Textdaten
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Autor: Dr. –a–.
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Titel: Ein Umgangsfehler
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 876–877
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[876] Ein Umgangsfehler. Der Mensch ist ein geborener Hypochonder. Zwar nicht bei einem Jeden entwickelt sich die geringe Anlage zu dem berüchtigten Plagegeist, denn Energie und Willenskraft können den Beginn des Wachsthums unterdrücken, der Keim aber ist vorhanden, aus welchem bei einer unzweckmäßigen Behandlung eine Schmarotzerpflanze der schlimmsten Art für den befallenen Organismus hervorwuchert. Diese Thatsache findet leider oft nur eine sehr geringe Beachtung. In dem Glauben befangen, daß nur auf den Körper selbst wirkende Ursachen, dauernde Diätfehler, vieles Sitzen in schlechler Luft etc. die Hypochondrie nach sich ziehen, übersieht man gänzlich die psychischen Einflüsse ihrer Entstehung. Tagtäglich schleudert man seinem unglücklichen Mitmenschen, und zwar noch aus Höflichkeit, Phrasen in das Gesicht, welche ein nur geringes Nachdenken wenigstens als unbesonnen zurückweisen würde.

Das menschliche Gesicht bietet das ungeeignetste Moment zur Beurtheilung des jedesmaligen Gesundheitszustandes dar. Eine nur unerhebliche Störung des normalen Stoffwechsels, vor allem die äußere Temperatur, Kälte, können eine Veränderung des Ansehens bedingen, welche trotz unseres vollständigen Wohlbefindens eine schwerere Affection vermuthen läßt. Was geschieht nun, wenn wir uns in einem derartigen Falle befinden? Gar bald werden wir einer mitleidigen Seele begegnen, die uns erst mit kritischem Blicke mustert, dann aber theilnehmend fragt: „Was fehlt Ihnen denn? Sie sehen so schlecht aus.“ etc. Es wird damit nichts weniger als etwas Böses beabsichtigt, ganz im Gegentheil soll die Theilnahme verrathen werden, welche der Betreffende unserer armen Persönlichkeit angedeihen läßt. Man soll denken, daß er uns seit der letzten Begegnung fortdauernd im Andenken behalten hat. Den Folgezustand solcher unbesonnenen Redensarten dürften Viele unserer Leser an sich selbst durchgemacht haben. Sobald sich Gelegenheit findet, geschieht der erste Schritt nach dem Spiegel; mit angsterfüllten Blicken wird jede Falte des werthen Ichs durchmustert, ob wir uns denn wirklich so grauenhaft verändert haben. Wehe uns, wenn sich wirklich eine Achillesferse findet! Der Anfang zum Hypochonder ist fertig, der Funke in das Pulverfaß geworfen. Täglich wird die Specialuntersuchung nun erneuert; ein unschuldiges Blüthchen zeigt den beginnenden Krebs; die Röthe der Gesundheit ist der hektische Vorbote der Schwindsucht; dem unscheinbarsten Symptome, welches uns sonst nie berührt, schenken wir jetzt die genaueste Beachtung. Endlich muß das Nervensystem, durch solche Hirngespinnste zuerst gereizt, dann herabgestimmt, die functionirenden Organe, vor allem die Verdauung, in Mitleidenschaft ziehen; gesellen sich die oben genannten begünstigenden Umstände, Diätfehler etc. hinzu, so ist die Kette fertig, deren erstes Glied der menschliche Unverstand geschmiedet hat.

Bei obiger Darstellung hat sich nicht die mindeste Uebertreibung eingeschlichen. Es muß immer erwogen werden, daß nicht allem eine Person, sondern noch so und so viele Andere die gleiche unüberlegte [877] Bekrittelung ausüben, und schenkte man auch dem Ersten wenig Vertrauen, von den Aussagen des Letzten bleibt sicher etwas haften. Wenn aber schon auf den Gesunden eine solche Wirkung ausgeübt wird, wie verkümmert man erst, einem armen Kranken sein unglückliches Dasein! Verbanne man also schon aus Zartgefühl diesen verderblichen Umgangsfehler! Viel Frohsinn kann dadurch erhalten werden.

Dr. –a–.