Schlafen, denn ich versinke in den festesten Schlummer, sobald ich mich auf das Lager strecke und – wache erst mit dem nächsten Morgen wieder. Diesmal wachte ich gegen alle Gewohnheit etwa um zwei Uhr nach Mitternacht auf, und ich konnte mich auch nicht wieder in den Schlaf finden, was ich auch vornahm. Verdrießlich legte ich mich bald auf die rechte, bald auf die linke Seite. Endlich schien ich die erforderliche Schlaflage wiedergefunden zu haben und die Besinnung begann mir zu schwinden, als das Schiff leicht an das Ufer oder an eine Bank anstieß, wie ich deutlich fühlte; ich hörte sogar, da das Holz bekanntlich ein guter Schallleiter ist, ein Rauschen, als quelle gurgelnd Wasser herein. „wir sind wahrscheinlich auf einen der vielen [537] Bäume gestoßen, die auf dem Mississippi schwimmen,“ dachte ich bei mir; da aber der Stoß, wie ich gefühlt hatte, ein ziemlich unbedeutender gewesen war, so beschwichtigte ich die Besorgniß wieder, welche durch das unheimliche Wasserrauschen in mir rege gemacht worden war, drückte die Augen zu und suchte den nochmals verscheuchten Schlaf wiederzufinden.
Kaum hatte ich aber in diesem Vorsatze eine Minute gelegen, als ich hastige Tritte, mit aller Gewalt an die Kajütenthüren schlagen und dabei im Tone des graußigsten Entsetzens laut schreien hörte: „Auf, auf! Wir sinken!“ Die Passagiere sprangen von den Betten und rissen die Thüren auf, damit wenigstens ein Schimmer von Licht aus dem sogenannten Salon zu ihren finstern Lagerstätten eindringe. Dann wurde alles unheimlich still; Niemand sprach ein Wort, es war ja keine Zeit mit nutzlosen Reden zu verlieren; es galt zu handeln, sich zu rühren; so raffte denn ein Jeder von Kleidungsstücken und von seiner übrigen Habe in der Hast zusammen, was er zunächst erfassen konnte und stürzte damit fort – aber wohin? – das bedrohete Leben zu retten.
Ich für meinen Theil schüttelte den Freund neben mir sehr unsanft aus dem Schlafe, der ihm wohl recht liebe Bilder vorgaukelte, denn er wollte sich durchaus nicht entschließen, sich zu ermuntern und aufzustehen. Ich mußte Gewalt brauchen, packte den Freund krampfhaft mit beiden Fäusten, riß ihn so vom Lager auf und schrie ihm zu, während er über die unsanfte Störung zu schimpfen beginnen wollte: „Komm, komm! Das Boot sinkt!“ Dann nahm ich meine Habseligkeiten und stürzte hinweg, fort auf das Verdeck, ohne mich um irgend Jemand zu kümmern, nicht einmal – Gott verzeihe mir die Sünde, wenn es eine ist, – um den Freund. Als ich oben auf dem Deck erschien, sah ich ein zweites Dampfschiff dicht neben dem unserigen, das sich bereits sehr merklich nach der Seite zu neigen anfing. Irgend Einer der Passagiere – in der Dunkelheit und der entsetzlichen Verwirrung konnte ich nicht erkennen, wer er war – hielt sich da in verzweifelnder Angst an mich, wie ein Ertrinkender nach jedem Strohhalme greift. In Augenblicken, in denen es im fürchterlichsten Ernste an’s Leben geht, sind Complimente nicht angewendet, so wird sich denn Niemand wundern oder mich verdammen, wenn ich gestehen, daß ich dem sich Anklammernden, welchen ich vergeblich abzuschütteln versucht hatte, aus Nothwehr einen tüchtigen Fauststoß an die Magengrube versetzte. Dies machte mich frei. Den Abgeschüttelten sah ich taumeln – was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Rasch warf ich meine Habseligkeiten hinüber nach dem andern Schiffe, dann sprang ich selbst nach. Gott sei Dank, – ich war gerettet und mein Freund gelangte gleich hinter mir ebenfalls glücklich zu mir.
Es mochte etwa halb vier Uhr sein. Der Himmel hatte sich in der Nacht umwölkt, es regnete fein in der Morgenkühle und noch war es ganz finster! Nur die Schiffslaternen verbreiteten ein schwaches Licht. Es gelang endlich, ein paar Breter von dem fremden Dampfschiffe auf unser sinkendes hinüber zu legen, und auf diesem Wege wurden noch mehrere Passagiere, selbst einiges Gepäck gerettet. Die größte Noth hatte die Mannschaft, die Leute zurückzuhalten, die auf das untergehende Schiff zurückkehren und so viel als möglich von ihrem Gepäck holen wollten, wobei sie, wie leicht begreiflich, nicht nur ihr eigenes Leben wagten, sondern auch das der Andern gefährdeten, weil sie dieselben hinderten, rechtzeitig auf das Schiff zu kommen.
Ich stand auf dem Verdeck und sah hinüber und hinunter auf den sinkenden Dampfer, den eben ein Dutzend Fackeln, die eilig angezündet worden waren, mit grellem Lichte beleuchteten, als er mit donnerähnlichem Krachen zerborst und in tausend Stücke zersplitterte. Achtzig Stück Rinder, die an den Hörnern festgebunden waren, befanden sich darauf, und es war ein schauerlicher Anblick, als diese riesigen Thiere unter einander wimmelnd vergebens sich anstrengten, aus dem nassen Grabe sich zu retten. Es überläuft mich kalt noch in diesem Augenblicke, da ich davon schreibe.
Wer aber war gerettet? Niemand wußte es, und leider muß ich es sagen, Niemand kümmerte sich darum. Die Mannschaft des Dampfers arbeitete mit aller Kraft, Alle zu retten; sie verdient diese Anerkennung, die Gleichgiltigkeit derer aber, welche dem Tode entrissen worden, war in der That wahrhaft grauenvoll. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen fühlten, gingen sie an den – Schenktisch, um auf den Schrecken zu trinken; sie brannten die Cigarren an und trieben Späße, schon als das Boot noch nicht ganz gesunken und das Schicksal nicht der Hälfte ihrer Gefährten ermittelt war. Und doch hatten sie ein Schauspiel vor sich, das allein hätte hinreichen sollen, das härteste Herz zu erweichen und den Leichtsinnigsten zu ernstem Nachdenken zu bringen.
Mitten unter den Uebrigen stand ein Mann mit stierem Blicke, um dessen Füße sich zwei halbnackte Kinder klammerten. Vor einer Stunde war er ein kräftiger, glücklicher Mann, der Gatte einer jungen, schönen und liebenswürdigen Frau, der Vater von fünf Kindern gewesen; – jetzt hatte er die Frau, drei seiner Kinder und den – Verstand verloren. Keine Thräne netzte seine Augen, keine Spur von Trauer und Kummer lag in seinen Zügen; obgleich zwei Kinder, Pfänder der Liebe der Frau, die nicht mehr war, schluchzend und jammernd an seinen Knieen hingen, er achtete nicht auf sie, er sah sie nicht; sie suchten nach einem tröstenden Vaterblicke und sahen nur das stiere Auge eines Blödsinnigen. Sie weinten laut – nach der fehlenden Mutter oder über des Vaters ihnen unbegreifliches Wesen? Er hörte ihren Jammer nicht, er sah nicht die Thränen der vor Angst und Frost zitternden Kleinen, regungslos stand er da, aber statt daß sein Anblick den innigsten Dank für die eigne Rettung und das tiefste Mitleid mit den so maßlos Unglücklichen in den Amerikanern hätte wecken sollen, rauchten, tranken und lachten sie, als wenn sie eben aus einem Theater gekommen wären. Größere Herzlosigkeit läßt sich unmöglich denken, auch glaube ich nicht, daß sie anderswo in der Welt, als unter Amerikanern vorkommen kann.
Die Ursache unseres Unglücks war ein Zusammenstoß der beiden einander begegnenden Dampfer. Zum Glück gelangte der abwärts fahrende genau neben den sinkenden, so daß er uns aufnehmen konnte; wäre er nicht in diese Stellung gekommen, wer weiß, ob irgend Jemand von uns am Leben geblieben. So weit ich es beurtheilen konnte, waren alle Passagiere erster Klasse gerettet. Man wundere sich nicht, daß ich von einer ersten Klasse in Amerika spreche, denn obgleich es in diesem Lande sogenannter Gleichheit eigentlich keinen Klassenunterschied giebt, so werden doch unsre armen Landsleute, die Einwanderer, als Deckpassagiere aufgenommen und da der Frachtertrag die Hauptsache ist, so weist und treibt man sie unter Kisten, Kasten und Ballen, drängt und packt sie da zusammen. Es bleibt ihnen bei einem Unfall buchstäblich kein Raum und Weg zum Entkommen; sie müssen erwarten, unter Fässern und Ballen erdrückt zu werden. Auf unserem Dampfer kamen in dieser Weise etwa funfzehn Personen elend um’s Leben. Eine Frau aus Baiern nur arbeitete sich in Verzweiflung unter den Ballen hervor und rettete wirklich ihr Leben, nachdem sie in dem eingedrungenen Wasser fast ertrunken und von den wild umher zerrenden Rindern halb zertreten war. Sie lebte, ja, aber alle ihre Verwandte und Freunde, alle ihre Habe hatte sie verloren und allein, eine Bettlerin, stand sie in dem fremden Lande, dessen Sprache sie nicht einmal verstand.
Und nun der Gegensatz! Auf unserm Schiffe befand sich auch ein Sclavenhändler mit einem Dutzend Neger. Er hatte für seine werthvolle Menschenwaare einen ganz guten Platz erhalten, und so konnte er alle seine Schwarzen retten, während die deutschen Auswanderer in dem finstern Schiffsraume sterben mußten – ertrinken, ersticken, erquetscht werden, wer weiß es?
Sobald das geborstene Schiff vollständig gesunken war, dampften wir auf dem andern weiter, ohne noch mehr Zeit damit zu verlieren, vielleicht etwas von der Ladung zu retten. Mir persönlich war es schlecht genug bei dem Unfalle ergangen, obgleich ich für meine Rettung aufrichtig dankbar war und es noch bin. Ich erzählte, daß ich meine Habseligkeiten gleich im Anfange nach dem andern Schiffe hinüber warf; ich hatte sie aber in den Raum zwischen den beiden Dampfern geworfen, und so war Alles unrettbar verloren, dabei alle meine Briefe und Papiere, alles mit Ausnahme dessen, was ich auf dem Leibe trug, mein Anzug und meine Büchse, so wie die Uhr, einiges Geld und mein Notizbuch. Der Freund war glücklicher gewesen und hatte Alles gerettet.
Am Nachmittag begegneten wir einem Dampfer, der den Fluß hinauffuhr; auf diesen begaben wir uns, um unsere Reise nach dem so gewaltsam gestörten Plane fortzusetzen. Da, wo wir verunglückt waren, bemerkten wir noch einige Stücke des Wracks und neben dem Ufer lagen, schwammen Hunderte von Fässern mit Schweinefleisch, welche einen Haupttheil der Ladung ausgemacht hatten. Die Ansiedler aus der Nähe hatten sich bereits eingefunden [538] und fielen wie Raben über das Anschwimmende her, um soviel als möglich davon zu retten, d. h. zu stehlen. Ich wendete mit Ingrimm die Augen von dieser neuen Scene ab, welche das Amerikanerthum charakterisirt, und fuhr unserm fernen Ziel entmuthiget und verstimmt entgegen.
Von dem Schicksale unserer Gefährten in jener grauenvollen Nacht habe ich nie wieder etwas gehört. Was mag aus der armen Baierin, aus dem Mann mit den beiden Kindern geworden sein!