Eine Deputation bei Heinrich von Gagern

Textdaten
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Titel: Eine Deputation bei Heinrich von Gagern
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 411–412
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine Deputation bei Heinrich von Gagern.[1]
Zur Erinnerung an einen Jüngstverblichenen.

Es war in der stürmischen Nacht nach dem 6. März 1848, als ein Eilbote nach dem entlegenen Waldstädtchen Büdingen, am südwestlichen Hange des Vogels-Gebirges, kam und eine freudig erschreckende Nachricht brachte. Wir Gymnasiasten erfuhren dieselbe früh in der Schule. Der Director Thudichum berief uns am Morgen, anstatt in die Classenzimmer, sogleich in die Aula des Gymnasiums und verkündete in tiefer Erregung die nächtlich gekommene Botschaft: Großherzog Ludwig der Zweite habe in einem Edict seinem Lande eine neue Verfassung mit dem Rechte der freien Versammlung, der freien Schrift und Rede zugesagt, den Thronfolger Ludwig (den Dritten) zum Mit-Regenten ernannt und [[ADB:Gagern, Heinrich Freiherr von{Heinrich von Gagern]], den Führer der ständischen Opposition, zu seinem Minister erkoren. Zum Gedenken dieses hochsinnigen Actes sollten wir heute mit der Bürgerschaft gemeinsam ein Fest feiern und den Cicero wie Horaz einmal bei ihren Vätern ruhen lassen.

Am Nachmittage versammelte sich die Bürgerschaft vor dem alten Rathhause; ein paar bestäubte Fahnen wurden vom Rathssaale herab geholt, auch ein Dutzend alte Gewehre mit Feuersteinschlössern, dazu zwei Napoleonische Trommeln, welche die Franzosen in der Schlacht bei Hanau verloren hatten. Mit diesen Emblemen geschmückt, sieben Mann Stadtmusik voran, zog die Bürgerschaft mit ihren Beisassen, den Gymnasiasten, zum Thore hinaus über den Seemen-Bach nach dem „Wildenstein“, einem riesigen Basalt-Fels, der als revolutionäres Gestein durch das zahme Sandstein-Sediment hindurch gebrochen war – ein würdiges Vorbild des revolutionären Actes, der hier geschehen sollte.

Der Director hielt eine Rede, in der er den Bürgern die große Bedeutung des Tages erklärte, die Verdienste des neuen Ministers um die Rechte des Volkes darlegte, wie er seit Jahren in Wort und Schrift die Freiheit erkämpfte, die uns jetzt durch den Fürsten verkündet wurde. Er schloß mit einem Hoch auf Heinrich von Gagern, den Führer des hessischen Volkes, der uns bald zu herrlichen, glorreichen Tagen führen werde. Die Musik intonirte, aus Mangel an einem anderen patriotischen Gesang: „Heil, Ludwig, lange Dir!“ und der ganze Chor der Alten und Jungen sang den Weihesang, der mit mächtigem Schall in das Thal ertönte. Die Musik und die älteren Bürger zogen alsdann nach Haus, die jüngeren Bürger und die Gymnasiasten blieben zu einer Nachfeier zurück. Ein Polytechniker aus Karlsruhe sprang auf den „Wildenstein“ und hielt eine feurige Rede, in der er die großen Thaten erzählte, die in den letzten Wochen zu Paris geschehen waren, und von der weitgehenden Erregung der Bevölkerung am linken und rechten Rheinufer berichtete, wie die ganze Pfalz und Rheinhessen, ganz Baden bis in den innersten Schwarzwald hinein in fieberhafter Gährung begriffen sei, wie man in Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe und Freiburg schon Volksversammlungen gehalten, die auf nichts Geringeres ausgingen, als auch diesseits des Rheines die Republik auszurufen. Er schloß mit einem Hoch auf die Führerin der europäischen Völker, die französische Republik!

Wir sangen die „Marseillaise“ und zogen triumphirend zum Städtchen hinein. Sofort ward eine Bürgerwehr gebildet, in die wir Gymnasiasten eintraten. Ein alter Officiersdegen, den mir meine Hauswirthin lieh, war meine Waffe; ein Anderer brachte einen langen Schleppsäbel, ein Dritter ein verborgen gehaltenes Rappier oder Schläger. Gewehre waren nur so viel vorhanden, wie die Wachen und Patrouillen brauchten; sie gingen leihweise von Schulter zu Schulter. Tag und Nacht wanderten wir durch die Straßen, um die alten Thore, durch den Park und die Weinberge und prüften, ob nichts sich zeige, was die Ruhe der Büdinger Bürgerschaft bedrohen könne. Denn die Rinderbücher, Düdelsheimer, Rohrbacher Bauern waren im Anzug, von dem Fürsten von Büdingen ihre Wald-, Hut-, Jagd- und Fischereirechte durch Deputationen zu verlangen und in Masse selber zu ertrotzen. Wir wollten ihnen dies nicht wehren; denn die Büdinger hatten selber von dem Fürsten diese Rechte erlangt, dazu auch das Recht auf Hochwild in und außer dem Park aus freier Entschließung sich angeeignet – mußten wir Gymnasiasten doch den ganzen Sommer von Hirsch- und Rehbraten leben! – nur sollten die Bauern eben ordnungsgemäß bei Tage kommen, und nicht, wie sie gedroht, das Städtlein nächtlicher Weile an vier Ecken anzünden.

Neben dieser allgemeinen Bürgerpflicht übten wir aber auch unsere besondere Gymnasiastenpflicht. Die Karlsruher und Stuttgarter Polytechniker, die Studenten von Heidelberg, Freiburg, Tübingen, Gießen, Marburg und München hielten Versammlungen und beriethen ihre Rechte. Wir, die wir lange schon Karl Heinzen's „Opposition“, Struve's „Deutschen Zuschauer“ und andere bei Gefängnißstrafe verbotene Zeitschriften gelesen, erkannten auch unsere Pflicht und beschlossen eine Adresse an den neuen Minister, den gloriosen Führer von Jung-Deutschland, von dem wir so viel Mannhaftes, Hochherziges und Ehrenfestes vernommen hatten. In die Schule gingen wir nicht mehr – das war der Beschluß des ersten Tages – wir hielten aber täglich Versammlungen zur Berathung der Adresse. Nach drei-, viertägigen Ausschußsitzungen und etlichen Plenarversammlungen kam die Adresse zu Stande. Eine Deputation von drei Primanern ward erwählt; sie sollte die Adresse eigenhändig dem Herrn von Gagern überbringen.

Die Deputation reiste ab. Eine Eisenbahn gab's noch nicht; die Post war zu theuer – Diäten wurden verschmäht; es war Ehrensache – so reiste die Deputation zu Fuß den ersten Tag bis Vilbel, zwei Stunden nördlich von Frankfurt, wo einer der Deputirten domicilirt war und die Genossen beherbergte. Am anderen Tage ging's zu Fuß weiter nach Frankfurt, um dann mit der Main-Neckar-Eisenbahn nach Darmstadt zu fahren.

Der ältere der drei Deputirten hatte sich, der höheren Festlichkeit wegen, in seines älteren Bruders Frack gesteckt; zwei lange spitze Zipfel reichten beinahe so weit hinab, wie die Hosen an den Stiefeln herauf gingen. Eine grüne Studentenkappe, eine mächtige Pfeife mit langem [412] Weichselrohr und schwarz-roth-goldenen Pfundquasten – aus dem Atelier von Meister Türk – waren die übrige Ornamentirung. Die beiden Anderen waren in schwarzem Sonntaganzug, das schwarz-roth-goldene Band über der Brust als einzige Auszeichnung.

Auf dem Weg nach Frankfurt ward nun berathen, wer die Anrede an den Herrn Minister sprechen sollte; denn zu dritt konnte man wohl in einer Volksversammlung reden, doch nicht vor dem Herrn Minister. Der Vilbeler Gastfreund sprach: „Daniel, Du beschämst uns; wir kommen spießbürgerlich in unseren Casino-Röcken; Du allein hast mit dem Frack den richtigen Tact gehabt. Du bist auch der Aeltere, hast einen stattlichen Bart und eine tiefe Baßstimme. Das wird dem Minister imponiren; Du mußt die Rede halten.“

Daniel lehnte schmunzelnd ab: „Mir geht’s wie Moses; ich habe eine schwere Zunge, seit drei Tagen auch einen mächtigen Katarrh. Du, Aaron, kannst die Rede fließender halten.“

Der Wettstreit ging so bis zur Vilbeler Warte, indeß jeder der Beiden das Thema variirte, was man dem Minister sagen müsse, bis der Spruch des jüngsten Deputirten, daß Daniel sich schämen müsse, wenn ein Jüngerer den Vortritt nähme, den Ausschlag gab.

Tief sinnend und schweigsam schritt nun Daniel einher; der Pfeife Qualm erlosch, und die starren Augen verkündeten, daß er inwendig heftig arbeitete. Die Deputation schritt zum Vilbeler Thor herein in dem Hochgefühl, daß Klein-Frankfurt mit Staunen auf sie schauen müsse. In der Friedberger Gasse kamen die Muster-Schüler eben aus der Schule; sie blieben verwunderungsvoll stehen und staunten den langen Deputirten an, noch mehr die langen Quasten. Am Dalles-Platz standen die Fulder; da mußte die Pfeife abermals Spießruthen laufen. Die Deputation zog durch die Faser-Gasse und hatte beinahe unangestaunt die Main-Brücke erreicht, als die Gymnasiasten aus der alten Pädagog-Gasse hervorkamen. Ein kecker Bursche stellte sich breitspurig an die Straße und rief seinen Cameraden zu:

„Habt Ihr’s denn schon gehört, die Schweizer wollen dem Arnold von Winkelried ein Denkmal setzen. Sie suchen ein Modell dazu.“

Daniel ward immer schweigsamer, immer blässer, und als die Deputirten am Sachsenhäuser Noth-Bahnhof ankamen – die Main-Neckar-Brücke war noch nicht gekrönt – da seufzte er ganz erschüttert:

„Ich kann die Rede nicht halten. Ich habe zu viel geraucht; da ist mir ganz schwindlig geworden. Du, Aaron, mußt sprechen.“

Nach langem Streit übernahm Aaron die Rolle. Die Deputation setzte sich in den lederverhüllten Waggon und fuhr gen Darmstadt. Eine knappe Stunde Zeit – nun galt’s kurzen Entschluß. Eine kühle Brise wehte durch die Ledervorhänge; der Ostwind sauste zwar „ohnmächtige Schauer körnigen Eises“, doch mächtig genug, die schweigsame Gesellschaft zu erkälten. Aaron ward, je näher gen Darmstadt, desto blässer, und als der Conducteur in Arheiligen die Billete nach Darmstadt abverlangte, war’s auch dem zweiten Deputirten so unheimlich, daß er auf die Ehre der Rede verzichtete und den jüngsten Deputirten haranguirte: „Du, Hanirek, warst Präsident von der Versammlung, Dein Name steht auch oben auf der Adresse. Der Herr Minister erwartet doch, daß, wer oben steht, auch die Anrede hält.“ Dieser Streit währte bis zum „Hôtel Köhler“, in dem die Gesellschaft mit einer Flasche Ungsteiner sich frischen Muth erholte und Hanirek sich entschloß, die Rede zu sprechen.

Die Deputation schritt die Rheinstraße hinauf. Die Darmstädter machten nicht viel Aufhebens; sie hatten der Deputationen schon mehrere gesehen. Die schwarz-roth-goldenen Pfundquasten sammt der Pfeife waren überdies im „Hôtel Köhler“ geblieben. Mit den Odenwälder Copulationsfräcken konnte sich Daniel’s Frack zum mindesten messen. So schritten die Deputirten, ernst und würdevoll, die breite Treppe zum Ministerium hinan. Auf der ersten Podeste erblickten sie den Herrn Minister, der zur Treppe herabstieg. Die hohe imposante Gestalt, das große, leuchtende Auge machten auf die Jünglinge einen mächtigen Eindruck, doch nicht niederschlagend, nein – wie das wahrhaft Große, erhebend, begeisternd. Da stand das gewaltige Bild vor ihnen, wie sie aus seinen Reden es sich aufgebaut, der Zeus mit der Donnerstimme, mit den Olymposbewegenden Brauen, dem Blick voll Hoheit und einem feinen, graziösen Lächeln, dem Ausdruck edler Herzensgüte.

Die Jünglinge verbeugten sich; mit rascher Wendung trat der Sprecher vor und bat den Herrn Minister um eine Audienz. Bereitwillig ward sie gewährt und die Deputation in das Empfangszimmer geführt. Der Sprecher hielt seine Anrede: „Herr Minister, wir sind gekommen als die Vertreter der Gymnasiasten von Büdingen, um Ihnen unsere Huldigung kund zu thun. Auch wir sind von der Bewegung ergriffen, die jetzt der Völker Europas sich bemeistert. Sind wir auch nicht in der Lage, in die Geschichte einzugreifen, so sind wir doch entschlossen, alles zu thun, was das Heil des Volkes verlangt. Durch Ihre hochherzigen Reden sind wir befeuert und begeistert worden, daß wir wagen, vor den Mann zu treten, an dessen Augen und Lippen die ganze deutsche Jugend, die gesammte deutsche Nation erwartungsvoll hängt. Wir wollen Ihnen sagen, daß, wo Sie die Hülfe der Nation brauchen, Sie auch auf die Jugend rechnen können. Wir wollen Sie aber auch bitten, der Schule zu gedenken, damit sie Männer erziehe, die fähig und geschickt seien, wenn die Nation einst mannhafte Thaten verlangt.“

Der Herr Minister dankte verbindlich lächelnd für die hohe Meinung, die wir von ihm hegten. „Ich freue mich, daß die Jugend in diesem Momente so rasch zur That drängt. Denn ihrer Mithülfe bedürfen die Aelteren, die wohl führen, doch allein nicht Alles zu vollbringen vermögen. Die Begeisterung der Jugend ist mir sogar ein Prüfstein für die Echtheit der Sache, der ich mein Leben geweiht habe. Mit gewandter Dialektik kann man die Aelteren auch für eine minder edle Sache gewinnen; die Begeisterung der Jugend wird nur durch Rechtes und Wahres entfacht.“

Dann flog er die Petition durch: „Naturwissenschaft, besseren Religionsunterricht, neuere Geschichte und Literatur, Turn- und Fechtübung verlangen Sie! Mit Ihren Lehrern sind Sie nicht zufrieden; Sie haben doch tüchtige Lehrer. Der Geist der Schrift läßt dies vermuthen.“

„Herr Minister, wir haben wackere Lehrer, die alles Große und Schöne uns lehren, was seit Homer und Sophokles bis zu Goethe und Schiller überliefert ist. Doch haben wir auch Einen, der die Teufel austreibt.“

„Nun,“ lächelte der Herr Minister, „Sie wissen doch, wie Faust sagt:

‚Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust‘ –

da wird es wohl nicht schaden, wenn der Teufelaustreiber der einen Seele etwas forthilft.“

„Nicht doch, Herr Minister,“ rief plötzlich Daniel, dessen Augen leuchteten, als Herr von Gagern „seinen Faust“ citirte, „die eine Seele ist doch

          – ‚ein Theil der Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft‘ –

und ohne diese Kraft ständen wir heute nicht hier.“

Der Herr Minister freute sich, daß die Jünglinge nicht so leichten Kaufes sich drein gaben, reichte ihnen mit herzgewinnendem Lächeln die Hand und entließ sie mit dem Versprechen der baldigen Gewährung. Mit hohem Stolz verließen die Deputirten das Ministerium. Es war ihnen eine hehre Freude, mit dem hochverehrten Manne reden zu dürfen, ungezwungener, freier und herzlicher, als mit mancher der kleinen Größen, die ihnen vor- und nachher im Leben begegneten. Das war ihnen die beste Bürgschaft für die Willfahrung ihrer Bitte und die gute Erledigung ihrer Mission.

In der That kam auch nach wenigen Wochen schon eine Aufforderung an das Lehrercollegium, die Wünsche der Gymnasiasten zu hören und thunlichst ihnen zu willfahren. Der Herr Director Thudichum empfing sie ohne Vorwurf, doch mit bekümmertem Blick: „Habe ich das um Euch verdient, der stets so väterlich um Euch besorgt war?“ Der Blick traf tiefer als jeder Vorwurf. Wir fühlten, daß wir den alten Herrn unverdienter Weise gekränkt hatten, und nur das eine Bewußtsein mochte uns trösten: wir hatten mit dem Manne gesprochen, der wie ein heller Stern in finsterer Nacht vor unserer Seele schwebte; wir waren mit Achtung von ihm empfangen worden und wurden um deßwillen auch von den Männern geehrt, die vorher uns diese Achtung verweigerten.

Heinrich Becker.
  1. Die Gestalt des Präsidenten der deutschen Nationalversammlung von 1848 gehört der Geschichte einer Zeit an, über die wir unsere Leser kaum mehr genauer zu orientiren brauchen. Die populärste Persönlichkeit des großen Bewegungsjahres und in den ersten fünfziger Jahren noch ein vielgenannter Mann, war Heinrich von Gagern schon den nächsten Generationen ein nahezu Vergessener, und erst die Kunde von seinem vor wenigen Wochen erfolgten Tode frischt im Gedächtniß der Nation das Bild dieses Kämpfers auf, den seine Partei nicht mit Unrecht den „Edlen“ nannte. So durfte auch obige heitere Episode aus dem Leben Gagern's heute nicht zur Unzeit kommen.
    D. Red.