Ein Priester der Gewissensfreiheit

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Titel: Ein Priester der Gewissensfreiheit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 468–471
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Gustav Adolph Wislicenus
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Ein Priester der Gewissensfreiheit.

Es giebt scharf ausgeprägte Charaktermenschen, deren ganzes oft wechselvolles Leben von einem einzigen, sei es humanistischen, freiheitlichen oder künstlerischen und poetischen Ideale beherrscht wird und die bei allem Wechsel des Geschickes, bei aller bunten Verkettung der Erlebnisse nur für die Verwirklichung ihres Ideals die Mühen und Arbeiten des Lebens einsetzen. Zu solchen gekennzeichneten Charakteren gehört Gustav Adolph Wislicenus, in einem Pfarrhause bei Eilenburg den 20. Novbr. 1803 geboren. Sein lebenbeherrschendes Ideal ist die religiöse lichtfreundliche Freiheit, verbunden mit einer geschichtlich-wissenschaftlichen Auffassung des Christenthums, mit einer freien Prüfung seiner Urkunden, des Buches der Bücher. Sein bewegtes, oft trübes Leben war bis zu seinem jetzigen 61. Lebensjahre getheilt in Erziehung der Jugend nach diesem Ideale und in Erziehung des häufig unmündigen und unfreien Volkes durch Wort und Schrift, in Erziehung beider für eine vorurtheilslose Auffassung der Bibel. Die Hingabe einer ganzen Lebensarbeit an ein Ideal setzt immer voraus, daß das Ideal Herz und Kopf ganz ausfüllt, daß der zu einem solchen Ziele providenziell Berufene bei allen Hemmnissen und Wechselfällen immer nur zur Arbeit für dieses eine Ideal getrieben

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Gustav Adolph Wislicenus.

wird. So war es mit den Aposteln der politischen Freiheit, mit dem Friedensapostel Elihu Burritt, und so ist es mit Wislicenus, dem Apostel der religiösen Freiheit. Von frühester Jugend den religiösen Gefühlen hingegeben, wählte er 1822 Theologie und Pädagogik zu seinem Studium und Beruf, versenkte sich in die religiösen Mysterien des Christenthums, lernte aber auch bald die Religion mit der Freiheit verbinden und wurde endlich durch die Werke von Feuerbach und Strauß zu seinem Ideale der religiösen Freiheit geführt.

Als Prediger zu Klein-Eichstedt bei Querfurt (1834) und später als solcher in Halle trat er bereits dem starren Dogmenglauben feindlich entgegen; schon damals proclamirte er die freie wissenschaftliche Forschung über die Urkunden der Religion, über die Bibel. Er war aber niemals ein egoistischer Idealist, welcher die erkannte religiöse Freiheit in sich verschließen mochte, vielmehr sträubte sich sein gerader, ehrlicher und fester Sinn gegen die Zumuthung, die eigene Gesinnung nicht praktisch zu bewähren, die Ueberzeugung nicht zur Geltung zu bringen. Es drängte ihn stets, sein Denken und Handeln im Einklang zu erhalten und eine lichtvolle Bibelerkenntniß zu verallgemeinern. In dem Streben, das Volk über Religion und Bibel aufzuklären, trieb es ihn zu Anfang der vierziger Jahre, eine religiöse „Genossenschaft der Lichtfreunde“ zu fördern und 1844 in der „Versammlung der protestantischen Freunde“ einen Vertrag über die Frage zu halten: „Ist die buchstäbliche Auffassung der Bibel oder nur die rationelle Erklärung derselben als Glaubensnorm zulässig?“ Ohne auf Amtsentsetzung (1846) oder Verfolgung zu achten, schritt er in seinem Streben die erkannte religiöse Freiheit zu lehren, immer weiter und weiter. Seinem Werkchen „Ob Schrift, ob Geist“ folgte die Gründung einer „freien Gemeinde“, welche das dogmatische Christenthum mit der Religion des Menschenthums, mit der ethischen und humanisirenden Weltbildung vertauschte. Seine Zeitschrift „Reform“ und seine „Bibel im Lichte der Bildung unserer Zeit“ (1852) waren die nächsten schriftstellerischen Ausläufer seines Ringens nach religiöser Freiheit, während er, von Staat und Kirche abgesetzt und verfolgt, in errichteten Pensionaten, bei New-York und später in Zürich, sein ideales Ziel verfolgen konnte. Er verschmähte die Weltklugheit mancher seiner Amtsbrüder, vermochte sich nicht zur Heuchelei so vieler seiner gleichgesinnten Genossen, sich auch niemals zum Widerruf oder nur zur Milderung seiner mit ihm verwachsenen Grundsätze zu verstehen und ertrug lieber Amtsentsetzung, Gefängniß, Exil und die Herbigkeit der Entbehrung auf dem Ocean einer ungewissen Zukunft, als das Aufgeben seines Ideals.

Dem Abende seines Lebens zuschreitend, concentrirte er endlich [470] seine ganze Geistesthätigkeit auf die Ausarbeitung eines nun im Erscheinen begriffenen großen Werkes – „Die Bibel für denkende Leser betrachtet“ – worin sein Ideal von religiöser Freiheit sich abspiegelt, die rationellen Erklärungen der Urkunden der Religion sich gipfeln, und dieses Werk verspricht ein Volksbuch für die religiöse Freiheit zu werden. Hat ihm die orthodoxe Kirche den Priestertalar entzogen und die Kanzel versperrt, so ist er ein Priester der Jugend und des Volks geworden, und ist sein Haar im Kampfe mit dem starren Dogmenglauben gebleicht, so bezeugt sein Bibelwerk, das hier in Hauptpunkten beleuchtet werden soll, die Jugendfrische seines Ideals, sein Ringen nach religiöser Freiheit.

Das gläubige Volk sucht und findet in der Bibel die Quelle der überlieferten Religionslehren, das Buch der Erkenntniß für die edelsten Sittengesetze, das Trostbuch für das leidende und verzweifelte Gemüth, den Pharus für die Schiffbrüchigen auf dem stürmischen Ocean des Lebens. In den biblischen Erzählungen über die Urgeschichte der Menschheit, über die Erscheinungen der Natur und über die Begebnisse eines alten Urvolkes sieht der religiöse Sinn nur offenbarte, unbedingte Wahrheit, nicht aber eine zu prüfende Erscheinung der Geschichte. Die Kirche verlangt Glauben, die Geschichte fordert Wissen, und Wissen ist das Urtheilen des denkenden Menschen. Die Kirche wie die Synagoge haben das biblische Schriftthmn heilig gesprochen und es als Band – religio – betrachtet, welches den materiellen und ungezügelten Menschen mit Gott verbindet. Aber auch die Bücher der Geschichte führen den denkenden Menschen dem Geistigen zu, ohne die Vernunft gefangen zu nehmen.

Fromm und frei unternahm es der muthige und wahrheitsliebende Wislicenus, die Bibel als Erscheinung der Geschichte darzustellen. Die großartigen Ergebnisse der freien Wissenschaft, die seit Jahrhunderten, oft mit Verlust der persönlichen Freiheit, erzielt wurden, verdienen in unserer Zeit, daß sie in eine verständliche, volksthümliche Sprache umgegossen und Gemeingut der denkenden Leser werden. Das gereifte und selbständig denkende Volk will auch seine Religion und seinen Glauben nicht auf blinde Autorität hinnehmen; es will wissen und selbst erkennen. Wie unser Volk nach Einsicht und Verständniß über seinen gesunden und kranken Leib strebt und ringt und die Männer als seine Apostel hochschätzt, welche ihm diese Erkenntniß in volksmäßiger Sprache zuführen, ebenso dürstet und lechzt es nach Verständniß der Religionsquellen für seinen gesunden und kranken Geist und würde die Dolmetscher preisen, die ihm klare Einsicht in die biblischen Schriften verschaffen. Die fortgeschrittene Naturwissenschaft hat durch faßliche und populäre Darstellung im denkenden Volke einen großen Leserkreis gefunden; die wissenschaftlichen Forschungen über die Bibel harren noch der Popularisirung. Die biblischen Urkunden beider Testamente, auf deren Grund die Kirche ihren glänzenden Riesendom aufgebaut hat, um die Völker in Beziehung alles Menschlichen auf eine göttliche Weltordnung zu leiten, sind wie die Verfassungen im Staatsleben. Jedes Staatsmitglied sucht in der Verfassung seine Beziehung zur Staatsordnung; und wie die genauste Kenntniß der Verfassung heilige Pflicht der Bürger ist, um nicht unversehens von solchen, die sie bewußt oder unbewußt falsch auslegen, zur Verantwortung gezogen zu werden, ebenso will das gereifte Volk in seinen religiösen Interessen sich durch Prüfung überzeugen, will die Verfassungsurkunde der Kirche, die Bibel, selbst verstehen.

Das Bibelwerk von Wislicenus popularisirt die biblische Wissenschaft für denkende Leser. Was die erleuchteten und scharfsinnigen Gelehrten seit Jahrhunderten in allen wesentlichen Theilen der Bibel ermittelt, die Gesichtspunkte und Ergebnisse, die sie durch Kritik und Gelehrsamkeit zu Tage gefördert haben, das wird in diesem Bibelwerk in eine dem Volke genießbare Sprache umgesetzt und gedolmetscht. Die freie Forschung hat den Kerker der Kritik verlassen und ist auf den weiten Markt des Volkes getreten; sie hat die ungelenke und schwer verständliche Sprache der Gelehrten aufgegeben und die volksthümliche Redeweise angenommen. Bei dieser Wandlung hat die Bibel nunmehr keine Ausnahmestellung, ist kein Buch, das sich der wissenschaftlichen Beurtheilung, der menschlichen Prüfung entzieht, kein exclusiv theologisches Werk, sondern eine Erscheinung der Geschichte. Wislicenus tritt mit seiner Bibel nicht als Anwalt einer herrschenden Kirche, sondern als Priester von Volksgnaden auf; seine erworbenen fremden und eigenen Ergebnisse in der Erklärung dieses uralten schönsten Buches der Bücher theilt er dem denkenden Volke in der Ueberzeugung mit, daß nur die unbestechliche Wahrheit geistig frei macht und daß nur Wissen und Verständniß die Religion der Zukunft sein kann. Die Betrachtung der Bibel im Geiste eines hochpoetischen, großartigen geschichtlichen Schriftthums, als durchwoben von Mythe und Sage, von Dichtung und Wahrheit, führt zur Emancipation von Irrglauben, zur Befreiung von den Fesseln einer autokratischen Kirche, zu einer idealen Religion des Geistes.

Als Nationalliteratur eines naturwüchsigen, nach sittlicher Vollendung und geistiger Erhebung ringenden Urvolks birgt die Bibel in ihren Geschichten und Lehren, auch wenn sie als menschliches Werk behandelt und vom Standpunkt der Wissenschaft beurlheilt wird, alle Elemente der Religion. Denn auch die Geschichte ist, von höherem Ziele aus gefaßt, eine fortgesetzte Offenbarung. Wie jedes andere Buch des fernen Alterthums verfällt die Bibel der Kritik, der wissenschaftlichen Prüfung und dem Urtheile denkender Menschen, und nur der Absolutismus der Strenggläubigen konnte für sie eine mystische Ausnahmestellung beanspruchen. Aber die Lösung der wichtigen Ausgabe ist bei dem hohen Alter der biblischen Schriften, bei der Fremdartigkeit in Sprache und Anschauung nicht leicht, sie verlangt die Aufbietung des kritischen Scharfsinns, gepaart mit dichterischem Sinne, um die kindliche Weltanschauung eines Naturvolkes zu begreifen. Denn bald sind die nebelhafte Mythe und die dichterische Sage von der hellen und klaren Thatsache zu unterscheiden, bald ist die naive Anschauung von dem unmittelbaren Eingreifen der Gottheit in die menschlichen Begebnisse auf unsere reflectirende Betrachtungsweise zu übertragen. Die Satzungen und Sittenlehren beider Testamente, welche für ihre Zeiten ein Zeugniß von idealer Geistesentwickelung ablegen, muß die Wissenschaft nach ihren Motiven und Zwecken prüfen, um ihren Werth für die Zukunft danach zu messen. Solche freie und vorurtheilslose Geistesarbeit ging seit Jahrhunderten neben der starren, orthodoxen Anschauung von der Bibel einher. Die erste Prüfung galt der wissenschaftlichen Fassung des sogenannten mosaischen Fünfbuches nach Zeit und Verfasser, die auch Wislicenus an die Spitze seines Bibelwerkes gesetzt hat.

Schon der jüdische Gelehrte Ibn Esra aus Toledo im zwölften Jahrhunderte bewies, daß die fünf Bücher Mose’s vielfache fremde Einschiebsel enthalten, wie andere Bücher des Alterthums. Spinoza im siebzehnten Jahrhundert folgte ihm darin und stellte überzeugend dar, daß das Fünfbuch erst mindestens ein halbes Jahrtausend später entstanden sein könnte. Englische, französische, holländische und deutsche Gelehrte förderten mit Scharfsinn und unbestechlicher Kritik die rationellen Forschungen über die Bibel weiter und brachten dieselben endlich so weit, daß Wislicenus sie nur aus dem Banne der Gelehrsamkeit zu befreien brauchte.

Aber wäre es nicht zu vermessen, fragen religiös gestimmte Leser, einem Buche seine Echtheit abzusprechen, das bereits in den goldnen Träumen unsrer Kindheit als Buch der Bücher, als Religionsquelle angepriesen worden ist? Ist es nicht Leichtsinn, die uns überlieferte Verfasserschaft Mose’s bei einem Buche wegzuleugnen, das sich als Werk Mose’s ankündigt? Darauf müssen wir entgegnen, daß die ungeschminkte Erkenntniß, die uns Gewißheit und Ueberzeugung bietet, die freie wissenschaftliche Forschung, welche uns Wahrheit verschafft, nicht vermessen und leichtfertig genannt werden kann. Die Wahrheit hat das Recht, das Dämmerlicht kindlicher Träume durch Sonnenhelle zu verscheuchen. Es ist ein längst anerkanntes Ergebniß der Wissenschaft, daß gerade die alte Schriftstellerei auf religiösem Gebiete der Pseudonymität am meisten gehuldigt hat, daß, um den Büchern höheres Ansehen zu verschaffen, hochtönende angesehene Namen zu Verfassern von Büchern gestempelt und die wirklichen Autoren verschwiegen worden sind. Die Pseudonymität ist der Grundzug religiöser Schriftstellerei, und in der theologischen Welt ist diese Erkenntniß eine fertige und unbestrittene. Ein Gleiches ist mit den fünf Büchern Mose’s der Fall. Aus dem Inhalte und aus der ganzen Natur dieser Schriften, aus den Angaben von spätern Zeilen und Begebenheiten, aus dem örtlichen Standpunkte des Verfassers, der überzeugend auf Palästina hinweist, wohin Mose nie gekommen, aus den Rückweisungen auf Quellen, die zu Mose’s Zeiten noch gar nicht vorhanden gewesen, haben in unserem Jahrhundert sogar orthodoxe Theologen den Beweis geführt, daß der Verfasser ein halbes Jahrtausend nach Mose in Palästina gelebt haben muß, daß er den Stoff zur Urgeschichte der Menschheit und zur Vorgeschichte Israels aus verschiedenartigen [471] sich zuweilen widersprechenden Urkunden geschöpft habe und daß die erzählten Ereignisse sich häufig als mythische Abbilder späterer Verhältnisse erkennen lassen. Wislicenus hat nicht blos die Ergebnisse, sondern auch die Beweise der wissenschaftlichen Theologie selbst in seinem Bibelwerk für denkende Leser gegeben, während die orthodoxen Theologen ihre eigenen gelehrten Forschungen dem Volke absichtlich vorenthalten. Sie verschmähen die erforschte Wahrheit zu popularisiren, um ihr System von einer unmittelbaren Offenbarung, von der Gefangennahme der Vernunft zu stützen und die Unfreiheit zu erhalten.

Den Forschungen über Echtheit, Composition und Quellen der mosaischen Schriften, welche die erleuchtetsten Theologen aller Nationen seit dem zwölften Jahrhundert angebahnt, schließen sich seit dem letzten Jahrhundert die Betrachtungen über die Mythen und Sagen der Bibel an. Wie bei den Griechen und Römern die poetischen mythologischen Kreise, die fabelhaften Geschlechts- und Stammesfolgen die Anfänge der historischen Kunst bildeten, ebenso sind die Mythen und Sagen, die fabulosen Geschlechtsregister und die Namendeutungen des Fünfbuches die Uranfänge der biblischen Geschichte. Bei einer rationellen Ueberschau des Pentateuchs stellt sich nämlich als Ziel und Absicht des Verfassers heraus, die Pflanzung des Gottesvolks, die Gründung seiner Theokratie und seiner Verfassung zu schildern. Aber als Prolog dazu wird die Vorgeschichte oder die Herkunft des jüdischen Volkes von den Erzvätern und als Einleitung dazu die Urgeschichte der Menschheit erzählt. Das erste Buch Mose’s behandelt die Urgeschichte und die israelitische Vorgeschichte; jene wird in sinniger Mythe, diese in poetischer Sage von dem sehr späten Redacteur erzählt. Aber nach den Ergebnissen der Kritik haben der Redaction zwei Urkunden zu Grunde gelegen, die nach Plan und Charakter bei Behandlung desselben Stoffes eine bedeutende Verschiedenheit zeigten und welche der letzte Ordner nicht zu verschmelzen vermochte. Die eine älteste Urkunde, in welcher der Gottesname nur in der polytheistischen, nicht exclusiv jüdischen Mehrheitsform Elohim vorkommt, wird die elohistische Urschrift genannt, die andere spätere, welche das elohistische Werk ergänzt, nach vielen andern schriftlichen Sagenquellen bereichert und nur die jüdischnationale Bezeichnung des Gottesnamens durch Jehova hat, nennt man die jehovistische Urkunde. Der Elohist erzählt schlicht, liebt die Einfachheit und Natürlichkeit, stellt Gott in seiner Erhabenheit dar und läßt ihn nicht in menschlicher Weise handeln. Von einem sinnig reflectirenden Geistesspiel, von einem Bedürfniß, Ursachen und Zusammenhang im Erzählten nachzuweisen, findet sich bei ihm keine Spur. Er läßt die Schöpfung in sechs Tagen vollenden, und sein Gott feiert den Sabbath, wie der Ormuzd des Zendvolkes den seinen. Auch die Sprache und Schreibweise des Elohisten ist eigenthümlich.

Ganz anders erzählt seine Mythen und Sagen der in Palästina schreibende Jehovist. In Einzelheiten ergänzt er die Schöpfungsmythe des Elohisten und sucht Ursache und Zusammenhang nachzuweisen. In sinnig reflectirender Weise giebt er den Mythen und Sagen des östlichen Asiens eine religiös-nationale Färbung. Die Mythen vom Paradiese und dem goldenen Zeitalter, von dem Wunderbaume der Unsterblichkeit und dem der sittlichen Erkenntniß, von dem Eintritt des Uebels in das Erdenleben, von dem Ende des goldenen Zeitalters und so noch der ganze Verlauf der Urgeschichte zeigen eine vollständige Kenntniß der asiatischen Mythen, die er in eigener Färbung wiedergegeben.

Die scharfsinnige Ermittelung der zu Grunde liegenden zwei Hauptquellen für die Bücher Mose’s und den Nachweis, wie die zwei Urkunden vom letzten Verfasser bald in-, bald hintereinander geschoben, bald eingeschaltet, bald zusammengewoben wurden, verdankt die Bibelforschung dem berühmten französischen Arzt Astruc. Seit einem Jahrhunderte haben aufgeklärte Theologen Deutschlands (Michaelis, Eichhorn, Hartmann, Röhr, Gesenius, Ewald u. A.) die Astruc’sche Forschung in gelehrten Werken weiter ausgebildet und dadurch die Bibel dem Urtheile denkender Leser näher gebracht.

Wislicenus hat die strengwissenschaftliche Kritik popularisirt und nachgewiesen, wie verschiedene Ueberschriften, Schlußformeln, verschiedene Nachrichten über dieselben Begebenheiten nur durch den schwankenden, unvermittelten Gebrauch der zwei Urschriften entstanden sind. Er zeigt, wie der spätere Zusammenordner nach Gutdünken und aus der überlieferten Sage Zusätze gemacht, Lücken ausgefüllt, Veränderungen sich erlaubt hat, und daher die Bibel als Glied in der menschlichen Geistesentwickelung, aber nicht als eine Offenbarung in streng-kirchlichem Sinne aufzufassen ist. Und indem er so bald elohistische und jehovistische Stücke scheidet, bald die Ansichten des spät vollendeten Fünfbuchs mit denen der zum Theil weit früher geschriebenen prophetischen Bücher vergleicht, bald andere Wissenschaften zu Rathe zieht, namentlich aber, durchdrungen von den Gesetzen der Naturwissenschaft, alle Wunder entschieden verwirft und die Tendenz der betreffenden Dichtungen wiederum aus andern Bibelstellen nachzuweisen versucht, legt er dem Leser eine Reihe überraschender Entdeckungen vor. Nicht nur die Erzväter, auch Mose, Aaron und Josua, deren Namen er sinnreich zu erklären weiß, sind ihm mythische Personen; das ganze Leben der Israeliten in Aegypten, ihr Zug durch die Wüste, die Gesetzgebung am Sinai, die Errichtung eines Priesterstammes mit Bundeslade und Stiftshütte, ja die frühzeitige Verehrung Jehova’s überhaupt sind ihm eben so viele, zum Theil nach späteren Verhältnissen geformte Dichtungen. Die historische Zeit des israelitischen Volkes beginnt ihm erst mit dem Buche der Richter, obwohl er auch dieses und mehrere folgende Bücher, nicht nur ihrer Wunder, sondern auch ihrer innern Widersprüche wegen, noch stark mit Sagen versetzt findet und z. B. Elia und Elisa für künstlich gebildete Personen hält.

Wie er im Alten Testamente fortwährend betont, daß die prophetischen Schriften älter als die meisten historischen seien und daß auch unter diesen die sogenannten mosaischen keineswegs als die ältesten angesehen werden dürfen: so stützt er auch seine Forschungen im Neuen Testamente vorzugsweise auf den Umstand, daß die apostolischen Briefe, besonders die des Paulus, wirklich ein Bild ihrer Zeit abgeben, während Evangelien und Apostelgeschichte, wenn auch im Einzelnen älteren Quellen entstammend, erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts vollendet worden sind und allenthalben bald judenchristliche, bald heidenchristliche Färbung, bald das Streben, den damals tiefgreifenden Gegensatz zwischen beiden Richtungen zu versöhnen, erkennen lassen. Hiernach versucht er denn in den Aussprüchen Jesu Echtes und Unechtes zu scheiden, weist die Wunder Jesu und der Apostel als fromme Mythen nach, deckt die unvereinbaren Widersprüche in den Berichten über die Auferstehung Jesu auf und hält letztere nur für die Frucht einer lebhaften Einbildungskraft der Jünger, während die nicht einmal in allen Evangelien erwähnte Himmelfahrt ihm selbstverständlich wegfällt. Ebenso sieht er in dem Pfingstwunder und der gesammten Thätigkeit, welche die Apostel kurz nach Jesu Hingange in Jerusalem entwickelt haben sollen, spätere Sagen und neigt sich der Ansicht zu, daß die erschrockenen Jünger erst geraume Zeit nach dem Tode des Meisters sich wieder gesammelt und sein Werk fortzusetzen gesucht. Namentlich aber steht ihm Paulus und das in Syrien beginnende Heidenchristenthum unabhängig von Einflüssen aus Jerusalem da, und auch in den weiteren Schicksalen des großen Heidenapostels weiß er den Hauptreisebericht, den er dem Timotheus zuzuschreiben geneigt ist, von späteren zu gewissen Zwecken gefertigten Einschiebseln sorgfältig zu scheiden. Durchgängig aber läßt er dem Leser statt der seit langen Jahrhunderten hergebrachten Anschauungen über die biblische Geschichte eine Ahnung der Wirklichkeit aufgehen, wodurch denn auch auf spätere Zeiten, ja auf die positive Religion der Gegenwart und den Gebrauch, den man von ihr macht, ein bedeutsames Licht geworfen wird. – Wir haben im Vorstehenden lediglich in kurzer Zusammenfassung referirt, was Wislicenus mit seiner Schrift anstrebt. Ueber die Bedeutung des Werkes als That der Wissenschaft steht uns ein Urtheil nicht zu; wir müssen dies vielmehr den Männern der Wissenschaft anheimgeben. Wenn aber gedankenloser Glaube dem Dämmerlichte gleicht, das schwachen Augen wohlthun mag, so ist das Wissen sonnige Tageshelle, die gesunde Menschen erquickt. Wenn der Glaube selig macht, wie das orthodoxe Dogma lehrt, so geben gute Werke, aus der Erkenntniß der Wahrheit entsprossen, Freiheit und Macht, Selbstvertrauen und Freude.