Ein moderner Mädchenbrief
Ein moderner Mädchenbrief. Vor Kurzem brachten fast sämmtliche Pariser Tagesblätter, unter der Rubrik: „verschiedene Neuigkeiten", die nachstehende Notiz:
„Gestern in den Morgenstunden hat sich ein junger Mensch von der Höhe des Pont-Royal in die Seine gestürzt; mehrere Fischer, die auf dem Flusse beschäftigt waren, eilten ihm sogleich zu Hülfe, sie kamen aber zu spät und es gelang ihnen erst nach zwei Stunden unermüdlichen Suchens den entseelten Leichnam aus den Fluthen zu ziehen. Da man nichts bei ihm fand, was seine Identität hätte nachweisen können, sah man sich genöthigt, ihn nach der Morgue bringen zu lassen.“
Der junge Mann, von dem in vorstehender Notiz die Rede ist, war 23 Jahr alt, er war Dichter und hatte sich schon in der literarischen Welt einen geachteten Namen erworben. Ich habe ihn genau gekannt, er war fast mein Freund. Die materiellen Prüfungen des Lebens fanden ihn standhaft und fest, aber moralischen Leiden gegenüber war er schwach und furchtsam. Er konnte den Schmerz nicht ertragen, der sein Herz an der erregbarsten Stelle heimgesucht hatte, und – nahm sich das Leben. Andere als ich mögen den ersten Stein auf sein Grab werfen, aber nur derjenige, der ohne Fehl ist, hat das Recht, seine Handlungsweise zu richten. Indessen dünkt mich mitten in unserem neunzehnten Jahrhunderte ein junger Mann, ein Dichter, der sich aus Liebeskummer den Tod giebt, eine ziemlich seltsame Erscheinung, die wohl unsere Beachtung verdient; umsomehr, als das ganze Drama ein grelles Schlaglicht auf den sonderbaren Geist unserer sonderbaren Zeit und namentlich auf die Pariser socialen Verhältnisse wirft.
Raoul R., so hieß der junge Dichter, war, früh verwaist, von seinem Onkel, einem wohlhabenden Arzte in Paris, erzogen und zu dessen Berufe bestimmt worden. Zwar widmete sich Raoul der Medicin, studirte fleißig und bestand auch seine Examina. Allein sein Herz war nicht bei seinem Studium: er dichtete lieber, und so gab er endlich, gegen den Willen seines Wohlthäters und darum von diesem verlassen, die erwähnte Laufbahn auf, um ganz der Poesie zu leben.
Er war nun allein auf sich gestellt; aber wie lebte er? Er gab einen Band Gedichte heraus, der zwei Auflagen erlebte; er verfaßte mehrere Romanzen, die ein bekannter Componist in Musik setzte und die mit Beifall aufgenommen wurden; endlich schrieb er ein kleines Lustspiel in Versen, das auf einem Provinzial-Theater zur Aufführung kam. Dies ist ungefähr die Bilanz seines geistigen Vermögens; hierbei muß ich noch erwähnen, daß er äußerst wenig Bedürfnisse hatte, ein fast klösterlich eingezogenes Leben führte, große Selbstüberwindung und eine wahrhaft stolze Verachtung aller materiellen Lebensgenüsse besaß. Um jedoch Jahre hindurch ein Dasein voll so vieler Entbehrungen führen zu können, muß man entweder ein Heiliger, ein Held, oder – verliebt sein. Raoul war weder ein Heiliger, noch ein Held, aber er war verliebt.
Er bewohnte ein sehr kleines und bescheidenes Zimmer im fünften Stock eines Hauses der Rue Lafitte. Der Hausbesitzer, ein Kaufmann, der sich mit einem sehr bedeutenden Vermögen von den Geschäften zurückgezogen hatte, nahm mit seiner Familie, die aus seiner Gattin, zwei Töchtern und zwei noch ganz jungen Söhnen bestand, den ersten Stock ein. Er lebte auf einem ziemlich großen Fuße, sah öfters Leute bei sich und gab auch zuweilen Bälle. Eines Tages, als es ihm gerade an Tänzern fehlte, schickte er auch seinem jungen Miethsmann im fünften Stock eine Einladung, da die Erkundigungen, die er über ihn eingezogen hatte, befriedigend ausgefallen waren. Nach dem Balle stattete Raoul dem reichen Kaufmann einen Besuch ab; er wurde sehr freundlich aufgenommen; man fragte ihn nach seinen Beschäftigungen; „ich mache Verse!“ entgegnete naiver Weise der junge Poet. Die Gattin des reichen Kaufmanns, eine ziemlich romantische Natur, fühlte sich sehr geschmeichelt, in ihrem Hause einen Dichter zu haben, den sie ihren Freunden und Gästen anständiger Weise vorstellen könne. Sie lud Raoul also sehr oft zu ihren Gesellschaften ein, und er verbrachte im Hause des reichen Kaufmanns die angenehmsten Stunden. Er las die neuesten Producte seiner Muse vor, und auch sein kleines Lustspiel wurde hier, zwischen zwei spanischen Wänden, von einer Liebhabertruppe zum ersten Male aufgeführt.
So weit war für unseren jungen Dichter Alles ganz schön und gut; [479] aber zum Unglück besaß der reiche Kaufmann eine Tochter. Sie hieß Bertha und mochte zu jener Zeit etwa sechzehn Jahre alt sein. Sie war eine große, schöne Gestalt mit blondem Haar und großen blauen Augen; in ihrem Gange und in ihrem ganzen Wesen lag etwas Stolzes und Entschiedenes, das einen gewissen Eindruck nicht verfehlte. In diese Bertha verliebte er sich sterblich; je näher er mit ihr bekannt wurde, desto mehr wuchs diese Liebe, die alsbald erwidert wurde. Niemand hatte eine Ahnung von der gegenseitigen Neigung der beiden jungen Leute. Dem Herzen des Dichters genügte dieses stumme und reine Glück, von dem er lebte.
So waren Jahre in diesem stillen Glück verflossen. Bertha’s Vater hatte zur Feier ihres achtzehnten Geburtstages einen großen Ball veranstaltet. Am Schluß des Festes trat Raoul an Bertha heran, die allein in einer Fensternische saß, und richtete mit bewegter Stimme folgende Worte an sie: „Es sind nun drei Jahre, Bertha, daß ich die Ehre habe, Sie zu kennen, und eben so lange, daß ich das Glück habe, Sie zu lieben. Ich bin entschlossen, morgen bei Ihrem Herrn Vater anzufragen, ob er mich zu seinem Schwiegersohne machen will. Bevor ich aber diesen wichtigen Schritt thue, bitte ich Sie, mir zu sagen, was Sie Ihrem Herrn Vater erwidern werden, für den Fall, daß er Sie von meinen Wünschen in Kenntniß setzt.“
„Lieber Raoul,“ erwiderte Bertha, „meine Antwort auf Ihre Frage möchte zu lang ausfallen, als daß ich sie Ihnen noch heute Abend geben könnte; Sie sollen sie morgen früh schriftlich von mir bekommen.“
Hierauf stand sie auf und verschwand in einem Nebenzimmer.
Raoul zog sich in seine bescheidene Dachwohnung zurück. Am nächstfolgenden Tage, gegen sechs Uhr des Abends etwa, empfing ein vertrauter Freund Raoul’s ein ziemlich starkes Paket von der Post, das die nachstehenden drei Briefe enthielt.
„Lieber Paul, beikommend sende ich Dir den Brief, den mir Bertha diesen Morgen auf meine gestrige Anfrage geschrieben hat; ich lege Dir auch meine Antwort an sie bei. Du allein kanntest meine Liebe zu Bertha, Du weißt, daß sie das einzige Glück meines Lebens war. Du wirst auch begreifen, daß mein Herz nun gebrochen, wie mein Glück zertrümmert ist, und daß ich so nicht länger leben kann. Geh’ nach der Morgue und laß meinen Leichnam, den Du dort finden wirst, zu meinem Onkel bringen. Verzeihe mir, daß ich Deiner treuen und bewährten Freundschaft noch diesen letzten, peinlichen Dienst abverlange, und lebe wohl. Raoul.“
„Mein lieber Herr Raoul, die Mittheilung, die Sie mir gestern Abend gemacht haben, erfreut mich einerseits in hohem Grade, während sie mich andererseits erschreckt, da sie eine Erklärung zwischen uns herbeiführen muß, der ich gern ausgewichen wäre. Wir kennen uns nun seit drei Jahren; die Regungen Ihres Herzens waren mir kein Geheimniß mehr, und ebenso ist meine Liebe für Sie Ihnen nicht unbekannt geblieben. Ich war glücklich, mich diesen schönen Gefühlen hingeben zu können, aber Sie wissen ebensogut wie ich, lieber Herr Raoul, daß jeder Traum ein Ende, ein Erwachen haben muß! Das Leben bildet eine Kette von Nothwendigkeiten, denen wir uns fügen und unterwerfen müssen, da es nicht in unserer Macht liegt, sie zu ändern.
Sie kennen meine Lage ebenso genau, wie ich selbst. Sie wissen, daß mein Vater sein allerdings ziemlich bedeutendes Vermögen nach und nach mit seinen Kindern theilen will. Demnach würden mir, für den Fall, daß ich mich jetzt verheirathete, 200,000 Franken zukommen; diese Summe bringt eine jährliche Rente von 10,000 Franken, und das reicht nicht aus, um ein angenehmes und heiteres Leben zu führen, wie ich es gewöhnt bin. Ich kann also keinen Mann heirathen, der ohne Vermögen ist, wenn ich mich nicht in allerhand Sorgen stürzen will, die ich gar nicht ertragen könnte. Wir würden uns später vielleicht bittere Vorwürfe machen, wenn wir jetzt nur den Eingebungen unserer Liebe folgen wollten, ohne die mahnende Stimme der Vernunft zu berücksichtigen.
Sie sind Dichter, und daher kommt es wohl, daß Sie für die Wirklichkeit des Lebens keinen rechten Sinn haben; aber Ihr schöner Beruf, der Sie allein nur höchst mühselig ernährt, wird Sie leider niemals in die Möglichkeit versetzen, die mannigfachen Bedürfnisse eines größeren Hausstandes zu bestreiten.
Glauben Sie mir, lieber Herr Raoul, es wird mir sehr schwer, Ihnen alle diese Dinge zu sagen; indessen, wenn Sie meinen Brief ruhig überlegen, werden Sie darin nur die Stimme der gesunden Vernunft entdecken. Erblicken Sie eben auch darin den Beweis meiner aufrichtigen und innigen Liebe für Sie und seien Sie fest überzeugt, daß Ihr Glück mir ebenso am Herzen liegt, wie das meinige. Bertha.“
Dieser Brief – ich habe ihn im Original in meinen Händen gehalten und gelesen – ist, man muß es gestehen, in seiner Art ein kleines Meisterstück. Das also hat die Erziehung des neunzehnten Jahrhunderts aus einem jungen, reichen Mädchen gemacht! Das Bedürfniß des Luxus ist ihr zur zweiten Natur geworden und hat in ihr so viel kalten Verstand, so viel berechnende Vernunft entwickelt, daß es uns in ihrer Nähe unwillkürlich fröstelt. Bertha schreibt in ihrem achtzehnten Jahre einem jungen Manne, den sie liebt, – man bedenke, den sie liebt! daß sie mit einer Rente von 10,000 Franken nicht auskommen kann, sie sieht schon die möglichen Sorgen der Zukunft voraus, sie untersucht die etwaigen Einkünfte ihres Geliebten und folgert daraus Gefahren für ihr beiderseitiges Glück – und alles dies mit achtzehn Jahren! – ist es nicht entsetzlich? Die kalten, herzlosen, berechnenden jungen Mädchen werden heirathen, werden Mütter werden, wie aber werden sie ihre Kinder erziehen? Was wird aus den kommenden Generationen werden, die aus solchen Händen hervorgehen? Wird vielleicht eine plötzliche Reaction eintreten, oder wird sich das Gefühl für positive Interessen noch mehr entwickeln? Werden die ursprünglichen Rechte des Herzens noch mehr geschmälert werden, und wird die Ehe ganz und gar in die Kategorie der gewöhnlichen Geschäfte herabsinken? Das ist das große Räthsel der Zukunft!
Neben Bertha’s Brief lag noch ein kleines, zerknittertes Blatt, dessen Schrift fast unleserlich, von Thränen halb ausgelöscht war. Es enthielt Raoul’s Antwort, die folgendermaßen lautete: „Mein Fräulein, Sie haben tausendmal Recht. Ich war ein Wahnsinniger, da ich auf die Erfüllung eines schönen Traumes mein ganzes Glück gesetzt hatte. Seien Sie reich und glücklich, leben Sie lange und ohne Sorgen – das ist mein innigster Wunsch. Ich meinerseits werde in das Nichts zurückkehren, aus dem ich niemals hätte hervortreten sollen, und bitte Sie nur um Vergessenheit! Raoul.“
Nachdem Raoul’s Freund diese drei Briefe mit immer wachsender Bestürzung gelesen hatte, begab er sich sogleich in die Wohnung den jungen Dichters, in der Hoffnung, daß dieser seinen verzweifelten Entschluß noch nicht werde ausgeführt haben. Daselbst aber sagte man ihm, daß Raoul schon des Morgens zeitig ausgegangen sei und man ihn seitdem nicht wiedergesehen habe. Schweren Herzenn eilte nun der Freund nach der Morgue und zu seinem tiefen Schmerze fand er hier den armen Raoul, der sich zu diesem letzten trüben Rendez-vous leider nur zu pünktlich eingestellt hatte; starr und ruhig lag sein entseelter Leichnam ausgestreckt auf dem kalten Steine; sein langes schwarzen Haar, das ganz durchnäßt an seinen Schläfen herabhing, ließ die Blässe seines schönen, träumerischen Gesichtes noch lebhafter hervortreten; der Todeskampf hatte seine Züge nicht entstellt, und um seine Lippen spielte ein sanftes Lächeln.
Seinem Wunsche gemäß wurde sein Leichnam zu seinem Oheim gebracht. „Der arme Junge!“ rief der Arzt, „er muß wahnsinnig gewesen sein; ja, ja, sein Gehirn hat vermuthlich gelitten!“ Diesmal irrte sich der berühmte Doctor; Raoul’s Gehirn war nicht angegriffen, sein Herz allein hatte den Todesstoß empfangen.
Im Hause des reichen Kausmannn machte dieses traurige Ereigniß einiges Aufsehen, und Fräulein Bertha war sogar zwei Tage lang ganz betrübt. „Das liebe Kind,“ sagte ihre Mutter, „bedarf der Aufheiterung; wir wollen in’s Seebad reisen, das wird sie zerstreuen!“ Und in der That, Fräulein Bertha weilt gegenwärtig in Dieppe, wo sie sich allen möglichen ausheiternden Zerstreuungen hingiebt.
Wir haben unterdessen den armen Raoul zur Erde bestattet und eine Trauerweide auf sein Grab gepflanzt.